Globaler Pandemievertrag der WHO - Auf dem Weg zur Weltnotstandspolitik

Karl Lauterbach spricht vom „wichtigsten Projekt“ seines Ministeriums: Der weltweite „Pakt gegen die nächste Pandemie“ stand folglich auch im Mittelpunkt des von Deutschland ausgerichteten G7-Gesundheitsgipfels in Berlin. Ein völkerrechtlicher Vertrag soll die Rolle der Weltgesundheitsorganisation stärken – doch möglicherweise wird die WHO dadurch stärker als ihre demokratischen Mitgliedsländer. Kommen die Lockdowns künftig aus Genf?

Will einen „globalen Pakt für Pandemic Preparedness“: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach / dpa
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Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

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Lassen Sie uns mit einer kleinen Auswahl an Zitaten beginnen:

„Es ging [nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs] darum, eine vorbereitete Nation (prepared nation) zu schaffen, eine Nation, die immer bereit ist und nie wieder überrascht werden kann. Mit […] dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Auftauchen der Vereinigten Staaten als einzige Supermacht entstand zum ersten Mal ein totalitäres Imaginäres [...] Das nach dem 11. September konstruierte Imaginäre führte Elemente fort, die während des Kalten Krieges entworfen worden waren. Auch das neue Imaginäre zeichnete das Bild eines globalen Feinds ohne Konturen und Grenzen, der von Geheimnissen umhüllt war.“ – Sheldon S. Wolin, US-amerikanischer Politikwissenschaftler (†)

„Wir sind im Krieg. Wir kämpfen weder gegen Armeen noch gegen eine andere Nation. Aber der Feind ist da, unsichtbar – und er rückt vor.“ – Emmanuel Macron, Präsident Frankreichs 

„Freie Institutionen wetteifern mit autoritären darum, den Feind zu einer tödlichen Kraft innerhalb des Systems zu machen. Die Gesellschaft als Ganzes [wird] zu einer Verteidigungsgesellschaft […] Denn der Feind ist permanent. Er existiert nicht in einer Notsituation, sondern im Normalzustand. Er droht im Frieden wie im Krieg (und vielleicht mehr noch im Frieden); er wird so ins System als eine Bindekraft eingebaut.“ – Herbert Marcuse, deutscher Philosoph (†)

„Wenn wir sehen, dass Notmaßnahmen verabschiedet werden, vor allem heute, dann bleiben sie in der Regel haften. Der Notstand wird in der Regel ausgeweitet. Dann gewöhnen sich die Behörden an die neue Macht. Sie beginnen, sie zu mögen.“ – Edward Snowden, US-amerikanischer Whistleblower

„Wir kommen jetzt in eine, also, Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein.“ – Karl Lauterbach, Bundesgesundheitsminister (SPD) 

Krieg, der unsichtbare Feind und der (ewige) Ausnahmezustand. Erinnern Sie sich noch an die Rhetorik zu Beginn der Corona-Krise? Manches ist zwar schon eine Weile her, und die weltweit immer weniger besorgniserregenden Zahlen könnten einen anderen Eindruck erwecken, aber: Nein, „die Pandemie ist noch nicht vorbei“. Besonders in Deutschland wird man nicht müde, das zu betonen. „Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind“, lautet die Losung. Gegen die totale Gefahr hilft nur die totale Kontrolle. Und gegen einen Feind, der alle bedroht, hilft nur ein starker Führer, der alle beschützt – dieser Meinung scheinen zumindest einige derjenigen zu sein, die seit vielen Monaten am globalen Pandemievertrag der Weltgesundheitsorganisation arbeiten.  

Obwohl die chinesische No-Covid-Politik ganz eindeutig gezeigt hat, dass die absolute Sicherheit in die absolute Unfreiheit führt und globale Allianzen gegen die eng mit dem Welthunger verknüpfte Steuerflucht nicht ansatzweise mit gleichem Nachdruck verfolgt werden, versammelte sich die Weltgemeinschaft kürzlich erneut hinter dem Grundsatz „no one is safe until all of us are safe“. Und zwar auf dem (virtuellen) Zweiten Covid-19-Gipfel am 12. Mai, zu dem US-Präsident Joseph Biden zusammen mit den Staatsoberhäuptern von Belize, Indonesien und Senegal geladen hatte. Auch Deutschland war dank des diesjährigen G7-Vorsitzes Mitveranstalter des Covid-Gipfels.   

