Folgen der Corona-Politik - Die Demokratie leidet unter „Long Covid“

Der Ausnahmezustand der Pandemie läuft demnächst aus. Viele werten das als Erfolg. Doch wenn der gesellschaftliche Scherbenhaufen aus Polarisierung, Vertrauensverlust und wirtschaftlichen Kollateralschäden tatsächlich einen Erfolg darstellt, bleibt zu hoffen, dass wir von vergleichbaren Erfolgen künftig verschont bleiben.

Mitdiskutieren durfte nur, wer die Grundannahmen des Diskurses nicht in Frage stellte / dpa
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Autoreninfo

Michael Bröning ist Politikwissenschaftler und Publizist. 2021 erschien von ihm: „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“ (Dietz).

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Die Welt steuert auf die endemische Phase von Covid zu. Fallzahlen gehen zurück, die Krankenhäuser nähern sich den dysfunktionalen Zuständen der Vor-Corona-Zeit an, und selbst in den Tageszeitungen finden sich mittlerweile mit einiger Regelmäßigkeit nicht nur Covid Meldungen an prominenter Stelle. Mitte März sollen in Deutschland die allermeisten Beschränkungen fallen – so hat es die Bundesregierung beschlossen.

Einerseits ist das ein Grund zur Freude – und auch für vorsichtigen Optimismus. Anders als von Rechtsaußen befürchtet, wurde die Demokratie im Namen der Virusbekämpfung eben nicht dauerhaft abgeräumt. Eine Corona-Diktatur – das müssen nun selbst die größten Skeptiker einsehen – war und wird ein überzogenes Schreckgespenst bleiben. Doch hat die Demokratie den „Stresstest der Pandemie“ tatsächlich bravourös bestanden?
 
Unter gewöhnlichen Bedingungen wäre nun eine Phase der selbstkritischen Auseinandersetzung mit den getroffenen „Maßnahmen“ zu erwarten. Wo wurde unter- und wo überreagiert? Welche Lehren lassen sich ziehen – und welche eben nicht? Doch diese Fragen werden bislang weder gestellt noch auch nur in Ansätzen debattiert. Und ohne öffentlichen Druck dürfte das auch so bleiben. Zu rechnen ist eher mit einer Schwamm-Drüber-Erleichterung – sofern nicht eine neue Virusmutante jeder Öffnung einen Strich durch die Rechnung macht.

Ein rückwirkendes kollektives Schulterzucken aber wäre verhängnisvoll. Parkbankverbote im Grünen, Ausgangssperren, pauschale Grenzschließungen, Besuchsverbote bei Sterbenden, die Unterordnung sämtlicher Lebensbereiche unter ein Primat der Sicherheit – und all die weitgehend sinnlose Theatralik von Stoffmasken und Oberflächendesinfektionen bis zu Begrüßungs-Fistbumps. Nicht jede dieser Verirrungen hatte gravierende Folgen. Doch auch die Gewöhnung an leere Rituale ist nicht folgenlos.

Schweden und Florida: Unbequeme Wahrheiten

Ganz zu schweigen von den Auswucherungen einer Pandemie-Bürokratie mit verästelten Wenn-dann-Anweisungen, allgegenwärtigen Kontrollmechanismen und einem ganz eigenen Paragraphendickicht. Der Autor dieser Zeilen erhielt Anfang der Woche die Einladung zu einer Veranstaltung, in der die „aktuelle SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in der Fassung der Fünften Verordnung zur Änderung der Vierten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 8. Februar 2022 selbstverständlich berücksichtigt“ werde. Wo war noch gleich der Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars?

Auch eine kritische Bilanz der politischen Ziele der Pandemiepolitik ist überfällig. Ein zweiwöchiges „Flattening the Curve“ mündete bekanntlich in eine 24-monatige „Build Back Better" Fantasie. Ein naheliegender Impuls. Doch längst deutet sich an, dass in diesem Prozess meist nur die besser gestellt wurden, die ohnehin bereits auf dem gesellschaftlichen Sonnendeck unterwegs waren.

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“, gab Jens Spahn schon vor Monaten als Devise aus. Zumindest diese Prognose eines Bundesgesundheitsministers dürfte sich tatsächlich einmal als korrekt erweisen. Denn die wenigen Ausreißer des pandemischen Gruppendenkens wie etwa in Schweden oder in einzelnen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten belegen seit Monaten, dass Opferzahlen ganz ohne das Abräumen bürgerlicher Freiheiten begrenzt werden konnten. Und ohne die Traumatisierung einer ganzen Generation von Kindern und Jugendlichen.

Hysterische öffentliche Reaktion

Wenn der Blick auf die Ausreißer geweitet wird, entsteht in der Rückschau auf zwei Jahre Ausnahmezustand das Bild einer nicht nur historischen, sondern in Teilen der öffentlichen Debatte eben auch hysterischen Reaktion – und zwar auf beiden Seiten der gesellschaftlichen Frontstellung.

