Streit über Impfstoffe und Terminvergabe - Keine Zeit für Wunschkonzerte

Während in anderen Staaten alle verfügbaren Vakzine so schnell wie möglich verabreicht werden, leisten wir uns eine bizarre Debatte über die Priorisierung von Impf-Terminen sowie über Vor- und Nachteile bestimmter Präparate. Aber auch die deutsche Bürokratie richtet großen Schaden an.

Polizisten sind in der Impfreihenfolge nach oben gerutscht – nicht allen gefällt das / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dirk Metz, Staatssekretär a.D., war von 1999 bis 2010 Sprecher der Hessischen Landesregierung. Er ist Gründer, Inhaber und Geschäftsführer einer Agentur für Kommunikation und Krisenkommunikation mit Sitz in Frankfurt.

So erreichen Sie Dirk Metz:

Anzeige

Seit über einem Jahr wache ich morgens mit Corona auf und schlafe abends damit ein. Nicht, weil ich mich mit dem Virus infiziert habe. Sondern weil Radio, Fernsehen und Internet mich den ganzen Tag mit Corona auf Trab halten; sämtliche Gespräche drehen sich ohnehin früher oder später darum.

In meiner Lokalzeitung habe ich schon vor vielen Monaten mal in einer Ausgabe alle Artikel markiert, in denen das Schlüsselwort vorkommt. Und siehe, es waren weit über 80 Prozent – im politischen Teil wie auf den Wirtschaftsseiten, im Sport und in der Kultur – und natürlich auch im Lokalen. Ich selbst habe versucht die Vorschriften und Empfehlungen der Politik einzuhalten, soweit man den Überblick haben konnte – Kontakte heruntergefahren, auf Urlaub verzichtet. Ich trug die Stoff- und trage nunmehr seit Monaten die FFP2-Maske.

Luftfilter im Büro 

Zunächst bin ich noch viel mit dem Zug und der U-Bahn ins Büro gependelt. Meine Bahncard ist im Dezember abgelaufen, aber schon von Oktober an wurde es mir so mulmig, dass ich auf das Auto umgestiegen bin. Längst ist Homeoffice angesagt, was mir zugegebenermaßen nicht sehr behagt, weil ich einerseits meine Mitarbeiter gerne um mich habe (zumal in einem Unternehmen, das sich mit Kommunikation beschäftigt), was andererseits aber auch einen echten Mehrwert hat.

Um auf Homeoffice zu setzen, brauchte ich keine Regelung der Bundesregierung, weil ich ja will, dass mein Team gesund und munter bleibt und wir trotz allem weiter arbeiten können. Deswegen läuft inzwischen auch ein Luftfilter im Büro. Fast alle Kundentermine finden ohnehin per Zoom, Teams, Webex und Co. oder via guter alter Telefonkonferenz statt. Schön, so das eine oder andere Wohn- oder Arbeitszimmer kennenzulernen. 

Die App ist nutzlos

Auch die Corona-Warn-App habe ich als pflichtbewusster Staatsbürger gleich zum Start runtergeladen, muss aber zugeben, dass sich nach kurzer Zeit Ernüchterung eingestellt hat, da ich einen wirklichen Mehrwert nicht erkennen konnte. Weniger Datenschutz und mehr Freiheitsrechte, wären mir klar lieber gewesen. Die App ist letztlich nutzlos.

Stolz bin ich, dass trotz aller Bürokratie in Deutschland tolle Wissenschaftler einen offenbar sehr wirksamen Impfstoff gegen das Virus entwickelt haben. Dass Unternehmen zusammengearbeitet und die Produktionskapazitäten ausgeweitet wurden, Stück für Stück, aber schneller als je zuvor. Auch wenn bei uns eher darüber gemeckert wurde und sogar nach staatlicher Produktion gerufen wurde: Ich will gar nicht ausdenken, was dabei herausgekommen wäre.

Regelungswut statt funktionierende Regeln 

Es ist eine Meisterleistung, wie schnell der Hoffnung gebende Impfstoff entwickelt wurde. Und obwohl die Briten schneller waren, ging sogar die Zulassung bei der EU ziemlich flott über die Bühne. Dies alles geht in Deutschland aber im Bestell-Chaos auf EU-Ebene, in Regulierung und Bürokratie für alles und jedes fast völlig unter. 

Zum Thema Testen: Wie lange konnte man aus dem Flieger steigen, ohne dass man sich einem Test unterziehen musste? Andere Staaten hatten längst funktionierende Regelungen; bei uns gab es Bürokratie und Regelungswut, aber ohne Umsetzung.

Und dann das Impfen: Wir blicken auf Impfzentren, die in kürzester Zeit mit deutscher Gründlichkeit und viel beherztem Engagement aus dem Boden gestampft wurden, um dann jedoch zunächst gänzlich stillzustehen. Impfzentren, die auf 1.000 Impfungen pro Tag angelegt sind und nicht mal 100 Dosen verimpfen konnten. Mit hochmotivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Däumchen drehten. Was für ein Bild!

Mit der Geduld am Ende

Zumal wir jetzt alle oder jedenfalls die meisten nach dem Impfstoff gieren. Aus anfänglicher Skepsis ist längst Ungeduld geworden. Bislang hat die Gesellschaft akzeptiert, dass Ältere beim Impfen Priorität haben, weil das Virus für diese Gruppe am gefährlichsten ist. Bei einer Impfquote von 5 Prozent und mit Distanz zum 80. Geburtstag sind die Menschen da noch recht entspannt, jedenfalls geduldig.

