Impfpflicht für Pflegeberufe - Kafka lässt grüßen: Karlsruhe weist Eilantrag ab

Das Bundesverfassungsgericht bleibt seiner Corona-Rechtsprechung treu und hat den Eilantrag gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht für Pflegeberufe abgewiesen. Beraten wurde das Gericht unter Präsident Stephan Harbarth von den immergleichen Experten, auf die sich auch die Bundesregierung bei ihren Covid-Maßnahmen beruft.

Stets auf Linie: der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Auf Karlsruhe ist Verlass. Wann immer Bürger in den zurückliegenden zwei Jahren Schutz vor den zuweilen ausufernden Corona-Maßnahmen bei den acht Richtern des ersten Senats unter Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth suchten, wurden sie entweder wie ehedem Franz Kafkas Mann vom Lande in den schier unendlichen Wartezustand versetzt oder ihr Gesuch wurde mit zuweilen recht inhaltleeren Begründungen abgewiesen.

Wer sich also bei der heutigen Eilentscheidung in Sachen einrichtungsbezogene Impfpflicht schon im Vorfeld keinen Illusionen mehr hingeben wollte, hat alles richtig gemacht. Den 74 Verfassungsbeschwerden von gut 300 Klägern – meistenteils Angehörige der Pflegeberufe sowie Leiter von Krankenhäusern oder Altenheimen, die in der Regel entweder ungeimpft sind oder „weitere Impfungen ablehnen“ – wurde am heutigen Freitag nicht stattgegeben.

Die Beschwerdeführer hatten in ihrem Antrag angemerkt, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht, wie sie am 10. Dezember letzten Jahres vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde, im Wesentlichen Artikel 1 Absatz 1 („Achtung und Schutz der Menschenwürde“) sowie Artikel 2 Absatz 1 („Recht auf Persönlichkeitsentfaltung“) verletze. Die Richter aber wollten dieser Rechtsauffassung nicht folgen: „Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt“, heißt es daher im heutigen Beschluss zum „Eilantrag zur Außervollzugsetzung der ‚einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht‘ nach § 20a Infektionsschutzgesetz“.

Die Gewaltenteilung wird umsortiert

Karlsruhe bleibt sich somit treu. Man hat es nicht anders erwartet. Nicht weil sich – wie viele zu Recht oder Unrecht meinen – das Gericht unter Stephan Harbarth längst viel zu nah an die Exekutive herangewanzt und somit seine Unabhängigkeit nicht mehr vor Augen hat. Das Problem ist eigentlich ein anderes – und gerade in der aktuellen Corona-Krise wird es überdeutlich: Wer die Begründung  des heute veröffentlichten Beschlusses liest, der wird feststellen, dass sich das einst von Montesquieu und John Locke feinsäuberlich justierte System aus Checks and Balances – in Deutschland auch bekannt als „Gewaltenteilung“ – in der Praxis immer öfter umsortiert, ja neu gestaltet.

Denn neben den klassischen drei Gewalten sowie der einst von René Marcic eingezogenen vierten Säule aus Presse und Medien („Publikative“) scheint es in der deutschen Realverfassung unter Corona-Bedingungen immer öfter zur Etablierung einer weiteren, einer fünften Gewalt gekommen zu sein: Es ist dies die souveräne Gewalt der Wissenschaften, oder genauer gesagt die ihrer Standesvertreter. Sie bildet längst nicht mehr nur in der Krise eine Art Metamacht des postmodernen Verfassungsstaates. Man findet sie hinter den Entschlüssen der Regierung und der Parlamente, hinter den Urteilen der Gerichte sowie in den Meinungsartikeln der Zeitungen. Wissenschaft – nicht als Prinzip, sondern als Instanz – wird so mehr und mehr zu einer Klammer aller staatlichen Organisationsprinzipien.

Das wäre für sich genommen vielleicht noch nicht schlimm. In Zeiten der Ahnungslosigkeit bedarf es so viel Expertise wie eben möglich. Problematisch wird es aber dann, wenn alle Verfassungsorgane von denselben Wissenschaftsakteuren oder deren Institutionen beraten werden.

