Hartz-IV-Debatte - „Die Agenda 2010 war richtig, aber die Zeiten haben sich geändert“

Andrea Nahles will Hartz IV abschaffen und das deutsche Sozialsystem radikal umbauen. Der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Kahrs, verteidigt ihr Konzept für einen „Sozialstaat 2025“ und greift den Koalitionspartner CDU an

Waren die Agenda-Reformen der SPD ein Fehler, den die Sozialdemokraten nun revidieren wollen? / picture alliance
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Herr Kahrs, Altkanzler Gerhard Schröder hat die SPD-Chefin Andrea Nahles in einem Interview mit dem Spiegel attackiert und ihr sogar die ökonomische Kompetenz abgesprochen. Teilen Sie seine Meinung?
Ich bin immer der Meinung, dass Ehemalige sich zu aktuellen Vorgängen nicht äußern sollten.

Viele Genossen stehen aber hinter Schröder. Es heißt, Andrea Nahles sei längst abgeschrieben und der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil würde bereits als Nachfolger gehandelt. Ist der Plan „Sozialstaat 2025“ ihr letzter Rettungsversuch?
Andrea Nahles macht einen guten Job und ihre Vorschläge für den Sozialstaat sind großartig.

Andrea Nahles will Hartz IV abschaffen, stattdessen ein Bürgergeld einführen. Löst das wirklich Probleme oder ist das Augenwischerei vor den vier anstehenden Landtagswahlen?
Hartz IV und die Agenda-Reformen waren damals richtig und wichtig, als wir sie 2002/2003 beschlossen haben. Wir hatten 16 Jahre Helmut Kohl beerbt, worauf wir reagieren mussten. Rot-Grün hat damals unter Gerhard Schröder Deutschland nach vorne gebracht. Das war gut so, aber jetzt sind die Zeiten anders. Wir haben einen Arbeitsmarkt mit fast Vollbeschäftigung, der die Probleme der Digitalisierung vor sich hat und Internetgiganten wie Google, Amazon und Co. Darauf zu reagieren, bedeutet auch, dass wir viel Weiterbildung brauchen. Deswegen sind die Vorschläge, die in dem neuen Konzept von Andrea Nahles stehen, für die kommenden 15 Jahre so wichtig. So wie die Agenda 2010 für die damals folgenden 10 bis 15 Jahre wichtig war.

In den Augen des linken SPD-Flügels war die Agenda 2010 ein Fehler, der die Kernklientel vergrault hat.
Sie hören in der SPD nirgends, dass die Agenda 2010 ein Fehler war.

Aber Ihre Vorsitzende sagt doch, es sei ein großer Fehler der Hartz-Reformen gewesen, dass das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verletzt wurde. Wer bisher aus dem Bezug von Arbeitslosengeld I fällt, bekommt sofort die Härte der Grundsicherung zu spüren. Mit dem Bürgergeld will sie deshalb eine zweijährige Übergangsphase einführen. Wie stehen Sie dazu?
Ich halte die Übergangsphase für richtig. 2002 hatten wir das Problem, dass es eine hohe Arbeitslosigkeit gab und dass der Sozialstaat nicht durchfinanziert war. Das alles hat Gerhard Schröder mit Rot-Grün in den Griff gekriegt. Nochmal: Zu dem Zeitpunkt war die Agenda 2010 richtig. Was wir jetzt machen, ist eine Neuaufstellung unter anderen Umständen, um über die Zukunft zu diskutieren. Die SPD ist dafür bereit, die CDU leider nicht.

Das müssen Sie erläutern.
Die CDU hält an der Agenda fest, die sie vorher nicht durchgesetzt hat, als sie selbst regiert hat. Weil ihr die Kraft fehlte. Jetzt fehlt ihr die Kraft für die Zukunft. Sie hält an den alten, überkommenen Konzepten der SPD fest. Die Welt hat sich aber in den vergangenen 15 Jahre geändert.

Sie implizieren, die SPD sei vereint und nur die CDU stelle sich quer. Der Eindruck besteht ja gerade nicht, wenn man sich die Querelen der vergangenen Tage, Wochen und Monate ansieht – etwa um Sigmar Gabriel oder  Gerhard Schröder.

Johannes Kahrs / picture alliance

Angebliche Querelen in der SPD erkenne ich im Moment nicht. Ich kenne nur die von Gerhard Schröder und wie gesagt: Ehemalige sind Ehemalige. Ich habe ihn immer verteidigt. Er war ein großartiger Bundeskanzler. Aber jetzt ist er Rentner und deswegen ist das Thema durch. Aktuell diskutieren wir in der SPD das Sozialstaatskonzept. Es ist abgestimmt und wird mit großer Mehrheit beschlossen werden – da bin ich mir sicher. Die CDU will den Soli bis Ende 2021 auch für Besserverdienende abschaffen, was sich im Bundeshaushalt mit zehn Milliarden Euro pro Jahr niederschlagen würde. Wenn sie auf der anderen Seite aber nicht einmal den Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben, eine Respektrente ermöglichen will, dann sieht man, wo die wahren Unterschiede liegen.

Sie begrüßen also auch die Respektrente, mit der Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil kürzlich in die Öffentlichkeit drängte?
Die Respektrente ist eine großartige Idee. Es ist wichtig, dass Menschen, die 35 Jahre und mehr gearbeitet haben, deren Rente aber zu niedrig ausfällt, weil sie im Niedriglohnsektor unterwegs waren, unterstützt werden. Wir müssen klarmachen, wo die Prioritäten liegen: Leistung muss sich lohnen.

Finanzminister Olaf Scholz hat verkündet, dass das Geld knapp wird. Wie sollen die neuen Konzepte finanziert werden?
Wir reden hier erst einmal nur von einem SPD-Konzept. Wir müssen prüfen, was davon finanziell umsetzbar ist. Die Grundrente ist für uns prioritär und Olaf Scholz unterstützt auch eine Finanzierung aus dem Bundeshaushalt.

Die SPD liegt derzeit laut Umfragen mit 15 Prozent hinter den Grünen, in Bayern sogar weniger. Glauben Sie, dass Andrea Nahles das Vertrauen der SPD-Klientel zurückgewinnen kann, wenn sie nun unter dem Motto „mehr Fördern statt Fordern“ die Sanktionen aufheben will?
Die SPD ist gerade dabei, sich zu erneuern und neu aufzustellen. Fördern und fordern bleibt, wird aber ergänzt. Auf der Strecke wird die SPD mit ihrer guten Politik und den Konzepten wie der Grundrente überzeugen.

Wer einen gut bezahlten Job hat, bräuchte keine Grundrente. Jobcenter aber bieten vor allem solche Jobs an, die im Niedriglohnsektor sind.
Wir haben nun einmal einen Arbeitsmarkt, der nah an der Vollbeschäftigung ist. Deswegen müssen wir zunächst einmal sehen, wie wir diese Übergänge bewältigen. Das Konzept „Sozialstaat 2025“ ist nicht von heute auf morgen umsetzbar, sondern ein langfristiges Konzept. Reden wir über die Digitalisierung: Wenn Menschen, die in Branchen arbeiten, in denen nicht mehr so viele Arbeitsplätze gefragt sind, dann müssen sie eventuell in andere Branchen wechseln. Wofür sie neu qualifiziert werden müssen. Diese Umschulung muss finanziert werden. Dafür brauchen wir Übergänge, für die wir das Arbeitslosengeld Q brauchen – was in dem Konzept für den Sozialstaat auch vorgesehen ist. Damit können Arbeitslose künftig einen Rechtsanspruch auf eine Qualifizierungsmaßnahme erhalten.

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