Das „wichtigste Projekt“ des Gesundheitsministers  

Wie Karl Lauterbach laut einem Tweet des Welt-Journalisten Tim Röhn am 28. April in der Sitzung des Gesundheitsausschusses deutlich machte, hatte dieser Gipfel „das wichtigste Projekt des Bundesgesundheitsministeriums“ zum Thema, nämlich „einen globalen Pakt für Pandemic Preparedness“. Damit sei ein „weltumspannendes System“ gemeint, das „Spezialisten“ schneller als bisher den Zugriff auf Informationen zu Krankheitserregern ermögliche und so dafür sorge, dass „schneller neue Impfstoffe entwickelt und beschafft werden“ können. Für das Treffen der G7-Gesundheitsminister am 19. und 20. Mai hatte sich Lauterbach dementsprechend vorgenommen, zusammen mit seinen Kollegen über einen solchen Pakt zu beraten. Die Ziele des Paktes resonieren treffenderweise mit den Zielparolen des Covid-Gipfels, dessen erste Ausgabe am 22. September 2021 stattfand: „Vaccinate the world, save lives now and build better health security“.  

Die Vereinbarungen des zweiten Gipfels konnten sich sehen lassen. Die Länder versprachen mehrheitlich, ihre Bevölkerung zu mindestens 70 oder auch 80 Prozent durchzuimpfen oder auch finanzielle Mittel für Programme und Institutionen wie die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) oder den Access to COVID-19 Tools-Accelerator (ACT-A) zur Verfügung zu stellen. Neben den öffentlichen Geldern sollen in Zukunft auch (weiterhin) einige Dollar aus den Taschen nichtstaatlicher Institutionen fließen – darunter bekannte Namen wie die Bill & Melinda Gates Foundation, die Rockefeller-Stiftung, der Wellcome Trust sowie auch Google, Merck und Pfizer. 

Wie selbstlos der Dienst ist, den Konzerne wie die beiden letztgenannten der Welt erweisen, wenn sie versprechen, noch mehr Covid-19-Impfungen oder Arzneimittel bereitzustellen und weltweit noch mehr Menschen zu erreichen, ist diskutabel. Auch wenn Bidens (erneute) Verkündung, die US-Regierung werde geistiges Eigentum bezüglich der Covid-19-Impfstoffe teilen, Gegenteiliges vermuten lassen könnte. Ob Pfizer und Co. plötzlich doch gerne teilen, wird sich noch zeigen.  

Lücken in der „globalen Sicherheitsarchitektur“ 

Während das Motto des ersten Gipfels noch „Ending The Pandemic“ lautete, war man im Mai konzeptuell schon einen guten Schritt weiter: „The pandemic is not over, and now is the time to prepare for the next one.“ Damit griff der Gipfel das Lieblingsthema des weltweit einflussreichsten Gesundheits-Finanziers Bill Gates auf, dessen (steuerbefreite) Stiftung in einer Vielzahl der aufgeführten Programme investiert (ob nun ACT-A, CEPI, Die Globale Impfallianz GAVI oder die Foundation for Innovative Diagnostics, FIND).  

Nachdem Gates die Welt 2021 an seinen energiepolitischen Überlegungen zur Verhinderung eines „Klima-Desasters“ hatte teilhaben lassen, brachte der epidemiologische Autodidakt erst diesen April ein Buch darüber heraus, wie man aus seiner Sicht die nächste Pandemie verhindert. Dankenswerterweise hat der Microsoft-Gründer auch dem WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus ein Exemplar des Buches zukommen lassen. Der zeigte sich auf Twitter entzückt – und das bestimmt nicht nur, weil die Gates-Stiftung in den Pandemiejahren 2020 und 2021 der zweitgrößte Geldgeber der UN-Behörde war – nach Deutschland
 

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Am 12. April 2022, drei Tage bevor Tedros Gates’ neues Buch für Twitter in die Kamera hielt, erklärte der äthiopische Chef der Weltgesundheitsorganisation bei einer virtuellen Veranstaltung mit dem Titel „The World Together“, dass Covid-19 einen „Flickenteppich verschiedener Antworten“ der Länder erzeugt und damit „ernstzunehmende Lücken in der globalen Architektur der Gesundheitssicherheit [global health security architecture] offenbart“ habe, die man sich nun anschicke, zu schließen. Die militärische Konnotation dürfte nur diejenigen wundern, die sich noch nicht über Gates’ Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) gewundert haben. 

