Heute vor 125 Jahren wurde Ludwig Erhard geboren - In der CDU ist der „Vater der Marktwirtschaft“ fast vergessen 

Als Wirtschaftsminister und Kanzler stand Ludwig Erhard (CDU) wie kein anderer für das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Bei den zahlreichen Sündenfällen seiner Partei gegen dieses Prinzip während Merkels Kanzlerschaft musste er sich wohl im Grabe umdrehen. Ob ihn die Wahl von Friedrich Merz zum neuen Vorsitzenden wieder versöhnen würde?

Sein Name wird noch respektiert, seine Ideen weniger / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Heute vor 125 Jahren wurde Ludwig Erhard geboren, der Vater des Wirtschaftswunders. In seiner fast vergessenen kurzen Zeit als Kanzler (1963 bis 1966) agierte „der Dicke mit der Zigarre“ nicht sehr erfolgreich. Dagegen sind seine Verdienste bei der Einführung der sozialen Marktwirtschaft unvergessen – jedenfalls bei denen, die nicht dem Irrglauben unterliegen, eine reglementierende und regulierende Ministerialbürokratie könnte eher für Wohlstand sorgen als eine Wirtschaftsordnung mit Privateigentum und Wettbewerb.

Die großen Wahlerfolge der CDU in den 1950er- und 1960er-Jahren waren nicht allein mit dem Namen Konrad Adenauer verbunden. Der erste Bundeskanzler hätte das zerstörte Land nicht so schnell in den Kreis der freien Völker zurückführen können, wenn Erhard mit seiner Wirtschaftspolitik nicht gleichzeitig so erfolgreich das Ziel „Wohlstand für alle“ verfolgt hätte. Auch wenn „der Alte“ und „der Dicke“ sich persönlich nicht zugetan waren, bildeten sie ein politisches Erfolgsduo.  

Der Name Ludwig Erhard fällt immer, wenn CDU-Granden die glorreiche Vergangenheit der eigenen Partei beschwören. Für die praktische Politik spielten die ordnungspolitischen Grundüberzeugungen des Wirtschaftsprofessors bald kaum noch eine Rolle. Helmut Kohl entgegnete Kritikern der auch unter ihm ständig steigenden Sozialausgaben gerne mit dem spöttischen Hinweis, er wolle die nächste Wahl gewinnen, nicht den Ludwig-Erhard-Preis.  

Unter Merkel spielten Erhards Prinzipien keine Rolle 

Während der 16-jährigen Regierungszeit der CDU-Kanzlerin Angela Merkel wurden die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft bisweilen noch positiv erwähnt, aber immer seltener befolgt. Die Erinnerung an Ludwig Erhard wurde in der Ära Merkel lediglich von Mittelstandsunion und Wirtschaftsrat wachgehalten. Erhards Glaube an das Individuum, an dessen Recht auf Freiheit und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, waren für die Union im Regierungsalltag aber immer seltener eine Bezugsgröße. 

So atmeten Programm und Politik der drei Großen Koalitionen unter Merkels Führung (2005–2009, 2013–2018, 2018–2021) mehr von der Umverteilungsmentalität der sozialliberalen 1970er-Jahre als vom Geist Ludwig Erhards. Schwarz-Rot stand schon lange vor Corona für mehr staatliche Fürsorge und weniger private Vorsorge und damit für das Gegenteil Erhard’scher Prinzipien. Die CDU/CSU hat zwar verhindert, dass die Einkommensteuer generell erhöht worden ist. Sie gab aber 2005 der SPD nach und stimmte der Einführung der Reichensteuer von 45 Prozent für Jahreseinkommen von mehr als 250.000 Euro (Ledige) zu.  

Bei der Abschaffung des „Soli“ gab die Union ebenfalls klein bei. „Reiche“ von 72.000 Euro Jahreseinkommen an müssen ihn weiterhin entrichten, obwohl er zur Finanzierung des längst abgeschlossenen „Aufbau Ost“ gar nicht mehr benötigt wird. Zudem ist die Steuerquote, also der Anteil der Steuern und Zölle am Bruttoinlandsprodukt, in der Kanzlerschaft Merkel von 21 auf 24 Prozent gestiegen – der höchste Stand seit der Wiedervereinigung. Das passt nicht zu einer Partei, die ständig vor zu großen Belastungen der Wirtschaft und insbesondere des Mitteltands warnt. 