Dabei ist auch richtig, dass vor allem in der Anfangszeit der Pandemie politisches Handeln gefordert war. Deswegen geht es jetzt nicht darum, einzelnen Verantwortungsträgern Fehler beim Lösen von Gleichungen mit mehreren Unbekannten vorzuhalten. Bewertet werden müssen nicht die Akteure, sondern die Aktionen und die systemischen Fragen der gesellschaftlichen Abwägungsprozesse. Aber gerade hier sollte die Kritik an vor-pandemische Standards anknüpfen.

Es ist ja fast vergessen: Weder die Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch die Fachgemeinschaft von Gesundheitsexperten rieten vor Covid jemals zu umfassenden Lockdowns als Maßnahme der Gesundheitspolitik. Doch dann kamen die Bilder – zunächst aus Wuhan, dann aus Bergamo und schließlich aus New York. Und vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen parteipolitischen Aufladungen wurden Reflexionen über Nacht von pauschalen Reflexen abgelöst.

Dieses Muster aber ist es, das aktuell ein so großes Fragezeichen hinter die kommunikative Fähigkeit unserer Gesellschaften setzt. Sind wir in Zeiten von Krisen überhaupt noch in der Lage, so etwas wie eine rational abwägende gesellschaftliche Debatte zu organisieren? Wie können wir sicherstellen, dass in künftigen Herausforderungen Dissens und Skepsis nicht ebenfalls über Nacht in den Fleischwolf der ewig weiter eskalierenden Kulturkämpfe wandern?

Jede Kritik als „Geschwurbel“ diskreditiert

Um nicht missverstanden zu werden: Ja, Covid-19 war und ist eine ernsthafte Erkrankung. Die Gefahr aber war und ist nicht absolut. Nur: Fast jede deeskalierende und differenzierte Bedrohungsanalyse wurde durch Bilder ausgehebelt, von deren Einfluss sich die Politik nicht abschirmen konnte. Oder dies zumindest befürchtete.

Die Ubiquität der Vernetzung unter den Bedingungen der Polarisierung schuf einen politischen Anpassungsdruck, der ein verhängnisvolles politisches Schwarmverhalten zur Folge hatte. Diesem konnten sich Entscheidungsträger gleich ob in Politik, Wirtschaft oder Medien nur unter großem Risiko entziehen. Fast jedes Infragestellen wurde zum karriereschädigenden „Geschwurbel“, zum verantwortungslosen „Raunen“ oder gleich zum gefährlichen Verrat an Wissenschaft und Rationalität. Der US-Politikwissenschaftler Yascha Mounk spricht in diesem Zusammenhang von 180°-Politik, die gleichförmiges Lagerdenken befördert und dabei die Wahrheitsfindung massiv erschwert.

Im Resultat wurde alternative Ansätze weitgehend undenk- und unartikulierbar. Statt um das Ausloten von Alternativen ging es um das Bestehen im aktuellen News-Cycle, an dem aber eben nur teilnehmen konnte, wer die Grundannahmen des Diskurses nicht mehr in Frage stellte. Die „falsche Balance“, nicht die Voreingenommenheit, geriet in Teilen westlicher Medien zur neuen journalistischen Kardinalsünde.  

Immer neue Permutationen der Alternativlosigkeit

Besonders bedenklich dabei ist, dass diese Muster der Krisenreaktion eben nicht nur in Bezug auf die Pandemie festzustellen sind. Waren nicht vergleichbare Polarisierungen auch in anderen Krisen zu beobachten – sei es zum Thema Flucht und Migration oder beim Klimawandel? In weiten Teilen des politischen Raums scheint auf Handlungsdruck mittlerweile fast routinemäßig mit immer neuen Permutationen der Alternativlosigkeit reagiert zu werden. Die Folge ist ein gefährlicher Trend der reflexhaften Komplexitätsverweigerung, die sich niemals selbst als solche erkennen kann.

Wenn die Erfahrungen aus zwei Jahren Pandemie in westlichen Demokratien deshalb jetzt tatsächlich als Leitfaden für die Zukunft herangezogen würden – wie dies ja nicht zuletzt von progressiver Seite wiederholt gefordert wurde –, bleibt nur begrenzter Raum für Zuversicht. Nein, zumindest in westlichen Gesellschaften ist die Demokratie nicht gescheitert. Doch statt der erhofften Erneuerung kam es zu umfassenden Erschütterungen.

Das Vertrauen in die antiautoritäre Widerstandskraft westlicher Demokratien wurde dabei ebenso zerrüttet wie das Zutrauen in die Fähigkeit der politischen Selbstbeschränkung. Zuversicht in die Kraft des Diskurses offener Gesellschaften wurde in dem Maße erschüttert, in dem die Grundannahme in die Kompetenz rational-objektiven Regierungshandelns mit einem Fragezeichen versehen werden musste. Das aber ist ein massiv demokratieschädigendes Vermächtnis – kein erfolgreicher Stresstest. Wenn der aktuell zu besichtigende Scherbenhaufen aus Polarisierung, Vertrauensverlust und ökonomischen Kollateralschäden tatsächlich eine Errungenschaft darstellt, bleibt zu hoffen, dass wir von weiteren Erfolgen verschont bleiben.

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