Der Fall Gil Ofarim - Ein Lehrstück in journalistischer Sorgfaltspflicht

Reihenweise Solidaritätsbekundungen und Proteste am Tatort: Die Antisemitismusvorwürfe des Sängers Gil Ofarim gegen einen Hotelmitarbeiter des The Westin Leipzig schlagen hohe Wellen – werfen aber auch Fragen auf. Etwa die nach der journalistischen Sorgfaltspflicht und dem Einfluss der sozialen Medien.

Demonstranten vor dem Westin treffen auf Hotel-Mitarbeiter, die sich in die israelische Flagge gehüllt haben / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

So erreichen Sie Ben Krischke:

Anzeige

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

So erreichen Sie Antje Hildebrandt:

Anzeige

Gut zehn Fußminuten vom Leipziger Bahnhof entfernt, am Rande des Flusses Parthe, ragt ein grauer Kasten in den Himmel. 436 Zimmer und Suiten warten auf die Gäste des The Westin Leipzig. „Genießen Sie unsere ungeteilte Aufmerksamkeit für Ihr Wohlbefinden“, ist auf der Webseite zu lesen.

Was die Aufmerksamkeit betrifft, davon würde sich das Hotel derzeit wohl weniger wünschen. Und auch das mit dem Wohlbefinden ist so eine Sache. Denn der Sänger Gil Ofarim hat am Montagabend Antisemitismusvorwürfe gegen einen Mitarbeiter des Hotels erhoben. Er soll Ofarim beim Check-In aufgefordert haben, seine Kette mit dem Davidstern abzunehmen. Seitdem ist an der Gerberstraße 15 in Leipzig Feuer unterm Dach. 

„Volle Solidarität mit Gil Ofarim“ 

In der Presse schlugen die Vorwürfe, die Ofarim im Rahmen eines Instagram-Videos erhebt, hohe Wellen. Die Leipziger Volkszeitung verurteilte den Vorfall und schlug einen direkten Bogen von der Causa Ofarim zur AfD und den Querdenkern. Der MDR titelte „Sänger Gil Ofarim in Leipzig offenbar antisemitisch beleidigt“. T-Online schrieb vom „Antisemitismus-Eklat um Gil Ofarim“. Und die Süddeutsche Zeitung urteilte: „Überraschen darf der antisemitische Vorfall, den der Musiker Gil Ofarim publik gemacht hat, eigentlich niemanden.“ 

%paywall%

Auch in den sozialen Medien findet sich Zahlreiches zum Thema. „Es ist inakzeptabel und macht mich wütend, was Gil Ofarim in meinem Heimatland widerfahren ist. Ich spreche für die übergroße Mehrheit der Menschen in Sachsen, wenn ich mich stellvertretend für die antisemitische Demütigung entschuldige. Wir haben noch viel zu tun in Sachsen!“, twitterte etwa Martin Dulig, SPD-Vorsitzender in und stellvertretender Ministerpräsident von Sachsen. Und Norman Vogler, Landesvorstandssprecher der Grünen in Sachsen und im Stadtrat von Leipzig, forderte: „Ich erwarte von der Hotelleitung des Westin arbeitsrechtliche Konsequenzen für diesen Antisemitismus. Ansonsten hat auch so ein Hotel in Leipzig nichts verloren.“ 

Was im Zuge der lauten Kritik am Hotel Westin und der vielen Solidaritätsbekundungen häufig untergeht: Ofarims Version ist nur eine Version der Geschichte. Das wirft Fragen auf. Zuvorderst die nach der journalistischen Sorgfaltspflicht. Denn eigentlich sind im Journalismus Fakten und Mutmaßungen klar voneinander zu trennen. Außerdem: Zwei in den Vorfall verwickelte Angestellte des Westin wurden inzwischen zwar beurlaubt, allerdings hat einer der beiden Mitarbeiter nun Anzeige gegen Ofarim wegen Verleumdung erstattet. Der Mann beschreibe den Vorfall „deutlich abweichend von den Auslassungen des Musikers“, so ein Polizeisprecher. 

Narrativ vom dunklen Osten 

Antisemitismus ist zweifellos ein Problem. Problematisch ist allerdings auch, wenn etwas wie im Fall Ofarim als Tatsache behandelt wird, obwohl noch niemand, außer die Beteiligten, weiß, was wirklich vorgefallen ist. Und noch etwas fällt ins Auge: die schiere Dimension der Berichterstattung rund um den Fall. Jedenfalls verglichen mit anderen Fällen von Antisemitismus in der jüngeren Vergangenheit. 

Zwei Beispiele: Ende September wurde ein 60-Jähriger jüdischen Glaubens während einer Israel-Mahnwache in Hamburg von einem 16-jährigen Berliner attackiert und ins Krankenhaus geprügelt. Ende August wurde ein 18-jähriger Mann mit Kippa in einem Kölner Park angegriffen und schwer verletzt. Berichte zu den Vorfällen gab es. Die Empörung hielt sich beide Male, verglichen mit der um Ofarim, allerdings in Grenzen. 

Das mag zum einen an Ofarims Bekanntheit liegen. Aber liegt es auch daran, dass der Vorfall in Leipzig gut zum Narrativ vom dunklen Osten passt? Die Vermutung liegt jedenfalls nahe. Schließlich wurde die AfD bei der jüngsten Bundestagswahl mit 27 Prozent zur stärksten Kraft in Sachsen gewählt – da deckt sich ein Vorfall wie jener, den Ofarim nun beschreibt, mit manchem Vorurteil aus dem Rest der Republik. 