Je mehr aber geimpft werden, um so ungeduldiger werden wir anderen. Denn auch wenn es anfangs ausgeblendet oder ausgeschlossen wurde: Selbstverständlich werden die Geimpften beanspruchen, dass sie ihre Freiheitsrechte zurückbekommen, die seit einem Jahr mehr oder weniger außer Kraft gesetzt sind. Um es unmissverständlich zu sagen: Selbstverständlich werden Einzelhändler, Restaurantbesitzer, Sport- und Kulturveranstalter Schließungen nicht mehr hinnehmen, wenn genügend Menschen geimpft sind, die wieder einkaufen, Essen gehen, Konzerte besuchen und Sport treiben wollen. Und auch Urlaub halten die meisten ja für eine Art Menschenrecht. Warum sollten dann Einschränkungen weiter bestehen? Das würden die Menschen nicht mehr mitmachen!

Widerstand gegen Astra-Zeneca 

Das Kernproblem ist die Bürokratie, angesichts der Kleinteiligkeit der Impfgruppen möchte man von Regelungswut sprechen. Je mehr Zentralität, umso schlimmer. Erfolgreich sind die Staaten, die schnell vorgehen. Jeder Impfstoff, der einen Tag herum liegt, zerstört Vertrauen. Liefertermine stehen fest, werden eingehalten, es kann also alles verimpft werden. Worauf warten wir noch?

Wenn es nicht länger erforderlich ist, den Biontech-Impfstoff bei minus 80 Grad zu lagern, dann muss der Impfprozess beschleunigt werden, dann müssen die Ärzte vor Ort, die jedes Jahr und 20 Millionen Menschen gegen Grippe impfen, eingebunden werden. Und wenn Menschen einen Impfstoff ablehnen, dann rückt die nächste Person nach und wird damit geimpft. Nachdem alle Studien auch Astra-Zeneca hohe Wirksamkeit bescheinigen, können wir uns Diskussionen und „Wunschkonzerte“ nicht länger leisten. „Impfstau“ ist für mich schon jetzt das „Unwort des Jahres“!

Nicola Beer, FDP-Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, hat dieser Tage mit Blick auf den teilweisen Widerstand gegen diesen Wirkstoff in unserem Land von einer Psychose der Deutschen gesprochen. Eine Korrespondentin des Deutschlandfunks erklärte – von einer Redakteurin darauf angesprochen, wie die Diskussion um Astra-Zeneca in Großbritannien laufe – in entwaffnender Klarheit, es gebe dazu keine Diskussion. Sondern es werde einfach geimpft.

Ein „Volk der Vorerkrankten“

Das ist bei uns ebenso dringend geboten. Ein aggressiver Wettlauf um den Impfstoff wäre für die Gesellschaft schlimm. Schon jetzt sind Versuche zu beobachten, sich Bescheinigungen zu „ergattern“, um früher geimpft zu werden. Es ist absehbar, dass Deutschland alsbald zum „Volk der Vorerkrankten“ wird. Oder zu einem Volk, in dem jeder einen Vorerkrankten betreut.

Eine anhaltende Diskussion über weitere Veränderungen der von der Ständigen Impfkommission festgelegten Impfreihenfolge erhöht den Schaden weiter. Es gibt gute Gründe dafür, dass Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, in anderen Bundesländern Polizistinnen und Polizisten in der Priorisierung „nach oben rutschen“ sollten – und sicher gibt es dafür auch spontan demoskopische Zustimmung.

Streit um die Impfreihenfolgen 

Aber wenn damit eine einzelne Gruppe an anderen „vorbeizieht“, dürfte es alsbald dämmern, dass alle anderen zwangsläufig später geimpft werden. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass sehr bald auch die Hochschullehrer für sich beanspruchen, prioritär geimpft zu werden, auch wenn sie nicht wirklich einer Risikogruppe angehören. Dass das Verkaufspersonal im Handel oder die Beschäftigten an den Supermarktkassen, die zu Beginn der Pandemie als „Helden der Arbeit“ gefeiert wurden, einfordern, ebenfalls bevorzugt zu werden, weil sie doch im ständigen Kundenkontakt stehen, liegt auf der Hand.

Und Handwerker, die sich vor Ort darum kümmern, dass das Wasser läuft und die Heizung wieder ihren Dienst tut, dürften dann – verständlicherweise – auch ihr Vorrecht anmahnen. Und was ist eigentlich mit all den Lkw-Fahrern, die unsere Versorgung sicherstellen? Die einzig beruhigende Nachricht in diesem Wettlauf ist, dass wir jetzt von Woche zu Woche mehr Impfstoff zur Verfügung haben werden.

Impfen, Impfen, Impfen 

Und alles tun sollten, um nicht wochenlange Gerechtigkeitsdebatten über zu priorisierende Gruppen zu führen, sondern bürokratische Hemmnisse abbauen, Terminvergabeverfahren vereinfachen und damit das Verimpfen so schnell und einfach wie möglich machen – in Impfzentren wie bei Ärzten, wo es anfangs für unmöglich erklärt wurde. Wir haben in diesem Wettrennen keine Zeit zu verlieren. Impfen, Impfen, Impfen muss das Gebot der Stunde sein! Pragmatismus statt Bürokratie!

Also verimpft endlich den vorhandenen Impfstoff, bindet die Haus- und Betriebsärzte ein. Und wenn dann einmal eine Lieferung wirklich zu spät kommt oder jemand „zu früh“ geimpft wird, geht die Welt auch nicht unter. Hauptsache es läuft. Dann und nur dann kann ich gelassener auf „meinen“ Impfstoff warten.

Anzeige