Freie Wähler - Der lange Weg nach Berlin

Auf kommunaler und regionaler Ebene sind die Freien Wähler eine feste Institution. Ihre bundes­poli­tischen Ambitionen sind insofern konsequent. Doch kann die Partei, die nie eine Partei sein wollte, in drei Wochen wirklich die Fünf-Prozent-Hürde in der Hauptstadt knacken?

Hubert Aiwanger, Spitzenkandidat der Freien Wähler, vor einer Almhütte / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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An den Stufen des neuen Rathauses von Rottenburg an der Laaber plätschert ein Brunnen. Auf ihm ein gusseiserner Reiter, der vom Ross herab einen Drachen mit dem Speer durchbohrt. Die Skulptur bildet Sankt Georg ab, der eine jungfräuliche Prinzessin rettet und sich anschließend taufen lässt. Ist der Drache die Berliner Politik? Hubert Aiwanger lacht. „Nein“, sagt er in markantem Niederbayerisch, „der Drache ist Frau Merkel.“ Und er sagt auch: „Wir wollen nach Berlin, um die Heimat zu retten, bevor sie andere ausradieren.“

Die Region, der Landkreis Landshut, ist Aiwangers Heimat und so etwas wie die Keimzelle seiner Partei im Süden der Republik. Aiwanger, Sohn eines Landwirts und Diplom-Agraringenieur, ist bayerischer Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident des Bundeslands. Als Bundesvorsitzender der Freien Wähler (FW) will er die Partei im September in den Bundestag führen – und sich selbst gleich mit. 

Die entscheidende Hürde

Die bundespolitischen Ambitionen der FW sind, nüchtern betrachtet, nur konsequent. Auf kommunaler und regionaler Ebene sind sie eine feste Institution, stellen zahlreiche Stadträte, Bürgermeister und Landräte. Seit 2014 sitzen sie im EU-Parlament. Im selben Jahr zogen Vertreter ihrer Zunft auch in den Landtag von Brandenburg ein. In Bayern regieren sie seit 2018 mit der CSU, mal mehr, mal weniger holprig. Und erst im März gelang der Einzug in den Landtag von Rheinland-Pfalz, der größte Erfolg jenseits Bayerns. 

Die entscheidende Hürde bilden die obligatorischen 5 Prozent der Wählerstimmen, die die FW im September auf sich vereinen müssen. Der Weg ist nach wie vor steinig und lang. Aber blickt man auf die jüngsten Umfragen zur Bundestagswahl, ist der Einzug der FW wenn nicht in greifbare, so doch in sichtbare Nähe gerückt. Das Reichstagsgebäude könnte also bald um eine „moderne, liberal-­konservative Partei“, wie die Freien Wähler sich selbst beschreiben, reicher sein. 

Nicht mehr „Sonstige“

In Prognosen liegen die „sonstigen Parteien“ wenige Monate vor der Wahl bei bis zu 8 Prozent – normal sind bei Bundestagswahlen um die 5 Prozent. Auf die größte unter den kleinen, die Freien Wähler, entfallen etwa 3 Prozent. Zum Lohn listet die Forschungsgruppe Wahlen die FW seit geraumer Zeit nicht mehr unter „Sonstige“, sondern nennt sie beim Namen. Das erhöht einerseits die Wahrnehmbarkeit und sorgte andererseits für so viel Begeisterung unter den FW, dass man meinen konnte, der Bundestag sei schon so gut wie sicher. 

Ihre Historie liest sich so: Seit den fünfziger Jahren haben sich bundesweit kommunale und regionale Wähler­gemeinschaften gebildet, die parteiunabhängige Kandidaten in die Kommunalwahlen schickten. In Bremen wie in Bayern, wo sich heute etwa die Hälfte aller Gemeinderäte der Partei direkt und indirekt zurechnen lassen. Der kleinste gemeinsame Nenner ist eine große Skepsis gegenüber den etablierten Parteien – die oft als liebevoll kultivierte Abneigung daherkommt – und der Anspruch, Politik mit gesundem Menschenverstand zu machen. Allerdings reicht der allein nicht aus, um sie zu greifen.

