Direkte Demokratie - Mehr Schweiz wagen

In Zeiten, in denen politische Entscheidungen zunehmend auch mithilfe der digitalen Echokammern getroffen werden, sind neue Möglichkeiten der politischen Teilhabe nötiger denn je. Damit nicht nur die jeweils lautesten Aktivisten die Agenda bestimmen, wäre mehr direkte Demokratie eine gute Idee.

Soll Deutschland mehr Schweiz wagen? / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Die „Generation Greta“ gibt es nicht. Das hat die Bundestagswahl gezeigt. Die Grünen holten bei den Erstwählern 22 Prozent, aber ein Prozentpunkt mehr ging an die FDP. An die Partei also, die all jenen als Gottseibeiuns gilt, die befreit von Angebot und Nachfrage lustwandeln wollen durch ein CO2-neutrales Immerda, wo kein Schornstein raucht und jedes Tier ein Freund des Menschen ist; von der Nordseekrabbe bis zum Waldelefanten.

Viele Vertreter*innen der Grünen waren angesichts dieses Wahlverhaltens der Jungen außer sich. Schließlich träumte man im ökodiversen Juste Milieu von einer grünen Bundeskanzlerin. Und als langsam, aber sicher deutlich wurde, dass es dafür nicht reichen wird – allen apokalyptischen Szenarien zum Trotz –, fand man immerhin ein wenig Trost in der Gewissheit, dass die Grünen die Partei der Jungen seien, der Aufgeklärten und Weitsichtigen.

Zwei Missverständnisse

So schien es ja auch, in den sozialen Medien und in der Presse gleichermaßen. Am Wahlabend war aber auch dieses Hirngespinst dahin. Insofern war der grüne Frust, der sich anschließend über alle Kanäle hinweg entlud, nur menschlich. Gleichwohl fußte er auf zwei großen Missverständnissen. Erstens: Medien spiegeln nicht die Realität wider, sie zeigen sie nur in ausgewählten Ausschnitten. Je grüner eine Redaktion, desto grüner eben die Gesellschaft, die sie abbildet. Und je grüner die Medienbranche insgesamt, desto grüner die Inhalte, die von ihr produziert werden. Mit freundlichen Grüßen an die Kollegen vom Stern.

Zweitens: Die Digitalisierung hat den Debattenraum nicht demokratisiert, wie es gerne heißt. Sie hat nur die Spielregeln verändert. Nicht mehr Talent, Wissen oder Klugheit führen ins Rampenlicht. Algorithmen spülen stattdessen jene Protagonisten nach vorne, die besonders laut sind. Gehört wird, wer schreit und möglichst viele Follower um sich schart. Das ist nicht demokratisch, sondern autokratisch – und verzerrt den Blick auf dieses Land mit seinen mehr als 80 Millionen Einwohnern.

Erste Versuche

All das wäre nicht per se ein Problem. Es ist aber zu einem geworden, seit die etablierte Politik – aber auch die Medien, gefangen im eigenen Teufelskreis – begonnen hat, Reichweite mit Relevanz und lautstarke Anliegen mit dem Willen des Volkes zu verwechseln. Gendersternchen und Quotenregelungen sind da nur die Spitze des Eisbergs. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung hat aber weder die Zeit noch die Muße, sich einer hochgradig nervösen Kommunikations-Teilgesellschaft anzuschließen und im Internet nach der Aufmerksamkeit zu rufen, die sie zu verdienen meint.

Um diese Kluft zu schließen, diese Schneise zwischen realer und digitalisierter Welt, wäre es wichtiger denn je, neue Wege der politischen Teilhabe zu schaffen. Eine Möglichkeit ist, die unterschiedlichen Sichtweisen der Menschen durch Bürgerräte sichtbarer zu machen. Gelingen soll das, indem zufällig ausgewählte Bürger eingeladen werden, über bestimmte Themen zu diskutieren und gemeinsam an Kompromissvorschlägen zu feilen. Entsprechende Modellversuche laufen bereits. Gleichwohl bleibt es aber auch hier nur bei der theoretischen Partizipation.

Mehr direkte Demokratie wagen

Daher sollten wir einen Schritt weitergehen – hin zur direkten Demokratie. Einerseits, um politische Übersprungshandlungen – etwa provoziert durch einen gut orchestrierten Aktivismus, der zunehmend Hand in Hand geht mit einem Journalismus, der mehr erziehen denn informieren will – zu verhindern. Oder wenigstens auf ein gesundes Maß abzubremsen, sodass beispielsweise die Umwelt geschützt, aber unser Wohlstand nicht gefährdet wird. Andererseits, um den politisch Verantwortlichen beizeiten ins Gedächtnis zu rufen, dass ihre Aufgabe eben darin besteht, Politik für alle Menschen im Land zu machen – und nicht nur für einen Teil der Bevölkerung, der gerade ganz besonders vom vermeintlichen Zeitgeist profitiert.

Vielleicht ist es daher an der Zeit, in Deutschland mehr Schweiz zu wagen und bundesweite Volksentscheide als das zu begreifen, was sie sind: ein durch und durch demokratisches Instrument, um die Bevölkerung einzubinden in Vorhaben und Gesetze, deren Ausmaße – siehe Währungsunion, Energiewende oder Migrationspolitik – eben nicht nur punktuelle Veränderungen mit sich bringen, sondern Gesellschaften von Grund auf neu gestalten. Es wäre nur fair, den Bürgern hier mehr Mitspracherecht einzuräumen. Denn sie sind es ja, die den Schlamassel am Ende auch ausbaden müssen.

Fünf Vorteile

Fünf zentrale Argumente sprechen (theoretisch) für mehr direkte Demokratie: Entschieden wird im Sinne der Mehrheit der Bürger. Das politische Engagement der Bevölkerung wird gefördert. Die Auseinandersetzung mit politischen Inhalten nimmt zu. Politiker geraten stärker als in der repräsentativen Demokratie unter Rechtfertigungsdruck. Und nicht zuletzt sinkt die Gefahr von Korruption und politischer Einflussnahme durch Gruppen, deren größtes Interesse darin besteht, der eigenen Utopie hinterherzujagen. Und von denen gibt es derzeit, Gott sei’s geklagt, wirklich mehr als genug. Bemerkenswert ist, dass sich jüngst sogar die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas für Volksentscheide auf Bundesebene ausgesprochen hat. Sie habe aus ihrer „Sympathie für Volksentscheide nie einen Hehl gemacht“, sagte die SPD-Politikerin den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Jede Form der Bürgerbeteiligung müsse allerdings sachlich gut vorbereitet sein. Denn: „Um eine bewusste Entscheidung treffen zu können, muss jeder das Für und Wider für sich abwägen können“, so Bas.

Damit hat sie zweifellos recht. Gleichwohl lässt sich anfügen, dass man eben auch irgendwo anfangen muss. Vielleicht damit, das Thema direkte Demokratie auf die Agenda zu setzen. Oder wenigstens damit, dass man den Menschen im Land politisch mehr zutraut, als nur alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen – und sich nicht herausredet mit dem Vorwurf, die Bevölkerung sei zu dumm und zu beeinflussbar, um selbst zu entscheiden, was gut für sie sei und was nicht. Dass die Grünen bei den Erstwählern nicht stärkste Kraft geworden sind, darf da ruhig als positives Zeichen gewertet werden.

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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