Hilfseinsatz für ukrainische Flüchtlinge - Transit zwischen Krieg und Frieden

Unser Gastautor hat als freiwilliger Helfer mit einem LKW Hilfsgüter für Flüchtlinge aus der Ukraine an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren und auf dem Rückweg eine ukrainische Familie nach Erfurt zu Verwandten gebracht. Bei seinem Einsatz beobachtete er eine Welle der Solidarität von Helfern aus ganz Deutschland, aus Polen und der Ukraine.

Der Autor mit einer Gruppe von freiwilligen Helfern / privat
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Autoreninfo

Dr. Henryk Balkow ist Staatswissenschaftler und freier Journalist aus Erfurt.

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Noch vor vier Jahren bereiste ich mit ukrainischen Freunden die Waldkarpaten und Lwiw. Nun saß ich im Büro wie gelähmt vor einem Bildschirm mit dem Liveticker der Zerstörung, nebenbei wieder eines dieser Zoom-Meetings mit Fassungslosigkeit. Da kommt eine Sprachnachricht von einem Verein „Ukrainische Landsleute in Thüringen“ herein: „Habt ihr einen Fahrer? Unser Hilfskonvoi ist schon an die Grenze gefahren, aber die haben nicht alles mitbekommen. Es sind noch Kartons mit Medizin und Verbandszeug da, kann das jemand hinbringen?“, fragt Vasyl in gebrochenem Deutsch. Es ist Montagabend 20.30 Uhr. Alle haben feste Jobs, Familien, Verpflichtungen. „Passt das in einen Kombi?“, frage ich zurück und habe mich damit eigentlich schon entschieden. Vasyl schickt mir den Kontakt zum Lager, wo ich die Kisten abholen soll. Kurz nach Mitternacht fahre ich los, einer meiner Freunde aus einem Wohltätigkeitsverein hat mir Brote geschmiert und eine Kanne Kaffee gekocht. Bis unters Dach ist jeder Zentimeter im Kombi mit beschrifteten Kartons vollgestopft. Essenskonserven, Medizin, Verbandszeug. Ich bekomme eine Adresse an der polnisch-ukrainischen Grenze, zu der auch der restliche Konvoi unterwegs ist.

Knapp 1000 Kilometer von Erfurt, die Strecke ist weitestgehend leer, und ich komme gut durch. Es ist der Transit zwischen Krieg und Frieden. Meine Transitzone zwischen Komfortzone und einem nicht näher beschreibbaren Gefühl von Pflicht. Zwischen polnischen LKW habe ich eine Stunde auf dem Rastplatz geschlafen, dann ging es weiter. Ich wollte den Hilfskonvoi aus Erfurt möglichst noch einholen, damit wir gemeinsam die Waren auf die LKW Richtung Lwiw verladen und zusammen zurückfahren können. Dienstag kurz nach 11 komme ich an. Da stehen in einer Reihe schon die Transporter mit Erfurter Kennzeichen, haben bereits entladen und warten nun auf Flüchtlinge, die sie auf der Rücktour mitnehmen wollen. Alles wirkt sehr organisiert, aber auch angespannt. Das Gelände ist abseits, aber gut erreichbar und nah an der Grenze. Man will mich erst nicht durchs Tor lassen, bis ich dann Vasyl sehe, der mit der Sprachnachricht. Sofort kommen fünf oder sechs polnische und ukrainische Helfer, die meine Ladung auf einen großen LKW verladen. Die Männer sehen unerschrocken aus und bereit zu was auch immer.