Verwirrende Organisation

Denn die Strukturen, die sich hinter der politischen Marke „Freie Wähler“ verbergen, sind kompliziert: Die FW gliedern sich zwar in Bundes-, Landes-, Kreis- und Ortsverbände, die aber unabhängig agieren. Hinzu kommt, dass der Begriff „Freie Wähler“ nicht schützenswert ist. Es gibt Abkürzungen wie eben „FW“ oder „UWG“ (Unabhängige Wähler-­Gemeinschaft). Manche nennen sich „Bürgerbündnis“, andere „Gemeinschaft“. Da es dem Bundesverband juristisch nicht erlaubt ist, als Partei bei den Bundestagswahlen anzutreten, geht im September eine „Bundesvereinigung Freie Wähler“ ins Rennen. 

Ein gutes Beispiel für die verwirrende Organisation sind die Brandenburger Vereinigte Bürgerbewegungen/Freie Wähler, die seit 2014 im Landtag sind. Die haben die Partei zwar im Namen, kooperieren mit ihr, sind aber nicht Teil der Bundesvereinigung Freie Wähler. Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt daher fest: „Bei den Freien Wählern handelt es sich um einen überaus heterogenen Untersuchungsgegenstand.“

Dissens beim Einzug in den Bundestag

Die Suche nach mehr Klarheit führt ans Westufer des Starnberger Sees. In Tutzing residiert die Akademie für Politische Bildung in einem imposanten Anwesen samt Rosengarten. Ursula Münch ist Professorin für Politikwissenschaft und seit 2011 Direktorin der Einrichtung. Selbst die Expertin für Innenpolitik nennt die Strukturen der FW „verwirrend“. Folgt man Münch, bilden sie ein „Kontrastprogramm zum urbanen Milieu“. Die Zahl ihrer Mitglieder, die im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, sei gering, Menschen mit dezidiert akademischem Lebenslauf die Ausnahme. „Interessant ist, dass die Freien Wähler nie eine Partei sein wollten“, sagt Münch. Dass sie es heute dennoch sind, sei „ein bisschen schizophren“.

Kritik an den Ambitionen der FW kommt auch aus den eigenen Reihen. Von jenen, die die Unabhängigkeit der FW von der etablierten Parteienpolitik als höchstes, fast sakrosanktes Gut begreifen. Der Ärger ging mit der ersten Parteigründung in Bayern Ende der Neunziger los. Das ist auch der Grund, warum die FW so oft als bayerische Partei wahrgenommen werden. Und bis heute herrscht unter jenen, die sich FW nennen, Dissens, was auch einen Einzug in den Bundestag angeht. Manche fürchten, dass die Freien Wähler dabei sind, ihre kommunale Seele zu verkaufen. Andere gruselt es allein bei der Vorstellung, dass die „Aiwanger-Partei“ – wie sie von Teilen der FW spöttisch genannt wird – bald von Berlin aus anschafft, was Stadträte, Bürgermeister und Landräte umsetzen sollen. 

Bald Teil des politischen Establishments?

Das Gegenargument von Aiwanger und all jenen, die ebenfalls für die Freien Wähler im Bundestag trommeln, lautet sinngemäß: Wer gegen den Drachen in Berlin kämpfen will, der kann das nicht von Bayern oder Rheinland-Pfalz aus tun – und schon gar nicht aus den Kommunen. Wer ihn bekämpfen will, der muss in seine Höhle gehen. 

Kann man also Partei sein, ohne Partei zu sein? Und wie will man Politik in Berlin machen, ohne zwischen Debatten im Reichstagsgebäude und Schnitzel im Borchardt Teil des politischen Establishments zu werden? Eine ähnliche Schizophrenie kennt man von der AfD. Expertin Münch winkt aber ab. Zwar bedienten sich die FW im Wahlkampf auch mal „populistischer Sprache“, gegen Populismus im politikwissenschaftlichen Sinne – etwa durch Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen – seien sie aber gefeit: „All das Unappetitliche, das Extremistische und das Rechtsextreme, das die AfD anzieht, zum Teil verkörpert und bewusst schürt, sind die Freien Wähler definitiv nicht“, sagt Münch. 