Um also diese globalen Lücken zu schließen, so Tedros weiter, habe die World Health Assembly (WHA) am 1. Dezember 2021, bei der zweiten „Special Session“ seit ihrem Bestehen, eine „historische Entscheidung“ getroffen. Nämlich ein Gremium einzuberufen, das ein „Übereinkommen, eine Vereinbarung oder ein anderes internationales Instrument“ aushandeln soll, um die „pandemic prevention, preparedness and response“ zu stärken. Das Gremium, der sogenannte Intergovernmental Negotiating Body (INB) soll bis 2024 ein Ergebnis liefern. Und dieses Ergebnis wird völkerrechtliche Verbindlichkeit haben. So kündigt es auch der Rat der Europäischen Union an, welcher sich als eine der ersten Parteien für das Vorhaben stark gemacht hatte. „Das könnte ein Game-Changer sein“, folgerte Tedros. Wie genau der Game-Changer aussehen wird, ist weiterhin Gegenstand der Verhandlungen, aber es gibt bereits deutliche Hinweise, in welche Richtung sich das Ganze entwickeln könnte – denn die ersten Pläne für den „Pandemiepakt“ wurden schon 2020 geschmiedet.   

Im Unterschied zu den Leitmedien wurde das Thema in den alternativen Medien mehrfach aufgegriffen, auf deutscher wie auch auf englischsprachiger Seite, teilweise sogar lange bevor entsprechende Pläne einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden.  

Erste Zielformulierungen: Überwachung, Alarm und Reaktion 

Einer Pressemitteilung des EU-Rats zufolge war es dessen Präsident Charles Michel, der am 12. November 2020 als erster einen Pandemievertrag vorschlug. Und zwar auf dem Pariser Friedensforum (PPF), einer öffentlich-privat-finanzierten Nichtregierungsorganisation, welche sich selbst als Plattform beschreibt, „die allen offen steht, die Koordination, Regeln und Kapazitäten entwickeln wollen, um globale Probleme zu beantworten“. Das PPF besetzt damit das völkerrechtliche Feld der „global governance“ in Ergänzung zu dem wirtschaftspolitischen Fachbereich des World Economic Forum (WEF) und dem sicherheitspolitischen der MSC. Gegründet wurde das Friedensforum von dem ehemaligen französischen Außenpolitik-Strategen und Zbigniew-Brzezinski-Biografen Justin Vaïsse, auf Initiative von Staatschef Emmanuel Macron. 

Nachdem sich auch die G7-Staaten am 19. Februar für einen Pandemiepakt ausgesprochen hatten und das WHO-Gremium am 24. Februar zu seiner konstitutiven Sitzung zusammengetreten war, veröffentlichte der EU-Rat am 3. März 2022 die ersten Zielformulierungen zum Pandemiepakt. Dazu zählt etwa die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit auf den Gebieten „Überwachung, Alarm und Reaktion“ durch „digitale Technologien und innovative Werkzeuge für die Datenerfassung und -freigabe sowie Predictive Analytics“, also Prognosen auf der Grundlage von Data-Mining. Ebenso wird eine stärkere Kopplung von Forschung und Industrie anvisiert, um eine bessere Verteilung von „sicheren und wirksamen“ Arzneimitteln sicherzustellen. Der Pakt soll zudem dafür sorgen, dass die Gesundheitsbehörden ihr (Kontakt-)Meldesystem verbessern, um schneller auf Ausbrüche reagieren zu können. Um die „Gesundheitssicherheit“ zu gewährleisten, sollen außerdem Fehlinformationen (im Internet) bekämpft und zweckdienliche Informationen gefördert werden. Google hat beim Covid-Gipfel schon seine Unterstützung zugesagt.      