Ein „untadeliger“ Geschäftsführer

Aber was bedeutet der Fall Ofarim für Leipzig, eine Metropole, die als Messestadt von Besuchern und Touristen aus der ganzen Welt lebt? Eine Stadt, in der der islam- und fremdenfeindliche Pegida-Ableger „Legida“ keine Chance hatte, weil er hier auf breiten Protest der Zivilgesellschaft stieß? Eine Stadt, in der dieselben Menschen, die früher gegen Legida auf die Straße gingen, am Dienstagabend zu Hunderten vor dem Westin gegen Antisemitismus protestierten. 

Anruf im Rathaus. Das Westin sei nicht irgendein Hotel, heißt es dort. Es genieße einen ausgezeichneten Ruf, und zwar weit über die Grenzen Sachsens hinaus. Und Westin-Geschäftsführer Andreas Hachmeister sei im wahrsten Sinne des Wortes „untadelig“. Ist es der Versuch, die Stadt aus der Schusslinie zu nehmen, um ihr Image zu retten? 

Eine Stellungnahme zu dem Vorfall gibt es aber nicht. Cicero sei nicht das erste Medium, das angerufen habe, heißt es. Sogar der amerikanische Nachrichtensender CNN habe den OB für eine Stellungnahme „zu dem antisemitischen Vorfall“ am Montagabend angefragt. Dabei, sagt Jungs Pressesprecher, sei es doch noch gar nicht erwiesen, dass sich die Geschichte so abgespielt habe, wie sie Ofarim auf Instagram erzählt: „Es steht Aussage gegen Aussage.“

Der Täter steht fest

Der beschuldigte Mitarbeiter am Check-In ist ein 33-jähriger, mehrfach preisgekrönter Weinkenner und Cocktail-Experte. Und er erzählt eine ganz andere Geschichte. Man kann sie nachlesen in der Mittwochsausgabe der Leipziger Volkszeitung. Danach habe Gil Ofarim in der Schlange vor dem Check-In gestanden, als jemand an ihm vorbei an den Counter geschleust wurde. Ein Ehepaar, das pro Jahr um die 200 Mal im Westin übernachte, immer in demselben Zimmer – und das deshalb auch diesmal bevorzugt behandelt worden sei. 

Ofarim aber habe es nicht hinnehmen wollen, dass Herr W. das Ehepaar vorgelassen habe, schreibt die Leipziger Volkszeitung. Auch er habe einchecken wollen. Als es dabei dann noch technische Probleme gegeben habe, sei es zum Disput gekommen. Und dann, so behauptet es der Sänger, soll der Satz gefallen sein: „Pack Deinen Stern ein.“

Ein Lehrstück in journalistischer Sorgfaltspflicht 

Noch muss diese Geschichte im Konjunktiv erzählt werden. Was genau passiert ist, soll nun die Staatsanwaltschaft klären. Bis dahin müsste eigentlich die Unschuldsvermutung gelten. Doch was ist sie noch wert, wenn Herr W. für viele Menschen jetzt schon als Täter feststeht? Im Leipziger Rathaus heißt es, der OB wäre der erste, der Antisemitismus anprangern würde, wenn erwiesen sei, dass ein Hotelgast wegen eines Davidsterns beschimpft worden sei. So etwas habe es in Leipzig bislang noch nicht gegeben. 

Sollten die Vorwürfe von Gil Ofarim zutreffen, wäre es eine verheerende PR für die Stadt. Eine Demo mit 600 Teilnehmern würde dann nicht ausreichen, um den Eindruck zu revidieren, Antisemitismus werde hier toleriert. Der Fall Ofarim sei aber ein Lehrstück darüber, wie die sozialen Medien die Berichterstattung in Zeitungen und TV-Sendern prägten. Viele Journalisten machten sich gar nicht mehr die Mühe, zu hinterfragen, was genau passiert sei.

Warnende Stimmen sind in der Minderheit

Auf Twitter sind Stimmen, die vor einer Vorverurteilung warnen, jedenfalls deutlich in der Minderheit. Und wer Ofarims Version anzweifelt, bekommt bisweilen die geballte Wut der Community zu spüren. Die kann sich dabei auch auf Experten wie Ahmad Mansour berufen. Der arabische Deutsch-Israeli ist Psychologe. Er ist regelmäßig zu Gast in Schulen, um über die Gefahren von religiösem Mobbing aufzuklären. Auch er sprach Ofarim auf Twitter sein Mitgefühl aus. Aber warum, wenn noch nichts bewiesen ist?

Cicero gegenüber sagt Mansour, er werde in seiner Arbeit als Psychologe fast täglich mit Antisemitismus konfrontiert. Und die Gewalt habe in den vergangenen Wochen zugenommen. Beispiele dafür gebe es genug, sagt er. Zum Beispiel den offenbar von der Polizei vereitelten Anschlag auf eine Synagoge in Hagen und den Angriff eines Fans von Union Berlin auf einen Anhänger des israelischen Clubs Maccabi Haifa.

Aber was, wenn Ofarims Geschichte so nicht stimmt? Mansour sagt, er könne sich nicht vorstellen, dass sich der Sänger die Geschichte ausgedacht habe. Er stehe zu seinem Tweet. Er habe damit niemanden an den Pranger stellen wollen. Er wisse, dass die Ermittlungen der Polizei in solchen Fällen meistens im Sande verliefen und  die Täter unbehelligt blieben. Sich solidarisch mit dem Opfer zu erklären, sei  das Mindeste, was er tun könne.

Anzeige