Platz auf dem Wählermarkt

Ihren Erfolg in Bayern – 2018 holten die FW fast 12 Prozent – hat die Partei maßgeblich der CSU zu verdanken. Die FW profitierten von einer geschwächten CSU, die an den Wahlurnen teils für die Flüchtlingspolitik von Merkel abgestraft wurde. Man könnte sagen: Über Jahrzehnte hat die CSU genau jenen Acker bestellt, auf dem die FW heute gedeihen können. In den östlichen Bundesländern dagegen scheinen 3 Prozent die magische Grenze zu sein. „Die Freien Wähler im Osten sind eine Verlegenheitspartei für alle, welche die Union nicht mehr wählen mögen, die Grünen schon gleich gar nicht wollen, und denen die AfD zu krass ist“, sagt der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt. 

Patzelt glaubt an Platz auf dem Wählermarkt, weil die Bindekraft der etablierten Parteien zu gering geworden sei. Allerdings habe die AfD „aufgrund der für sie sehr günstigen politischen Großwetterlagen diese Nische im Osten stärker als alle anderen besetzt“. Hinzu kommt: Im Gegensatz zu Bayern gibt es etwa im Osten kein „Unions-Milieu“, das die FW mobilisieren könnten. Patzelt beschreibt es so: „Es gibt im Osten keine Partei wie die CSU in Bayern, die auch so stark im vorpolitischen Raum verankert ist. Selbst in Sachsen, wo die Union die Chance gehabt hätte, ein Unions-Milieu aufzubauen, hat sie sich niemals richtig darum gekümmert.“ 

Mehr Stimmen für die FDP bringt weniger für die FW

Das ist das eine. Das andere ist, dass die FDP wenige Monate vor der Bundestagswahl irgendwo um 12 Prozent liegt. Jede Stimme für die FDP ist potenziell eben eine weniger für die Freien Wähler. Patzelt sagt dennoch: „Es kann sehr wohl sein, dass die Freien Wähler auf Bundes­ebene über 5 Prozent kommen.“ Und weiter: „Steht die Union für die Fortsetzung des merkelschen Kurses? Und wenn nicht, was soll dann der Kurs der Union sein? Hier könnte eine Chance für die Freien Wähler liegen.“


Psychologisch wichtig für den Bundestagswahlkampf war für die Freien Wähler der Erfolg in Rheinland-Pfalz im März, wo die Partei mit knapp über 5 Prozent in den Landtag eingezogen ist. Kernthemen waren die schlechte finanzielle Lage der Kommunen im Bundesland, innere Sicherheit und Widerstand gegen allzu restriktive Maßnahmen bei der Corona-Bekämpfung. Mit diesen Themen, so Uwe Jun, Professor für Politikwissenschaft in Trier, hätten die FW bei den Wählern gepunktet. 

Viele Konjunktive

Auch Jun verfolgt die parteiinternen Diskussionen, die mit den bundespolitischen Ambitionen von Aiwanger und anderen einhergehen. „Man hat bei den Freien Wählern schon die Sorge, dass die kommunalpolitische Verankerung erodieren könnte, wenn man in den Bundestag einzieht“, sagt Jun und verweist auf deren Spitzenkandidat bei den vergangenen Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Joachim Streit. 

Der langjährige Bürgermeister von Bitburg und spätere Landrat hat seine Skepsis gegenüber einem Einzug der FW in den Bundestag bereits geäußert, doch gleichzeitig eingeräumt, dass es auch von Vorteil sein könnte, wenn die Partei stärker in die Bundespolitik hineinwirkt. Für eine Partei, die im September die Fünf-Prozent-Hürde nehmen will, schwingen da ein bisschen zu viele Konjunktive mit. Wie will man den Wähler überzeugen, wenn man nicht mal die eigenen Leute überzeugen kann? Und noch etwas lässt Jun am Erfolg der Freien Wähler im September zweifeln: „Fragen Sie mal jemanden in Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen, ob er Hubert Aiwanger kennt. Da stoßen die Freien Wähler an ihre Grenzen“, sagt er. „Die Freien Wähler haben keine Persönlichkeit, die auf Bundesebene stark wirkt.“

Keine leichte Aufgabe

Ihr Kreuz sollen die Bürger, geht es nach den FW, freilich trotzdem bei der Partei machen. Ihre potenzielle Wählerschaft lässt sich so beschreiben: In den Gemeinden werden die FW von Landwirten genauso gewählt wie von mittelständischen Unternehmern. Ihre avisierte Zielgruppe sind etwa Menschen, die sich ehrenamtlich im Fußballverein engagieren oder bei der Freiwilligen Feuerwehr. 