Ich biete als Filmemacher an, ein paar Drohnenaufnahmen zu machen

Vasyl filmt die ganze Zeit mit dem Handy und füttert damit eine größer werdende WhatsApp-Gruppe für Helfer. Er hofft auf immer mehr Spenden und Verstärkung aus Deutschland. Ich biete ihm als Filmemacher an, ein paar Drohnenaufnahmen zu machen. Kaum ist die kleine Drohne aufgestiegen, kommt eine hysterisch schreiende Frau auf mich zu und fordert mich auf, sofort die Aufnahmen zu beenden. Als sie merkt, dass ich weder Ukrainisch noch Polnisch spreche, probiert sie es auf Englisch. Sie reißt mir das Smartphone mit der Steuerung aus der Hand und geht zurück aufs Gelände. Sie will, dass ich die Aufnahmen sofort und in ihrem Beisein lösche. Später entschuldigt sie sich für diesen Ausbruch und ich mich für meine fehlende Vorsicht. Sie haben Angst entdeckt zu werden, sagt sie. „Wenn das russische Militär von unserem Logistik-Punkt erfährt, sind wir alle in höchster Gefahr.“ Dabei werden hier keine Waffen oder Munition geladen, sondern Verbandskästen, Medizin, Konservenessen, Schlafsäcke, Isomatten, Hygieneartikel. Alles für die Freiwilligen und Soldaten in den umkämpften Gebieten. Alles humanitär. „Das interessiert die nicht“, sagt Lena (Name aus Sicherheitsgründen geändert), die aus Lwiw hierher kam und die Logistik plant. Sie ist angespannt, aber auch gut sortiert. Immer wieder hängt sie am Telefon, spricht mit ihrem Team, den vielen Freiwilligen. Immer wieder kommen Kleintransporter an, die großen Ladeflächen der LKW füllen sich. Nur die Flüchtlinge kommen nicht. Lena hängt wieder am Telefon. „Sie sitzen an der Grenze fest, es wird später, wir wissen nicht, wann.“

 

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Die Erfurter Transporter stehen bereit, die Fahrer scharren nervös mit den Hufen. Es wird wohl noch dauern. Ich entschied mich, schon zurückzufahren. Ohne Beifahrer ist die Strecke kein leichter Ritt. Die Wirkung von einer Kanne Kaffee hält auch nicht ewig. Auf der Rückreise schicke ich Bilder und eine Videobotschaft. Noch bevor ich wieder in Erfurt angekommen bin, hat der Rotary-Club Erfurt-Gloriosa mehrere Fahrer und Spenden organisiert. Ein sozialer Verein aus einem Plattenbaugebiet in Erfurt hat sich als Sammelstelle angeboten, hilft, verleiht seinen Transporter. Das Jesus-Projekt Erfurt e.V. hat selbst zu kämpfen und gibt und teilt dennoch. Menschen aus allen Berufsgruppen und Milieus kaufen ein und sortieren in dem kleinen Flachbau zwischen Blocks. Viel kommt plötzlich in Bewegung. Alle Kartons werden auf Ukrainisch und Russisch beschriftet. Babynahrung, Windeln, Verbandszeug, Medizin, Decken, Schlafsäcke, Gaskocher, Hygieneartikel. Eine Stadt rückt zusammen. Sogar aus der 60 Kilometer entfernten Stadt Zella-Mehlis kommen Freiwillige, die drei Autos voller Sachspenden bringen. Immer wieder kommen Autos an und laden lebenswichtige Hilfsgüter in den kleinen Flachbau um.

Jeder bringt sich ein mit seinen Kontakten

Freitagabend sind alle sechs Transporter beladen und zwölf freiwillige Fahrer startklar. Gastronomen, Einzelhändler, Dozenten oder Grafiker. Heute sind sie Spediteure für Hilfsgüter. Die Fahrt ist gut organisiert. Einer der Fahrer ist Professor für Verkehrswesen. Jeder bringt sich ein mit seinen Kontakten. Die Immobilienmaklerin kümmert sich um Räume, der Medienwächter um Öffentlichkeitsarbeit, der Grafiker um Schilder. Der Einzelhändler hat die Einkäufe organisiert, der Gastronom die Brote geschmiert. Eingespielt wie eine Kompanie.