Wenige Koryphäen geben sich immerzu selbst die Klinke in die Hand

Der heutige Beschluss des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls ist in dieser Hinsicht wie eine Wiederbegegnung mit alten Bekannten. Aufgelistet sind die Beraternamen, die sich auch schon im Expertengremium der Bundesregierung sowie in den Anhörungsrunden der Bundestagsausschüsse fleißig und unermüdlich zu Wort gemeldet haben: an vorderster Front die Bundesoberbehörden im Geschäftsbereich des Gesundheitsministers Robert-Koch-Institut sowie das Paul-Ehrlich-Institut, zudem die interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

In der Scientokratie geben sich eben wenige Koryphäen immerzu selbst die Klinke in die Hand. Kein Wunder, dass der Bürger da allmählich das Gefühl bekommt, ihm könne im Drehschwindel eines jäh dahinleiernden Diskurses allmählich blümerant werden. Und während man im Ausland schon längst den Notausgang aus der epidemischen Lage von mittlerweile wohl astronomischen Ausmaß gefunden hat, wird man hierzulande von einer Handvoll Experten malade geredet. Im „closed shop“ der deutschen Expertenrunden ist kaum mal Platz für eine andere Meinung.

Doch was hilft in dieser Situation der sehnsuchtsvolle Blick über den Tellerrand, wenn die Verfassungsrichter und die sie beratenden Autoritäten schlicht und ergreifend stur bleiben wollen. So bleibt in Sachen einrichtungsbezogener Impfpflicht also alles beim Alten. Vorerst zumindest. Denn die Corona-Impfpflicht für Pflege- und Gesundheitspersonal kann zwar aus rechtlicher Sicht wie ursprünglich geplant ab Mitte März vollzogen werden, die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit im eigentlichen Verfahren aber bleibt von dem heutigen Beschluss unberührt.

Ein Blick zu den Nachbarn hätte den Richtern gutgetan

Denn das Eilverfahren bietet zunächst nur eine Folgenabwägung – zulasten der Kläger: „Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber“, heißt es im Beschluss des Verfassungsgerichts. Ein Satz, wie er auch von Gesundheitsminister Karl Lauterbach auf einer x-beliebigen Bundespressekonferenz oder von Gerald Gaß, Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, im Gesundheitsausschuss des Bundestages vorgetragen worden sein könnte.

Einmal abgesehen davon, ob diese Abwägung in Anbetracht einer Impfung ohne sterile Immunität überhaupt schlüssig ist, scheint sie zumindest nicht sonderlich praktikabel zu sein. Das beweisen nicht nur die Einlassungen zahlreicher deutscher Ministerpräsidenten während der zurückliegenden Tage, auch ein schneller Blick auf die Nachbarn hätte die Richter des Ersten Senats auf den harten Boden der Realität zurückbringen können: In Tschechien etwa wurde die einst beschlossene Impfpflicht für Senioren und bestimmte Berufsgruppen bereits vor drei Wochen wieder zurückgezogen, amerikanische Krankenhauskonzerne buhlen längst um ihre einstmals freigestellten Kollegen, und in Österreich äußern immer mehr Landeshauptmänner Zweifel an einer Impfpflicht, die zwar vom Parlament beschlossen wurde, die aber bei genauer Betrachtung kaum jemand wirklich haben möchte.

Nun aber ist das grüne Licht aus Karlsruhe erst einmal da. Sollte sich in der Politik in den nächsten Wochen die Meinung durchsetzen, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht für die Bekämpfung der Pandemie nicht nur wenig praktikabel, sondern am Ende vielleicht sogar kontraproduktiv sein könnte, wäre es vielleicht gut, zeitnah die Notbremse zu ziehen. Am Ende könnte man es ja auf die Berater schieben. Die haben die Verfassungsorgane hierzulande vielleicht nicht falsch, mindestens aber einseitig beraten. Nur so ist es zu erklären, warum Deutschland mit der internationalen Entwicklung in Sachen Pandemiepolitik längst nicht mehr Schritt halten kann.

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