Im urbanen Raum soll ihr politischer Ansatz bei jenen verfangen, die ihren Stadtteil als Lebensraum begreifen, den sie aktiv mitgestalten wollen, die aber keine Linken sind. Die Schnittmengen mit den Wählerschaften der Union und der FDP sind offensichtlich. Liberale Geister wollen die Freien Wähler etwa durch ihre liberale Grundfärbung erreichen, die sie mit dem ebenso identitätsstiftenden Konservatismus in den eigenen Reihen zu versöhnen versuchen. Keine leichte Aufgabe.

Aiwangers Stellvertreter

Gregor Voht ist stellvertretender Bundesvorsitzender und Generalsekretär der FW, außerdem ihr Landesvorsitzender in Schleswig-Holstein. Er will, wie Aiwanger, im September in den Bundestag einziehen. Voht, Jahrgang 1990, wurde politisiert, wo tendenziell alle Freien Wähler politisiert werden: vor der eigenen Haustüre. Er meldet sich via Video-Call aus dem heimischen Wohnzimmer. Voht – unaufgeregte Frisur, bartloses Gesicht, Brille und Hemd – sieht aus wie einer, der auch gut zur Jungen Union passen würde. Seine politischen Überzeugungen, die er im Gespräch mit Cicero erläutert, klingen unterm Strich aber mehr nach FDP. 

Voht ist gelernter Speditionskaufmann und macht seit 2008 Kommunalpolitik in Lübeck. Auch als Reaktion auf die Lübecker CDU, die, sagt Voht, es damals trotz absoluter Mehrheit nicht einmal geschafft habe, Rad- und Fußwege zu sanieren. Rund 220.000 Menschen leben in der Großstadt, die über die Lübecker Bucht mit der Ostsee verbunden ist. Vohts Mutter ist Verwaltungsbeamtin, der Vater Handwerksmeister; bürgerliche Mitte also. Aufgewachsen ist er in Schlutup, einem ehemaligen Fischerdorf an der Trave, das heute ein Stadtteil von Lübeck ist. 

Stadt und Land

Die Probleme vor Ort gleichen vielfach jenen, die man aus anderen Städten kennt: Lübeck ist überschuldet, Wohnraum ist knapp und teuer, die Mobilitätswende geht nicht voran und Teile des Aufgabenbereichs der Kommunen wurden privatisiert, was immer wieder zu Verwerfungen mit Investoren führt, etwa rund um den teilprivatisierten Hafen. Voht sagt: „Was bei den ländlichen Freien Wählern das Lebensgefühl ist, ist bei den städtischen Freien Wählern das Sehnsuchtsgefühl.“ Mit dem gewachsenen Interesse junger Leute an der Politik etwa werde heute viel stärker gestritten, wie man die eigene Zukunft gestalten will. Und da kommen die FW ins Spiel: „In einer globalisierten Welt, in der einem alle Möglichkeiten offenstehen, ist es schon auch wichtig, dass man eine Verwurzelung hat, einen Rückzugsort“, sagt Voht. Dafür stehe seine Partei. 

Die Bundes-CDU nennt Voht einen „Kanzleramts-Wahlverein“, dem es in den vergangenen Monaten vor allem darum gegangen sei, wer Kanzler wird, nicht um Inhalte. Das offenbare, meint Voht, eine „gewisse Geisteshaltung“, bei der es „vorrangig darum geht, ein System, das man über Jahrzehnte aufgebaut hat, am Laufen zu halten“. Voht sagt: „Die CDU ist zu stark mit dem Staat verwachsen.“

Aufwind durch die Pandemie

Zum Angriff auf die CDU, aber nicht nur auf die, blasen die Freien Wähler mit einem 85-seitigen Wahlprogramm zur Bundestagswahl. Die FW fordern etwa klare Regeln für eine Einwanderung nach Deutschland und in die Europäische Union. „Die Flüchtlingspolitik der Großen Koalition war ein Fehler“, steht im Programm. Auch die Kritik der Partei an der Corona-­Politik der Bundesregierung setzt sich darin fort. 