Mit Grausen hätte sich Erhard wohl auch von den Plänen Peter Altmaiers abgewandt. Der hatte als einer seiner Nachfolger im Amt des Bundeswirtschaftsministers Leitlinien für eine „strategische Industriepolitik“ vorgelegt. Demnach sollten die Europäer Subventionen an Technologie-Unternehmen ausschütten, um diese zu „Weltmarktführern“ hochzurüsten. Mit Marktwirtschaft hatte das nichts mehr zu tun.    

Jede Menge ordnungspolitischer Sündenfälle 

Die CDU/CSU hat sich als Koalitionspartner der SPD zunehmend sozialdemokratisiert, was die Wirtschaft- und Sozialpolitik betrifft. Ihr Wirtschaftsflügel hat das stets heftig kritisiert. Wenn es im Bundestag zum Schwur kam, wurden aus den Reihen der verbliebenen Marktwirtschaftler ein paar Gegenstimmen abgegeben, aber niemals genügend viele, um ein Gesetzesvorhaben zu Fall zu bringen. So reihte sich ein marktwirtschaftlicher Sündenfall an den anderen. 

Sündenfall 1: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Niemand wird bestreiten, dass angesichts der sinkenden Bedeutung von Tarifverträgen das Lohndumping zugenommen hat. Dagegen hilft kein flächendeckender Mindestlohn. Die aktuell 9,82 Euro pro Stunde mögen in strukturschwachen Gegenden bei Alleinstehenden ohne Unterhaltsverpflichtungen für einen angemessenen Lebensunterhalt ausreichen, nicht aber in prosperierenden Regionen und Ballungsräumen. Folglich müsste ein marktwirtschaftlicher Mindestlohn nach Branchen und Regionen differenziert sein.   

Der Einheits-Mindestlohn dient den Sozialdemokraten als politische Trophäe, löst indes nicht die Probleme vieler gering bezahlter Arbeitnehmer. Die Folge: Die Zahl der „Aufstocker“, die trotz Mindestlohns noch von der Arbeitsagentur unterstützt werden müssen, ist nicht gesunken. Gleichwohl scheint die CDU/CSU bereit zu sein, den Ampel-Plan einer Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro abzunicken – mit Blick auf die entsprechenden Umfrageergebnisse.  

Sündenfall 2: Rente mit 63. Wer 45 Jahre lang Rentenbeiträge gezahlt hat, kann schon zwei Jahre früher in Rente gehen, und zwar ohne Abschläge. In den Genuss dieses Privilegs kommen überwiegend männliche Industriearbeiter mit ohnehin hohen Rentenansprüchen. Keine Chance haben dagegen Arbeitnehmer mit längeren Ausbildungszeiten und Frauen, die ihre Berufstätigkeit zugunsten der Familie unterbrochen haben. Hier wollte die SPD der Kernklientel der Industriegewerkschaften etwas Gutes tun – und die CDU hat mitgemacht. 

Sündenfall 3: Mütterrente. Müttern bei der Rente einen kleinen Ausgleich dafür zu zahlen, dass ihre Renten aufgrund der Erziehungszeiten geringer ausfallen, passt durchaus ins Rentensystem. Aber diese 2018 ausgeweitete Sozialleistung müsste konsequent aus der Rentenkasse finanziert werden und nicht überwiegend vom Steuerzahler. Hier ging es der CDU/CSU in erster Linie um ältere Wählerinnen, nicht um eine systemgerechte Finanzierung.  

Durch die Mietpreisbremse ist keine einzige Wohnung entstanden 

Sündenfall 4: Mietpreisbremse. Im Wahlkampf 2017 wollte die SPD den Mietern etwas bieten, nämlich eine Bremse beim Mietenanstieg. Die CDU wollte ebenfalls sozial sein und schloss sich dieser Forderung an. Das Ergebnis: Die Vermietung von Wohnungen ist für private Investoren weniger attraktiv. Das dämpft den Neubau. Wegen oder dank der Mietpreisbremse ist jedenfalls keine einzige neue Wohnung gebaut werden. Hier wird Mangel verwaltet, statt das Angebot vergrößert – das Gegenteil von sozialer Marktwirtschaft.  

