Epidemiologe Scholz zu Corona in neuen Bundesländern - Warum hat der Osten die höchsten Corona-Inzidenzen?

Aktuell sind in Ostdeutschland die Corona-Zahlen am höchsten. Dabei ist die Mobilität der Menschen dort nicht höher. Der Leipziger Epidemiologe Markus Scholz erklärt im Interview, warum das Nachbarland Tschechien maßgeblich für den Pandemieverlauf im Osten verantwortlich sein dürfte.

Im Osten was Neues: die neuen Bundesländer sind am stärksten von der Pandemie betroffen / dpa
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Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Prof. Dr. Markus Scholz arbeitet an der Universität Leipzig am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie.

Herr Scholz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Ostbayern sind derzeit die Regionen mit den höchsten Corona-Inzidenzen. Hauptgrund soll der Nachbar Tschechien sein. Das Land hat die weltweit zweithöchste Inzidenz. Pendler aus Tschechien – vor allem Pfleger – sollen das Virus einschleppen. Stimmt das? Oder greift es zu kurz?

Das ist in der Tat eine der plausibelsten Theorien, die wir zu dem frühen Anstieg in Sachsen haben. Der Trend in den neuen Bundesländern ist sehr ähnlich; sie haben die gleiche Kurve der Pandemieentwicklung. Der einzige Unterschied ist, dass der Trend in Sachsen eher startete. Was dafür spricht, dass die Infektionen Einträge aus Tschechien sind, ist, dass die Zahlen in den grenznahen Kreisen zuerst zu steigen begannen. Das ist auch in Bayern so beobachtet worden. Man muss auch sagen, dass das Pandemie-Management in Tschechien eher schlecht ist. Dort sind schon länger hohe Zahlen zu beobachten.

Und von Tschechien kommt das Virus nach Deutschland?

Gut möglich. Wir wissen, dass es zwischen den Ländern viele Pendelbewegungen gibt. Viele fahren von Deutschland nach Tschechien zum Einkaufen, und aus Tschechien fahren die Leute nach Deutschland zum Arbeiten in der Gastronomie und Altenpflege. Und dort könnten die Einträge stattgefunden haben. Wir haben in Sachsen gesehen, dass in der Altersgruppe 80+ der Trend zum Anstieg begann. Das ist aber noch kein Beweis. Dazu fehlen uns genaue Daten.

Welche Daten fehlen?

Man müsste wissen, wie viel Pendelverkehr es genau gibt, oder ob es wirklich einen Zusammenhang zwischen tschechischen Pflegekräften und Ausbrüchen in Altersheimen gibt. All diese Daten stehen nicht strukturiert zur Verfügung. Somit bleibt es eine Theorie, die aber plausibel ist. Wir haben im Moment keine bessere Erklärung.

Werden die benötigten Daten irgendwann zur Verfügung stehen?

Das ist schwierig. Gerade in den neuen Bundesländern erfolgt die Kontaktverfolgung noch an vielen Stellen papierbasiert. Das sind dann unstrukturierte Daten, die für wissenschaftliche Auswertungen nicht nutzbar sind. Wir werben für die elektronische Erfassung, denn damit könnte man strukturiert auswerten.

Gilt das nur für Ostdeutschland oder ganz Deutschland?

Ich habe jetzt keinen Überblick, welche Kreise elektronisch oder manuell erfassen. Ich weiß nur, dass mehrere Kreise noch manuell vorgehen. Es gibt auch deutschlandweit verschiedene Erfassungssysteme. Die zu harmonisieren wäre eine wichtige Maßnahme. In den baltischen Ländern ist es komplett elektronisch.

Zu Beginn wurden die hohen Zahlen im Osten mit politischen Versagen begründet. Es wurden Parallelen zwischen AfD und Corona-Zahlen gezogen. Ist an diesem Vorwurf noch etwas dran, wenn die Infektionen wohl aus Tschechien kommen?