Die FW trommeln schon länger gegen einschneidende Maßnahmen wie Ausgangssperren bei der Pandemiebekämpfung und die sogenannte „Bundes-­Notbremse“, klagten sogar dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht. Das hat ihnen bei der eigenen Bekanntheit in den vergangenen Monaten spürbar Aufwind gegeben. Im Wahlprogramm fordern sie nun ein „Entschädigungsgesetz für Lockdown-Betroffene“. Zudem wollen die FW kommunale Krankenhäuser ausbauen, Bürokratie abbauen, den Breiten- und Spitzensport sowie das Ehrenamt fördern. Auch die Familie und Lebensgemeinschaften, hetero- wie homosexuelle, sollen gestärkt werden.

Auf den 85 Seiten finden sich zudem echte Überraschungen. Die Partei gendert im Wahlprogramm mit Stern, was intern mal wieder für Diskussionen sorgte. Außerdem fordern die FW eine EU-Armee sowie eine liberale Drogenpolitik, inklusive der Legalisierung von Cannabis. Nur auf den ersten Blick überraschend ist dagegen, dass es im Wahlprogramm ein ausführliches Kapitel zum Klima- und Umweltschutz gibt.

Konservative Grüne?

Die Partei tritt für Grundwasser-, Meeres- und Küstenschutz ein, will den Flächenverbrauch reduzieren, auf Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit setzen, Lebensmittelverschwendung stoppen, eine CO2-Kennzeichnung auf Nahrungsmitteln durchsetzen und die „Plastikflut stoppen“. Außerdem begrüßen die FW den Atomausstieg und wollen mehr Geld in die Entwicklung erneuerbarer Energien pumpen. Beim Thema Mobilität setzen sie vor allem auf Wasserstoff. Es gibt also Teile in ihrem Wahlprogramm, die sich einer progressiven Wählerschaft problemlos als Forderungen der Grünen unterjubeln lassen. Die Losung ist simpel: Wer die Heimat bewahren will, muss sie auch schützen. 

Sind die Freien Wähler also die konservativen Grünen? Annette Hauser-Felberbaum sagt: „Wir sind die besseren Grünen, weil wir unsere Politik bis zu Ende denken.“ Man muss die Menschen mitnehmen, sie nicht durch Verbote abschrecken, findet Hauser-Felberbaum. „Auch ich bin für den Kohleausstieg, aber man muss bei den Entscheidungen auch daran denken, dass die Beschäftigten nicht auf der Strecke bleiben.“

Weitere Mosaiksteine, aber kein klares Bild

Hauser-Felberbaum ist gebürtige Heidelbergerin und in Köln aufgewachsen. Sie ist gelernte Klavier- und Cembalobauerin und studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre. Eine Begegnung habe sie besonders geprägt, erzählt sie im Gespräch mit Cicero: die mit dem Komponisten, Dirigenten und Pianisten Leonard Bernstein. Eine Firma, die sie einst in Mailand leitete, lieh Bernstein einen Flügel für Konzerte, sie besuchte den Musiker zu Hause und stimmte die Tasten. In die Politik ging Hauser-Felberbaum nach einem Streit mit dem Gymnasium ihrer Tochter. Der entzündete sich an einer Abiturklausur im Fach Mathematik und einer gescheiterten mündlichen Zusatzprüfung.

Hauser-Felberbaum zog vor das Verwaltungsgericht Augsburg und bekam Recht. Ihre Tochter durfte die Prüfung wiederholen, entschied das Gericht 2013. Kurz darauf trat sie den Freien Wählern bei. Seit 2020 sitzt Hauser-Felberbaum für die Partei im Stadtrat von Kempten. Auf der bayerischen Landesliste zur Bundestagswahl kandidiert sie auf dem Landeslistenplatz zwei, direkt hinter Aiwanger. Sollten die FW die Fünf-Prozent-Hürde nehmen, zieht sie sicher in den Bundestag ein.