Zuletzt führt der Vorschlag des EU-Rats das sogenannte „One Health“-Konzept an, dem die Maßnahmen folgen sollen. Diesem liegt die (einleuchtende) Annahme zugrunde, dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Ökosystem untrennbar miteinander verbunden ist. Die Verbindung von Human- und Veterinärmedizin gilt (vor allem im Hinblick auf Zoonosen) als erster bedeutender Schritt in diese Richtung. Das Konzept ist verwandt mit dem der „Planetary Health“, das erstmals 2014 in einem Beitrag des Medizinjournals Lancet erwähnt und von der Rockefeller-Stiftung bis hin zur Gründung der „Planetary Health Alliance“ aufgebaut wurde. Trivia: Als Reaktion auf den Lancet-Beitrag des Chefredakteurs Richard Horton wurde damals schon einmal ein globaler Preparedness-Vertrag gefordert – allerdings mit Bezug auf den Klimawandel.  

Dass die Globale Erwärmung der nächste Notstand sein könnte, der nach (Pandemic) Preparedness, Entbehrungen und einer Umgestaltung unserer bisherigen „Normalität“ verlangt, hat Karl Lauterbach beim G7-Gesundheitsgipfel zuletzt erneut deutlich gemacht, nachdem er bereits im Februar 2021 über „[pandemie-]analoge Einschränkungen“ spekulierte. Zwei Monate später hatte auch das Bundesverfassungsgericht in seinem historischen Urteil „gravierende Einschränkungen“ für verfassungskonform erklärt.  

Völkerrecht, das Zähne zeigt 

Auf die Gefahr, dass der Klimawandel jetzt und in Zukunft zu einem schwerwiegenden Gesundheitsproblem werden kann, macht in Deutschland vor allem die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) aufmerksam, die sich ebenfalls dem Konzept der „Planetary Health“ verschrieben hat. Die Vorsitzende des Vereins, Maike Voss, war Mitautorin eines von der London School of Economics (LSE) am 30. März 2022 veröffentlichten Empfehlungsschreibens dazu, wie die WHO einen Pandemievertrag entwickeln kann, der gegenüber Staaten auch „Zähne zeigt“. Um das zu gewährleisten, müsse die Organisation, die über die Einhaltung des Vertrags wacht, die Macht haben, diese „auf politischem oder legalem Wege zu erzwingen“. Schon im Mai war der Bericht des UN-Gremiums „Independent Panel for Pandemic Preparedness and Response“ (IPPPR) zu dem Schluss gekommen, dass nur eine in solcher Weise gestärkte WHO die nächste Pandemie („sicher“) verhindert.

Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn und WHO-Chef Tedros hatten sich dann auch Ende August 2021 für Sanktionen gegen Länder ausgesprochen, die die WHO-Richtlinien nicht befolgen. Hintergrund war die mangelnde Kooperation Chinas bei der Untersuchung des Ursprungs von Sars-CoV-2. Unabhängig davon, dass der Ursprung auch weiterhin nicht vollständig geklärt ist und die Eindämmung der hochgefährlichen Gain-of-Function-Forschung in den Verlautbarungen der WHO bisher kein Thema war, könnten entsprechende Befugnisse weiter reichen, als nur die Arbeit einer Untersuchungskommission zu gewährleisten: Werden auch Länder, die WHO-Empfehlungen (wie etwa zu Lockdowns oder – rein hypothetisch – zur obligatorischen Nutzung des digitalen Impfausweises) nicht befolgen, künftig bestraft? Und falls ja: Wie? 

Der Beitrag der LSE-Autorengruppe geht auf einen Vorschlag des Mitbegründers des bisher einzigen völkerrechtlich bindenden WHO-Vertrags zurück, der jemals beschlossen wurde (und zwar bei der ersten „Special Session“ der World Health Assembly): das Rahmenübereinkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (FCTC). Haik Nikogosian, so der Name des ehemaligen Vorsitzenden des „Convention Secretariat“, plädierte schon am 25. Februar 2021 für einen schlagkräftigen Vertrag, der analog zur FCTC „einige Herausforderungen des Gesundheitswesens in Rechtsverbindlichkeiten“ umwandeln könnte. Allerdings vermutete Nikogosian, dass die Befugnisse der WHO nicht weit genug reichen könnten, um „wichtige Bereiche wie Finanzen, Handel, Lieferungen, Strafverfolgung und die allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Störungen“ einer Pandemie abzudecken. Er schlug deshalb einen UN-Vertrag vor. 