Sündenfall 5: Frauenquote. „Leistung muss sich wieder lohnen“, lautete einmal ein CDU-Slogan. Bei der Besetzung von Aufsichtsratsmandaten und Vorstandsposten ist die Union jedoch vom Leistungsprinzip abgewichen. In börsennotierten Unternehmen müssen 30 Prozent der Aufsichtsräte weiblich sein. Da heißt: Das Geschlecht wird bei einem Teil der Mandate zum entscheidenden Auswahlkriterium. Auch in den Vorständen muss künftig mindestens eine Frau vertreten sein. Ludwig Erhard würde sich im Grab umdrehen, auch deshalb, weil hier die Rechte der Eigentümer bei der Personalauswahl vom Staat willkürlich eingeschränkt werden. 

Grundrente mit der Gießkanne 

Sündenfall 6: Grundrente. CDU/CSU und SPD waren sich einig, dass Arbeitnehmern, die trotz langer Erwerbstätigkeit nur geringe Rentenansprüche haben, die Rente aufgestockt werden soll. Voraussetzung für diese Grundrente sollte jedoch eine Bedürftigkeitsprüfung sein; so war das im Koalitionsvertrag festgelegt. Die SPD wollte jedoch die Bezieher kleiner Renten mit der Gießkanne beglücken, unabhängig von deren Vermögensverhältnissen. Auch gab die Union nach und sich mit einer „Einkommensprüfung light“ zufrieden. Womit das Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft, von Staats wegen nur denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können, wieder einmal aufgehoben wurde. 

Apropos Sündenfälle: Ludwig Erhard hat selbst eingeräumt, im politischen Alltag könne man auch mal gezwungen sein, sich gegen den Geist der sozialen Marktwirtschaft zu versündigen. Aber, so fügte er hinzu, man müsse sich wenigstens dessen bewusst sein. Genau dieses Bewusstsein fehlt seinen Erben in der CDU völlig.  

Der betreute Mensch als Maß aller Dinge 

Natürlich lassen sich die politischen Verhältnisse der 60er-Jahre nicht gleichsetzen mit denen von heute. Auch Ludwig Erhard würde unter den Bedingungen eines globalen Wettbewerbs vieles anders beurteilen und entscheiden. Aber für die alles andere als solide Finanzierung von Sozialleistungen hatte er schon 1957 die passende Formulierung gefunden: „Verschleierungsversuche mittels kollektiver Umverteilungsverfahren“. Das passt bestens zu den Rentengeschenken der Großen Koalition. Ebenso diese Erhard’sche Weisheit: „Kein Staat kann seinen Bürgern mehr geben, als er ihnen vorher abgenommen hat – und das auch noch abzüglich der Kosten einer immer mehr zum Selbstzweck ausartenden Sozialbürokratie. Es gibt keine Leistungen des Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen.“ Als Kommentar zur Politik der CDU/CSU könnte Erhard, wenn er noch lebte, sich also selbst zitieren. 

Erhard war der Überzeugung, man müsse die Menschen auch fordern. Die CDU stand ebenfalls lange Zeit für diesen Grundsatz. Den Sozialdemokraten hingegen ging es stets mehr um die Betreuung und Versorgung der Menschen. Markt, Wettbewerb und private Initiative als tragende Elemente unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wurden in der Ära Merkel nicht gestärkt. Das war ganz im Sinne der SPD.  

Merz als „Geburtstagsgeschenk“ für Erhard 

Am 125. Geburtstag erinnert die CDU stolz an den „CDU-Vorsitzenden, Wirtschaftsminister, Vizekanzler, Bundeskanzler und Vater des ‚deutschen Wirtschaftswunders‘“. Der habe Deutschland wie kaum ein anderer geprägt, feiert die Partei den 1977 gestorbenen „Mister Marktwirtschaft“. In gewisser Weise hat die Partei Ludwig Erhard mit der Wahl von Friedrich Merz zum neuen Vorsitzenden ein Geburtstagsgeschenk gemacht. Denn Merz würde sicher gern beides gewinnen – Wahlen und den Ludwig-Erhard-Preis.   

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