Auf der Autobahn wird es immer voller. Viele Kleintransporter sind aus ganz Deutschland unterwegs Richtung Grenze. Wir treffen sogar auf einen Konvoi mit LKW voller Hilfsgüter auf Paletten aus Schleswig-Holstein, den eine Feuerwehr organisiert hat. Die freiwilligen Fahrer grüßen sich, man fühlt sich verbunden. Auf der Gegenfahrbahn ist noch wenig Verkehr, aber an den Tankstellen und auf den Rastplätzen sind immer mehr Ukrainer auf der Flucht zu sehen, stehen in Schlangen an den Zapfsäulen. Die einen sind auf der Flucht vor dem Krieg aus dem Osten gen Westen. Die anderen sind auf der Flucht vor europäischer Ohnmacht und Hilflosigkeit von West nach Ost. Dazwischen: die Transitzone.

Nach gut zehn Stunden erreichen wir unser Ziel. Das Umladen auf die LKW läuft wieder total flüssig durchorganisiert. Ich treffe Lena wieder, die jetzt etwas entspannter ist als letztes Mal. Sie lächelt, als sie mich wiedererkennt. Man nennt mich hier wohl schon den „Drohnen-Mann“.

Es geht weiter, es gibt Hoffnung

Indes: Die Hilfe läuft. Kaum jemand kann jetzt an die Tragödien denken, die sich gerade überall in der Ukraine abspielen oder sogar in der ganzen Welt. Millionenfach Angst, Flucht, Leid und Hunger in der Welt, alles wegen eines einzelnen Mannes mit geschichtsverträumten Machtphantasien in einer Echokammer. Es wirkt so irreal. Dann sehe ich durch den Zaun einen der LKW-Fahrer, die die gefährliche Reise in die Ukraine antreten. Seine Frau bringt ihm einen Beutel mit Wurstbroten und eine Thermoskanne. Sie weint endlos, und je länger ich die beiden ansehe, desto realer wird der Krieg für mich, und das Bild brennt sich für immer in meine Seele ein. Der Mann ist nicht viel älter als ich, irgendwas mit paarundvierzig. Ich fahre wieder zurück in meine noch sichere Komfortzone in Mitteleuropa. Er fährt in die andere Richtung mitten ins Auge des tobenden Krieges. Dazwischen die Transitzone, in der wir uns bewegen. Es fühlt sich nicht gut an, kann ich sagen. Es macht mich traurig und wütend, aber nicht hilflos. Wir tun, was wir können, auch wenn es wenig ist. Wir sind uns sicher, dass es einen Unterschied macht, die Welt wieder etwas heilt.

Da klingelt das Telefon von einem unserer Fahrer. „Können wir auf der Rückfahrt in Krakau drei Mütter und fünf Kinder mitnehmen?“ Keine Frage. In Erfurt wartet Verwandtschaft auf sie, alles ist vorbereitet. Wir sammeln Olga und ihre Familie an einer Tankstelle in Krakau auf, geben ihnen noch etwas zu essen, aber in ein Schnellrestaurant wollen sie sich nicht einladen lassen. Sie möchten so schnell wie möglich „nach Hause“ zu ihren Verwandten. Wir fahren fast ohne Pausen durch. Hinter mir beruhigt die Mutter ihr kleines Baby, die Oma sitzt daneben. Wir können uns kaum verständigen, aber versuchen, mit Mimik zu signalisieren: „Alles wird gut, ihr seid jetzt sicher.“ Nach 23 Stunden sind wir zurück in Erfurt und bringen die Familie in ein Plattenbaugebiet, wo schon die Tante wartet. Im orangefarbenen Licht der Laterne fällt sich die Familie erleichtert in die Arme, und auch uns kullern vor Freude und Erleichterung ein paar Tränen. Wenigstens ein bisschen. Kurz vergesse ich den Liveticker. Berührt von der ukrainischen Seele schaue ich mir vor dem Schlafen noch mein kleines Reisevideo aus der Ukraine an. Es heißt „Nadiya Ye“, benannt nach einem ukrainischen Volkslied, und bedeutet „Es gibt Hoffnung“. Ich teile noch ein Video, dass wir gut wieder gelandet sind, und sehe im Postfach, dass sich weitere Fahrer freiwillig gemeldet haben und schon über 16.000 Euro im Förderverein des Rotary-Clubs gespendet wurden für weitere Hilfsaktionen. Es geht weiter, es gibt Hoffnung.

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