Die EU ordert Corona-Impfdosen nach - Der Impfstoff als Sehnsuchtstropfen

Der Impfstoff ist in Deutschland und der EU, was die Südfrucht in der DDR war: ein Sehnsuchtsstoff, der vor allem in der Phantasie existiert. Die Europäer sind mit Mangelverwaltung und Blame Game beschäftigt, während die Briten im Akkord impfen. Hatten die Brexiteers am Ende recht?

Ursula von der Leyen tut so, als habe die EU in Sachen Corona-Impfstoff alles richtig gemacht / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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EU-Kommissarin Ursula von der Leyen versteht sich auf die große Geste und das große Wort, gleichermaßen wohlgesetzt in feinstem Englisch wie in ihrer Muttersprache. Vor dem Wochenende hat sie nun kundgetan, dass weitere 300 Millionen Corona-Impfdosen seitens der EU bestellt würden, und dass aber dennoch alles richtig gemacht worden sei im Verbund der Länder. Gesundheitsminister Jens Spahn übt sich derweil im nationalen Alleingang und beschafft zusätzlichen Impfstoff durch den Aufbau von Produktionsstätten in Deutschland. 

Was wie eine Entlastung gegen den Vorwurf des Versagens beim Impfstart aussieht, erweist sich als Eingeständnis, dass alle Vorwürfe richtig waren. Denn die zusätzlichen Dosen helfen jetzt gegen die gähnende Leere in den Impfzentren gar nichts. Sie kommen erst im Sommer, wenn die ganze Welt in Impfstoff schwimmen wird. Es ist in etwa so, als gäbe es in einem heißen Sommer keine kurzen Hosen und die Bekleidungsindustrie verspricht Shorts für den November.

Die Attacke der SPD

Es mag unfein sein, dass die SPD als Koalitionspartner diesen Missstand beklagt. In der Sache hat sie aber recht. Und in der Bevölkerung greift dieser Vorstoß auf die mitregierende CDU mehr als das Ausscheren aus der Kabinettsdisziplin in Sachen Kampfdrohne. Sie ist unmittelbarer betroffen, und alle, die dieses Impfdebakel zu verantworten haben, kommen aus der CDU: die Kanzlerin, die EU-Kommissarin und der Gesundheitsminister.   

Fest steht: Anderswo läuft es deutlich besser. Als vor knapp fünf Jahren eine hauchdünne Mehrheit der Briten für einen Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union stimmte, fiel dieses Referendum in die Hochphase der Flüchtlingskrise. Viele sahen damals einen Zusammenhang zwischen dem Alleingang einer deutschen Bundeskanzlerin und dem Ausgang der Abstimmung, weil die Furcht vor zu vielen Migranten als entscheidendes Quäntchen zur ohnehin existierenden EU-Skepsis der Insulaner jenseits des Kanals hinzukam. 

Vorteil Großbritannien

Jetzt fällt der endgültige Vollzug des Brexit in die Phase des vorläufigen Zenits der Corona-Pandemie, und auch hier sind die Zusammenhänge und vor allem die Wechselwirkungen größer, als sie zunächst scheinen. Und größer als sie uns Kontinentaleuropäern lieb sein können.

Denn Tatsache ist: Der britische Premier mag am Anfang im Kampf gegen das Virus alles falsch gemacht haben. Im entscheidenden Moment, in dem das Virus wie nie grassiert und der erlösende Impfstofff endlich da ist, hat Boris Johnson alles richtig gemacht. Während hierzulande und noch schlimmer in Ländern wie Frankreich Impfzentren leer stehen, weil kein Vakzin da ist, impfen die Briten millionenfach gegen das Virus an. Die britische Regierung hatte sich Kaufoptionen auf alle erwartbaren Präparate gesichert und dabei in Kauf genommen, dass die eine oder andere Milliarde in einem Fehlkauf verpulvert sein würde. Und sich mit diesem Prinzip „Viel hilft viel“ mehr Impfdosen des Präparats von Biontech und Pfizer gesichert als die ganze Europäische Union zusammen.  

Deutschlands doppelter Schaden

Die Europäische Union und auch Deutschland haben dadurch einen doppelten Schaden. Der erste Schaden liegt in der Sache selbst. Während in Großbritannien absehbar bald alle besonders gefährdeten Menschen unter den Schutzschirm des Impfstoffes geschlüpft sind, bangen sich bei uns die Alten und Vorerkrankten zu ihrem Impftermin - immer in der Hoffnung, dass das Telefon nicht klingelt und er wegen fehlenden Impfstoffes abgesagt wird. Und immer in der Hoffnung, dass das aufgeflammte Virus bis zum erlösenden ersten Piks nicht noch im letzten Augenblick zuschlägt. Der Impfstoff ist im Deutschland des Januar 2021, was die Südfrucht in der DDR war: Ein Desiderat, ein Sehnsuchtsstoff, der mehr in der Phantasie als in der Realität existierte. Mit dem feinen Unterschied, dass das eine ein Luxusgut ist, das andere lebensrettend.  

Das ist schon bitter und schlimm genug. Der politische Schaden ist aber noch weit schlimmer. Oder kommt obendrauf. Denn die Brexiteers haben jahrelang argumentiert: Out of Europe -  and we are better off. Raus aus der EU und es geht uns besser. Wir sind dann flexibler, können mehr auf unsere eigenen Interessen achten und müssen uns nicht von einer langsamen und regelwütigen Bürokratie Krümmungen von Gurken vorschreiben lassen. Immer haben sie das gesagt. Ich habe es selbst mehrere Male vom britischen Botschafter in Berlin gehört, der selbst gar kein Freund des Ausstiegs war, aber natürlich die Regierungslinie vertreten musste. 

Es geht nicht um die Gurkenkrümmung

Und jetzt erweist sich, nicht bei einer Banalität wie der Form eines Gemüses, sondern beim Zulassen und Beschaffen eines lebenswichtigen medizinischen Präparats diese Argumentation als scheinbar oder tatsächlich richtig. Die Briten sind keine zehn Tage von den empfundenen Fesseln der EU befreit und haben schneller gehandelt und sind besser dran. Better off. Schwimmen in Impfstoff, piksen in abertausende von Oberarmen. Während unterdessen in der Europäischen Union der Mangel verwaltet wird und alle mit dem Blame Game, dem Hin- und Herschieben der Verantwortung für dieses Debakel beschäftigt sind.  

Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob dieser Vorteil, dieser Vorsprung beim Impfen, scheinbar oder tatsächlich auf die wiedererlangte Unabhängigkeit zurückzuführen ist. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse wird bei vielen EU-Skeptikern auf dem Kontinent dazu führen, dass sie sich in ihren Vorbehalten bestätigt sehen. Zumal der angekündigte logistische Kollaps ebenso einstweilen ausbleibt wie lange LKW-Schlangen in Calais und Dover oder der sofortige Einbruch von Börse und Wirtschaft auf der Insel. 

Separationsgelüste werden stärker

Daher ist der fehlende Impfstoff in der EU ein doppeltes Desaster. Ein medizinisches im Kampf gegen die schlimmste Seuche, die wir seit Jahrhunderten auf diesem Kontinent gesehen haben. Und ein politisches, weil es die Fliehkräfte und Separationsgelüste in ohnehin europafrustrierten Ländern stärken wird. Großbritannien in diesen Tagen zeigt, oder scheint jedenfalls zu zeigen: Es gibt ein Leben nach der Mitgliedschaft. Und es kann sogar ein besseres sein. 

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