Bewährte Strategie: Belohnen und Strafen 

Nikogosian meldete sich im April 2021 noch einmal zu Wort, nachdem Ende März 25 „world leaders“ in einer gemeinsamen Stellungnahme für einen Pandemievertrag geworben hatten, darunter auch Charles Michel, Emmanuel Macron, Angela Merkel – und WHO-Chef Tedros. In dieser Replik auf die „Führer“ erwähnt Nikogosian eine weitere Idee, die von der LSE-Autorengruppe aufgegriffen wird: „Im Falle eines Pandemieabkommens müssen aus unserer Sicht die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, die Welthandelsorganisation und die Internationale Arbeitsorganisation eingeladen werden (zusätzlich zu ‚Gesundheits‘-Partnern wie dem Global Fund und GAVI).“ 

Die Autoren des LSE-Empfehlungsschreibens beziehen sich also auf Nikogosians Forderungen und legen ihrerseits der WHO nahe, zu diesem Zweck ein „Anreizsystem“ zu entwickeln, das nach dem Prinzip Belohnen und Strafen verfährt: Länder, die sich weigern, die WHO-Richtlinien zu befolgen, könnten „mit Sanktionen wie öffentlichen Rügen, wirtschaftlichen Sanktionen oder der Verweigerung von Vorzügen“ belegt werden. So könne der bei der Weltbank angesiedelte Finanzintermediärfonds (FIF), der beim ersten Covid-Gipfel mit einem Jahresbudget von 10 Milliarden Dollar beschlossen wurde, dafür eingesetzt werden „zur Einhaltung des Pandemievertrags zu ermutigen [sic]“. 

Wie der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring unter anderem herausgestellt hat, könnte aber auch die WTO zur „Ermutigung“ zum Beispiel Handelserschwernisse gegenüber nonkonformen Ländern veranlassen, weil diese sich so unlautere Wettbewerbsvorteile verschaffen. Oder IWF und Weltbank machen die Konformität zur Bedingung für Kredite, analog zu den Strukturanpassungsprogrammen für Entwicklungsländer, die der Mitbegründer der Occupy-Bewegung und ehemalige LSE-Professor David Graeber einmal als (amerikanische) Instrumente moderner Schuldknechtschaft beschrieben hat.  

Architektur der Unterdrückung  

Mit dem Pandemievertrag könnte der Weltgesundheitsorganisation historische Macht zuteilwerden, falls die Mitgliedstaaten in Bezug auf den Umgang mit dem Total-Ereignis Pandemie auf ihre nationale Souveränität verzichten (müssen). Inwieweit es dazu kommen wird, kann man noch nicht eindeutig sagen, bisher wurde lediglich – am 3. Mai – ein Erstentwurf des Vertrages, ein sogenannter „Zero Draft“ veröffentlicht.  

Wenn das Tabakrahmenübereinkommen nicht nur als Referenz für den Vertrag, sondern auch für dessen Schlagkraft dienen soll, kann von totaler Kontrolle keine Rede sein: 16 UN-Mitgliedstaaten sind nicht beteiligt, einer davon sind die USA. Andererseits: Falls die oben beschriebenen Mechanismen greifen, könnte hier dennoch eine (weitere) bedenkliche Infrastruktur geschaffen werden, die nationale Demokratien zu Gunsten einer supranationalen Behörde schwächt – so wie es einige Kritiker befürchten. Dann könnte die neue Sicherheitsarchitektur die „Architektur der Unterdrückung“ sein, vor der Edward Snowden gewarnt hat. 

Möglicherweise ist der Vorhang auch schon gefallen. Denn auf Internetblogs finden sich nicht nur mehrere Berichte über den Pandemievertrag, sondern auch über einen bis Ende Mai zu ratifizierenden Änderungsantrag der USA, der durch die Anpassung der internationalen Gesundheitsrichtlinien (IHR) dem WHO-Generaldirektor mehr Macht als jemals zuvor zu verleihen scheint.  

