Diplomatie gegenüber Russland - Moral ist keine Politik

Das derzeit konfrontative Auftreten des Westens gegenüber Russland basiert auf falschen Vorstellungen von Außenpolitik. Hier geht es nicht um zeitlose Normen, sondern um die Eigendynamik von Großmachtpolitik. Dies gilt es zu akzeptieren und dabei die eigenen und die russischen Interessen gleichermaßen im Auge zu behalten. 

Als die Sowjets 1962 Atomwaffen auf Kuba stationierten, waren die USA auch nicht begeistert / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Zu den Lieblingsphrasen nicht nur deutscher Politiker – aber insbesondere dieser – gehört die Aufforderung, aus der Geschichte zu lernen. Wobei leider immer etwas unklar bleibt, was genau man aus der Geschichte lernen soll. Dass Kriege fürchterlich sind und Massenmord verwerflich? Wer meint, das erst noch lernen zu müssen, soll es tun. Alle anderen stehen ratlos da. Analyse und Rationalität werden einmal mehr ersetzt durch erbauliches Sentiment. 

Doch das einfältige Gerede vom Lernen aus der Geschichte ist nicht nur von erheblicher Naivität. Es ist vor allem gefährlich, da es falsche Akzente setzt. Eben weil es so betroffenheitsschwanger daherkommt, fokussiert es auf Moral, auf hehre Prinzipien und große Werte. Was politische und historische Prozesse jedoch antreibt, sind institutionelle Strukturen und Machtkonstellationen. Es sind die komplexen Systeme von Herrschaft, Abhängigkeiten und Einfluss, die historische Abläufe gegebenenfalls in eine katastrophale Richtung lenken können – und nicht etwa ein Mangel an zivilgesellschaftlichen Werten. Plastisch formuliert: Der Erste Weltkrieg brach aus, weil ein komplexes Geflecht aus Bündnissystemen, Rückversicherungsgarantien und Interessenlagen eine brisante Eigendynamik entwickelten – und nicht, weil es in Paris, Berlin oder London keine Ethikräte gab. 

Manisch auf moralische Ideale fixiert

Und damit sind wir in der Gegenwart. Glaubt man den aktuellen Debatten in Europa und in Deutschland, ist es dringend geboten, gegenüber Russland einen harten und konfrontativen Kurs zu fahren. Appeasement-Politik gilt als Schimpfwort. Denn schließlich geht es darum, zentrale Werte und geltendes Völkerrecht zu verteidigen. Wer auf den Aggressor Putin zugehe, der sei bereit – so der Subtext –, unhintergehbare Normen zu Disposition zu stellen. Gerade angesichts der autoritären Bedrohung gelte es aber, Freiheit, Demokratie und geltendes Völkerrecht standhaft zu verteidigen. 

Das alles ist ja nicht falsch. Dennoch wird ein signifikanter und nicht ungefährlicher Fehler gemacht. In dem Wahn, nun endlich aus der Geschichte gelernt zu haben, verrennt man sich in eine normativ aufgeladene Außenpolitik, die jeder verantwortungsbewussten Realpolitik hohnspricht. Manisch fixiert man sich auf moralische Ideale, rechtliche Normen und zivile zwischenstaatliche Prinzipien und schiebt dabei das verhängnisvolle Geflecht aus Interessen, historischen Loyalitäten und Abhängigkeiten verächtlich beiseite. Das kann sich rächen. 

Jede Großmacht hat ihre Monroe-Doktrin

Denn machen wir uns nichts vor. Schon die Idee, dass Länder frei irgendwelchen Bündnissen beitreten können, taugt allenfalls für das Proseminar Politologie. In der Realität sieht das natürlich anders aus und hat es immer ausgesehen. Der Gedanke missachtet, dass Großmächte – und dazu gehört Russland ohne Zweifel – Einflusssphären haben und einen Sicherheitskokon um sich beanspruchen, man mag davon halten was man will. Aber erinnern wir uns: Die USA waren mäßig begeistert, als die Russen in Gestalt der Sowjets Nuklearraketen auf Kuba stationieren wollten. Auch wenn der Fall nicht in jeder Hinsicht vergleichbar ist, er illustriert jedoch ganz gut, worum es geht. Jede Großmacht hat ihre Monroe-Doktrin. Und die anderen Großmächte sind gut beraten, diese zu akzeptieren. 

Die eigenen Vorstellungen als Resultat zeitloser Werte darzustellen, die Ziele des Gegenübers aber als Produkte irrationaler Ängste oder Pläne zu begreifen, gehört zu den Ur-Übeln aller Diplomatie. Der Westen wäre gut beraten, zu akzeptieren, dass aus russischer Sicht der Beitritt Ostdeutschlands und der Länder Mitteleuropas zur Nato das russische Selbstverständnis auf das Äußerste strapaziert hat. Ein Beitritt der Ukraine zur Nato wäre kein Sicherheitsgewinn, es wäre ein Sicherheitsrisiko. Ziel der westlichen Außenpolitik sollte es sein, den Status quo für Moskau akzeptabel zu halten, also die Nato-Osterweiterungen der Jahre 1999 und 2004. Und da alles auf der Welt einen Preis hat, wird dieser ein Einflusskokon rund um Russland sein, zu dem Belarus, die Ukraine, Georgien, Kasachstan, Usbekistan usw. gehören. Zudem sollte sich der Westen hüten, Unverletzlichkeitsgarantien für Länder abzugeben, die aus historischen Gründen keine unumstrittenen Grenzen haben. Das ist ein Gebot der Klugheit. 

Wie sehr die Idee einer moralisch-normativen die auf universalen Werten basiert Außenpolitik gescheitert ist, zeichnet sich am Abgesang der UNO ab, die in dem derzeitigen Konflikt (und in anderen Konflikten) so gut wie keine Rolle spielt. Wie sind zurück in einem multipolaren Zeitalter konkurrierender Großmächte, die dabei sind, ihre Claims abzustecken. Das gilt es, zur Kenntnis zu nehmen und entsprechend zu handeln. Wer mit einer angeblich wertebasierten Außenpolitik daherkommt, verlässt das Spiel des Interessenausgleichs und begibt sich aus das gefährliche Feld der Ideologie. 

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