Wer glaubt, jedes Gespräch über und mit den Freien Wählern sei ein weiterer Mosaikstein, um am Ende ein klares Bild der FW zu sehen, irrt. Die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin im Sommer 2015 fand sie „damals grundsätzlich richtig“, wie Hauser-Felberbaum sagt: „Ich finde schon, dass man Menschen helfen muss, dass man nicht sagen kann, man lässt sie jetzt einfach in den Lagern und wir haben damit nichts zu tun.“

„Vetternwirtschaft ist ein No-Go“

Gleichberechtigung und Chancengleichheit seien ihr wichtig, sagt die Stadträtin. „Ganz wesentlich“ aber sei, dass ihre Partei keine Spenden von Konzernen oder Vereinen annehme. Dass die CSU-Politiker Georg Nüßlein und Alfred Sauter bei Maskendeals ordentlich kassiert haben sollen, macht sie sichtlich wütend. „Diese ganze Vetternwirtschaft bei den etablierten politischen Parteien, die ist für mich ein No-Go“, sagt Hauser-Felberbaum. Da ist er wieder, der kleinste gemeinsame Nenner, also die große Skepsis gegenüber den etablierten Parteien. 

Dass es darüber hinaus interne Diskussionen um Positionen oder Ambitionen gibt, stört Hauser-Felberbaum nicht. Die Kandidatin aus Kempten gibt mehr noch offen zu, dass sie nicht alle Positionen teile, die im Wahlprogramm stehen: „Als Freie Wähler, und deshalb sind wir Freie Wähler, können wir durchaus verschiedener Meinung sein.“ Hauser-Felberbaum sagt: „Jeder muss in der Politik seinen eigenen Weg gehen.“ 

Ungewöhnliche Vorbilder

Der Weg von Hubert Aiwanger führt den bayerischen Wirtschaftsminister am Ende eines langen Tages in Rottenburg an der Laaber noch hinaus in den Wald. Aiwanger hat eigene Wälder. In anderen hilft er als Jäger, den Wildbestand zu regulieren. Sein Bruder Helmut betreibt in Rottenburg einen Waffenladen. Wer will, kann sich von Aiwanger die Vorteile der Dreieckssaat erklären lassen, oder wann der Jäger auf dem Hochsitz zu sein hat, um Rehe und Wildschweine zu schießen. 

Wer Aiwanger nach Vorbildern fragt, bekommt ungewöhnliche Antworten: Seine Vorbilder seien keine Politiker, sondern die Helden seiner Kindheit, erzählt er, Winnetou und Robin Hood. Das ließe sich freilich belächeln. Aber es sagt auch viel über das Selbstverständnis der Freien Wähler aus, die sich auf einer höheren politischen Mission für den kleinen Mann und die kleine Frau meinen. Im Bundestag will die Partei laut Aiwanger etwa nicht weniger verteidigen als die Freiheit des Einzelnen oder eben das, was man bei den FW darunter versteht. 

Daheim in Rottenburg

Political Correctness sieht Aiwanger als Gefahr für die Demokratie, in der jeder das Recht haben soll, findet er, zu sagen, was er denkt, und zu essen, was ihm schmeckt. „Wir dürfen die Freiheitsrechte der Bürger nicht ohne Not aufgrund von ideologischen Debatten einschränken“, sagt Aiwanger, während er im Wald sitzend immer wieder kleine Stöckchen vom Boden nimmt, um sie zwischen den Fingern seiner rechten Hand hindurchgleiten zu lassen. 

Während er das tut und in ruhigem Ton spricht, wirkt Aiwanger eigentlich wie einer, der nie vorhatte, bayerischer Wirtschaftsminister zu werden. Einer, der lieber daheim in Rottenburg geblieben wäre, bei seinen Leuten und Wäldern. Einer, der nie vorhatte, für eine Partei nach Berlin zu gehen. So wie die Freien Wähler eigentlich nie vorhatten, eine Partei zu sein, und es nun doch geworden sind. Im September wird sich zeigen, ob bald die nächste Etappe ihrer politischen Reise beginnt. Noch fehlen 2 Prozent.

 

Dieser Text stammt aus dem Sonderheft zur Bundestagswahl des Cicero, das Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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