Epidemische Lage von nationaler Tragweite - Ein Spiel mit dem Feuer

Obwohl die Inzidenzen steigen, Intensivbetten und Fachkräfte fehlen, verkünden Vertreter der künftigen Ampelkoalition für den 25. November 2021 das Ende der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Doch wer seinen Bürgern Freiheiten verspricht, muss auch eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern.

Eine Mitarbeiterin der Pflege auf der Corona-Intensivstation des Universitätsklinikums Essen / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Es war ein selbstbewusster Auftritt, als drei Vertreter der künftigen Ampelkoalition vor der Bundespressekonferenz für den 25. November 2021 das Ende der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ verkündeten. Sie reagierten damit auf Äußerungen des scheidenden Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU), der sich zuvor ganz ähnlich geäußert und eine entsprechende Debatte losgetreten hatte. Der einzige Unterschied: Er wird die möglichen Folgen dieser Entscheidung nicht mehr zu verantworten haben.

Ein „freedom day“ nach sozialistischer Planung

Gewiss, die Lage hat sich gegenüber dem Vorjahr deutlich geändert. Rund 80 Prozent der deutschen Erwachsenen sind nunmehr geimpft. Und je mehr es gelingt, die Infektionsfolgen zu bewältigen, um so schwächer ist die Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe.

Mit dem 25. November 2021 sollen daher die härtesten Maßnahmen aus dem Infektionsschutzgesetz gestrichen werden: Lockdowns, Schulschließungen und Reiseverbote beispielsweise. „Schulschließungen, Lockdowns und Ausgangssperren wird es mit uns nicht mehr geben“, legte sich der SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese apodiktisch fest. Andere Möglichkeiten der Einschränkung wie Maskenpflicht, 3/2G-Regeln oder Hygienekonzepte bleiben allerdings je nach Infektionslage in den Ländern erhalten, um den steigenden Infektionszahlen des Winters begegnen zu können.

Der von der Kassenärztlichen Vereinigung geforderte „freedom day“ sei der 25. November 2021 somit nicht. Den verlegten die Ampelvertreter auf das nächste Jahr. In den Parteizentralen von SPD, Grünen und FDP weiß man offenbar schon heute ganz genau, wann die Pandemie endgültig besiegt sein wird. Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP jedenfalls, Marco Buschmann, ging ein großes politisches Risiko ein, als er sich festlegte, dass „ein absolutes Ende aller Maßnahmen“ am 20. März 2022 erreicht werde.

Gefahr des medizinischen Engpasses wird größer

Das alles erinnert ein wenig an den Herbst des letzten Jahres. Während die Bundeskanzlerin immer wieder erfolglos zu drastischen Maßnahmen aufrief, verstrickten sich die Ministerpräsidenten Woche um Woche in endlose Diskussionen. Kaum jemand wollte unangenehme Entscheidungen treffen. Erst, als die Infektionszahlen regelrecht explodierten und sich die Intensivstationen füllten, fand die deutsche Politik zu entschlossenem Handeln zurück.

Die Lage ist heute auch medizinisch gar nicht so anders als vor einem Jahr: Damals lag die Inzidenz bei einem Wert von 99, heute sind es bereits 145. Den höchsten Wert erreicht derzeit der Landkreis Mühldorf am Inn mit sage und schreibe 648. Während vor einem Jahr 1.839 Patienten auf den Intensivstationen wegen COVID19 behandelt wurden, sind es heute 1.932.

Aber es gibt auch zwei bedeutende Unterschiede, die die jetzige Lage nicht unbedingt einfacher machen. Vor einem Jahr waren die Patienten häufig Hochbetagte. Heute aber überwiegt der Anteil mittelalter Ungeimpfter, die sich häufig später als andere Altersgruppen in ärztliche Behandlung begeben, dadurch schwerer erkranken und deshalb länger die Betten belegen.

Weniger Intensivbetten als vor einem Jahr

Hinzu kommt die Tatsache, dass heute insgesamt rund 4.000 Intensivbetten weniger zur Verfügung stehen als noch vor einem Jahr. Viele Fachkräfte haben aufgrund der Belastung der letzten Monate die Intensivstationen verlassen. Die Folge: Die Gefahr eines medizinischen Engpasses bei deutlich ansteigenden Infektionszahlen ist nicht kleiner, sondern größer als vor einem Jahr.

Dazu dürfte am Ende auch die Bundespressekonferenz der Ampelkoalition beitragen. Zum Überdruss vieler Menschen, sich noch immer an Einschränkungen halten zu müssen, kommt nun das hochoffiziell verkündete Ende der Pandemie hinzu. Dass dies ohne Folgen im Verhalten der Menschen bleibt, darf als unwahrscheinlich gelten. Vermutlich werden die Infektionen nun noch schneller steigen, als es ohnehin der Fall gewesen wäre.

Folgerichtig äußerte sich Angela Merkel (CDU) daher „besorgt“ über die aktuelle Entwicklung und kann der Beendigung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ nicht viel abgewinnen. Rund 25 Millionen Deutsche sind derzeit noch unzureichend oder ungeimpft. Und das reicht für eine Überlastung des Gesundheitssystems spielend aus.

Fehlende Reservestrukturen an Krankenhäusern

Daher wäre es zumindest logisch gewesen, wenn die Ampelvertreter ebenso konsequent, wie sie die Pandemie am 20. März 2022 für beendet erklärten, konsequente Maßnahmen zur Stabilisierung des Gesundheitssystems beschlossen hätten. Immerhin findet sich im Sondierungspapier der künftigen Koalitionäre ein Hinweis, dass man das ungeliebte Fallpauschalensystem überarbeiten wolle. In welche Richtung, ist dem Text aber nicht zu entnehmen.

Dabei liegen die Schlussfolgerungen aus der COVID-Pandemie auf der Hand: Wer seinen Bürgern einen maximalen Freiheitsraum erhalten und zugleich eine Überlastung des Gesundheitssystem verhindern will, muss alle Krankenhäuser der Maximalversorgung besser als heute finanzieren, damit diese Reservestrukturen vorhalten können. Es wäre, wie der Chef der Berliner Charité einmal zutreffend sagte, dann wie bei der Feuerwehr: „Auch die wird finanziert, wenn es nicht brennt.“

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