Natürlich gibt es dort auch Tendenzen, Maßnahmen zu verweigern. Aber ich bin vorsichtig, solche Kausalbeziehungen herzustellen. Wenn man solche Vergleiche zu verschiedenen Zeiten der Pandemie gemacht hätte, wären immer andere Ergebnisse herausgekommen. Eine Zeit lang waren die Zahlen in Berlin und Bremen hoch. Da wären dann linke Parteien verantwortlich gewesen. Sachsen war eine Zeit lang Musterschüler; da hätte man sagen müssen, dass die AfD spitze ist. Es ist gefährlich, solche Beobachtungen als ursächlich zu sehen. Es gibt Corona-Leugner Bewegungen, aber es gibt keinen Beweis, dass sie für den hohen Anstieg hauptsächlich verantwortlich sind. Ein Grund könnte aber sein, dass die östlichen Bundesländer in der ersten Welle kaum betroffen waren und sich somit ein laxerer Umgang mit den Maßnahmen eingestellt hat, das Problem also unterschätzt wurde. Wenn wir die Mobilität vergleichen, sehen wir, dass es da keine wesentlichen Unterschiede zwischen neuen und alten Bundesländern gibt. 

Markus Scholz / privat

Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut forderte, dass beim Lockdown nachgeschärft werden müsse. Müsste man in Ostdeutschland extra nachschärfen?

Also speziell in Sachsen sehen wir einen leichten Rückgang. Wir sind gar nicht so pessimistisch. Zumindest hat sich herausgestellt, dass der Weihnachtseffekt nicht nachweisbar ist. Bei Silvester wissen wir es noch nicht, aber Weihnachten hat zumindest nicht zu einer Beschleunigung der Infektionen geführt. Man kann aber sagen, dass der Rückgang nicht schnell genug geht. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass bundesweit über weitere Verschärfungen nachgedacht wird.

Und was würde man jetzt noch verschärfen?

Wir wissen leider durch die fehlende elektronische Erfassung nicht, wo sich die Leute wirklich anstecken. Aber nach dem Ausschlussprinzip bleiben jetzt nur noch der öffentliche Personennahverkehr und die Arbeit. Dort, wo es möglich ist, sollte deshalb das Home-Office konsequent angewendet werden.

Denken Sie, dass da noch viel rauszuholen ist?

Zum Beispiel in Behörden muss es möglich sein, dass auch die im Home-Office arbeiten können. Es gibt durchaus Bereiche, in denen das Homeoffice noch intensiviert werden kann. Es gibt natürlich produzierende Bereiche, wo dies nicht geht. Diese zu schließen wäre aufgrund der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen nur als letztes Mittel zu sehen.

Und was könnte man beim Öffentlichen Personennahverkehr noch machen?

In Bayern gibt es die Pflicht zum Tragen einer FFP2 Maske. Es ist aber nicht einfach, die Maske richtig aufzusetzen. Da werden viele dran scheitern. Viele ziehen sich nicht einmal die Alltagsmaske über die Nase. Ich würde deshalb eher eine Empfehlung für FFP2-Masken anstatt einer Pflicht für sinnvoll halten. Diese Masken sind eine sinnvolle Sache, aber nur, wenn man sie richtig nutzt. Zudem sind sie für ein Wegwerfprodukt auch nicht ganz billig. Die müsste man dann zur Verfügung stellen, wenn man sie verpflichtend tragen muss. 

Wie sollte man jetzt gegenüber Tschechien handeln?

Jetzt kann man leider nicht mehr viel korrigieren. Epidemiologisch ist eine Grenzschließung sinnvoll, wenn es starke Inzidenzunterschiede zwischen den Ländern sowie einen regen Pendelverkehr gibt. Ich weiß, dass das politisch schwer ist. Für die Berufspendler könnte man deshalb mehr Schnelltests einsetzen. 100 Prozent sicher sind auch die nicht, aber besser, als die Grenze komplett zu schließen.

Aus der Politik heißt es oft, dass Corona eine Jahrhundertaufgabe sei. Jedes Leben sei unbezahlbar. In der Praxis wird dann jedoch bei der Impfstoffbestellung oder bei Ausgleichszahlungen an den Einzelhandel geknausert. Teilen Sie den Eindruck, dass auf große Worte oft wenig Geld folgt?

Das Impfen muss tatsächlich dringend intensiviert werden. Je später man impft, desto teurer ist es. Länder, die jetzt schnell impfen, kommen auf jeden Fall günstiger weg. Jede Woche Lockdown kostet Deutschland Milliarden. Positive Effekte gibt es auch bereits bei einer Teil-Impfung. Natürlich wird gern behauptet, dass keine Kosten zu groß sind, um Menschenleben zu schützen. Das ist ein schwieriges Thema. De facto ist es in der Medizin schon so, dass man bei Prophylaxen und Therapien auch die Kosten mit abwägt.

Die Fragen stellte Jakob Arnold.

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