In dem Szenario, wie es Washington vorsieht, entscheidet der Generaldirektor (weiterhin) nicht nur in letzter Instanz über die Ausrufung des Gesundheitsnotstands und damit – sofern die oben beschriebenen Anreizstrukturen greifen – möglicherweise über das gesamte Pandemiemanagement eines Landes, sondern ist auch unter anderem befugt, ohne dessen Zustimmung Maßnahmen wie die Entsendung von „Expertenteams“ zu treffen. Vor dem Hintergrund von Chinas mutmaßlicher Verschleierung des Ursprungs von Sars-CoV-2 mag diese Maßnahme nachvollziehbar sein, andererseits könnte die WHO ein Land aber möglicherweise jederzeit in den Notstand treiben, sofern genügend Daten für einen Ausbruchs-Alarm gesammelt wurden. Das setzt allerdings voraus, dass Massentestungen global verbindlich werden, so wie es Bill Gates für richtig hält.


Wichtige Daten zum Pandemievertrag:

23. Mai 2005: Aufnahme der rechtsverbindlichen Ausrufung des Gesundheitsnotstands (Public Health Emergency of International Concern, PHEIC) in die International Health Regulations (IHR).  

12. November 2020: EU-Ratspräsident Charles Michel regt auf dem Pariser Friedensforum einen Pandemievertrag an. 

27. Januar 2021: Die G20-Finanzminister und Zentralbankvertreter treffen eine erste Vereinbarung zur Finanzierung des „Global Commons for Pandemic Preparedness and Response“. 

3. Februar 2021: Gemeinsamer Artikel von Merkel, Macron, Guterres und Von der Leyen: „[Krise] kann eine Gelegenheit sein, den Konsens für eine internationale Ordnung auf der Grundlage von Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit [international order based on multilateralism and the rule of law] wiederherzustellen“, „die Krise betrifft auch die Umwelt“, Vorschlag, IWF mit einzubinden. 

19. Februar 2021: G7 fordern internationalen Pandemievertrag. 

25. Februar 2021: Der Ex-Sekretär des Tabakrahmenübereinkommens, Haik Nikogosian, veröffentlicht seinen Beitrag „The case for an international pandemic treaty“ im British Medical Journal. Weil eine Pandemie ein gesamtgesellschaftliches Ereignis sei, brauche eine entsprechende Autorität mehr Befugnisse als die WHO, außerdem müsse ein Vertrag rechtsverbindlich sein. Nikogosian plädiert daher für einen UN-Vertrag.  

24. Mai 2021: Der Bericht des UN-Gremiums „Independent Panel for Pandemic Preparedness and Response“ kommt zu dem Schluss, dass nur eine gestärkte WHO die nächste Pandemie verhindert, und plädiert für einen „Global Health Threats Council“, gibt außerdem erste Empfehlungen zu einer „Anreizpolitik“ zur Einhaltung des Vertrages.  

September 2021: Erster Covid-19-Summit. 

1. Dezember 2021: WHA „Second Special Session“: Entscheidung, ein Gremium (INB) einzuberufen, das ein „Übereinkommen, eine Vereinbarung oder ein anderes internationales Instrument“ aushandeln soll, um die „pandemic prevention, preparedness and response“ zu stärken.  

18. Januar 2022: US-Änderungsvorschlag „Amendments to the International Health Regulations (2005)“. 

25. Februar 2022: Konstitutive Sitzung des Intergovernmental Negotiating Body (INB) zur Aushandlung eines Pandemievertrags.   

3. März 2022: EU-Rat gibt „grünes Licht“ für den Pandemievertrag und formuliert erste Ziele, u.a. (diagnostische) Überwachung, Datenaustausch, OneHealth-Approach, Bekämpfung von Fehlinformation.  

3. Mai 2022: Erstentwurf des Pandemievertrags („Zero Draft“). 

14./15. Mai 2022: Zweiter Covid-19-Summit.  

19. Mai 2022: G7-Gesundheitsgipfel zum Thema Pandemic Preparedness. 

22.-28. Mai 2022: WHA-Entscheidung zum US-Änderungsantrag. 

August 2022: Zweites Treffen des INB-Gremiums.  

Mai 2024: INB legt der WHA die Endfassung des Pandemievertrags vor.

 

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