Fortschrittsrhetorik - Es regiert der Weltgeist

Nicht nur der Titel des Koalitionsvertrages, auch Bundeskanzler Scholz beschwor in seiner Regierungserklärung einmal mehr den Fortschritt. Doch dieser Fortschrittsrhetorik liegt ein naives Geschichtsbild zu Grunde. Vor allem basiert sie auf der Umdeutung subjektiver politischer Ziele in objektive menschheitsgeschichtliche Errungenschaften. Aber das ist natürlich Nonsens.

Wer gesellschaftlichen Fortschritt für sich reklamiert, nimmt für seine Ideen Alternativlosigkeit in Anspruch / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Irgendwann fiel es dann doch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, das F-Wort: Fortschritt. „Wir brauchen Fortschritt, denn die Aufgaben sind riesengroß“, verkündete Scholz in seiner Rede. Der Sound ist nicht neu. Seit sich die Arbeiterbewegung in den 1850er Jahren formierte, war man bei der Sozialdemokratie stets der festen Überzeugung, man selbst sei Ausdruck des Fortschritts – symbolisiert durch roten Fahnen, die von der Morgenröte jener Zukunft künden, in die man frohen Mutes marschiert.

Dieser reichlich naive Fortschrittsbegriff ist eine Erfindung der Aufklärung. Wie kein anderer hat diesen etwas blauäugigen Fortschrittsglauben der Philosoph und Mathematiker Marquis de Condorcet auf den Punkt gebracht, als er jubelte: „Die Fortschritte in den Wissenschaften sichern die Fortschritte in der Technik des Unterrichts, die wiederum die Wissenschaften beschleunigen; und dieser wechselseitige Einfluss (...) muss zu den nachhaltigsten und mächtigsten Ursachen der Vervollkommnung des Menschengeschlechts gerechnet werden“. Condorcet schrieb diese Zeilen übrigens 1793, im Versteck vor den Schergen Robespierres und wenige Monate vor seiner Verhaftung, die ihm den Tod brachte – soviel zur Vervollkommnung des Menschengeschlechts.

Wir sind nicht moralischer als früher

Der gedankliche Fehler des sich aufgeklärt wähnenden Denkens ist es, das Konzept des Fortschritts von technischen Verbesserungen auf die Geschichte oder gar die Moral zu übertragen. Technische Geräte können verbessert werden, und diese Verbesserungen lassen sich metaphorisch als „Fortschreiten“ begreifen. Gesellschaften aber oder moralische Überzeugungen werden nicht besser. Sie verändern sich zwar, doch es gibt keinen moralischen Fortschritt. Auch wenn viele das Gegenteil behaupten: Unsere Gesellschaften des 21. Jahrhunderts sind nicht moralisch fortschrittlicher als die des 13. Jahrhunderts, sie sind lediglich anders. Und dieser Wandel hat viel mit technischen und ökonomischen Veränderungen zu tun, weniger mit moralischer Erkenntnis.

Dennoch hat sich die Idee des objektiven gesellschaftlichen Fortschritts tief in die Sprache und das Denken der Moderne eingegraben. Sie ist so etwas wie ihre Selbstrechtfertigung. Die Moderne will nicht nur technisch besser, sie will auch moralisch höherstehend sein. Allein diese Wahnvorstellung zeigt schon die Fragwürdigkeit dieser Selbstbeweihräucherung und ihren Selbstwiderspruch. Zudem ist die Fetischisierung des Fortschritts in der Moderne Ausdruck eines sehr linearen und deterministischen Weltbildes. Es gibt nur eine Richtung: nach vorne. Das Ziel der Geschichte – nach aktueller Lesart eine multikulturelle, diverse, heterogene, fluide Weltgesellschaft – ist unabwendbar. Früher oder später wird sie Wirklichkeit werden, da sie das finale Ziel der Geschichte ist.

Heilsgeschichtliche Endziele

Spätestens an diesem Punkt entlarvt sich die Rede vom Fortschritt als rhetorische Floskel, mit deren Hilfe die eigenen Wertvorstellungen in den Rang metaphysischer Tatsachen gehoben werden sollen. Im Gärbecken der Fortschrittssemantik mutieren irgendwelche politische Ideen zu heilgeschichtlichen Endzielen.
Die Scholz’sche Beschwörung des Fortschritts ist daher ebenso wie der Titel des Koalitionsvertrages („Mehr Fortschritt wagen“) nicht nur eine sentimentale Reminiszenz an Willy Brandts berühmt gewordene Regierungserklärung vom Oktober 1969. Sie ist im Kern der Versuch, die Ziele der Regierung als Ausdruck geschichtlicher Gesetze auszugeben. Sie sind nicht einfach ideologiebedingte Ideen, sondern objektive, im Grunde unvermeidbare Konzepte zur Verbesserung der Welt. Wer sich ihnen entgegenstellt, befindet sich in einem grundlegenden historischen Irrtum hinsichtlich der Ziele des Menschseins auf Erden.

Doch Fortschritt kann es allenfalls in den Wissenschaften geben oder in der Technik. Wer gesellschaftlichen Fortschritt für sich reklamiert, ist intellektuell unredlich und nimmt für sich und seine Ideen Alternativlosigkeit in Anspruch. Gleichzeitig delegitimiert er den politischen Gegner moralisch und intellektuell. Das ist als Versuch natürlich statthaft. Er sollte allerdings nicht unwidersprochen bleiben: die Vorhaben dieser Regierung sind Ziele, die aufgrund ideologischer Vorgaben getroffen wurden, nicht aber Ausdruck des Weltgeistes.

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