Demokratie auf dem Prüfstand - Liberale Gesellschaften in der Krise

Liberale Gesellschaften gelten als nicht krisentauglich: zu egoistisch, zu hedonistisch, nicht belastbar. Die daraus entstehenden Spannungen sind jedoch ihre Stärke. Das kann einzelnen Politikern die Karriere kosten, macht das System als ganzes aber stark.

Das Recht im Park zu sitzen / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es sind harte Zeiten für liberal denkende Menschen. Verbote allenthalben, Überwachung wo es nur geht, Vorschriften und Einschränkungen bestimmen den Alltag. Der Obrigkeitsstaat, so hat man den Eindruck, feiert ein fröhliches Comeback.

In der Krise, so hat man den Eindruck, offenbart der liberale Staat gnadenlos seine Schwäche. Denn die Grundaporie des Liberalismus liegt nun mal darin, dass er die Freiheit des Menschen beschwört, diese aber zugleich wieder einschränken muss, da sich grenzenlos entfaltende Individuen wechselseitig ihrer Freiheit berauben.

Die Freiheit besteht darin, individuell zu sein

Das liegt daran, das Freiheit nun einmal die Freiheit ist, unvernünftig zu sein. Also Dinge zu tun, die leichtsinnig sind, ungesund oder gefährlich für uns oder unsere Mitmenschen. Vernunft ist daher, auch wenn Generationen von Philosophen das Gegenteil behauptet haben, ein Gegenspieler der Freiheit.

Denn die Vernunft zielt auf das Allgemeine, universale Regeln. Regeln aber, die allgemein gültig sind, haben mit individueller Freiheit wenig zu tun. Die Freiheit des Einzelnen besteht vielmehr darin, individuell zu sein – also allgemeine Regeln zu brechen.

Der Staat aber übt Zwang aus

Denn Freiheit ist die Freiheit von Zwang. Der Staat aber übt Zwang aus. Er verbietet Handlungen, legt Öffnungszeiten fest und Höchstgeschwindigkeiten, treibt Steuern ein und verlangt Gebühren, Ausweise und Prüfungen. Der liberale Staat legt ein Netz von Vorschriften über unser Leben, beginnend mit der Pflicht zur Anzeige einer Geburt.

Der liberale Staat ist ein Widerspruch in sich. Noch drastischer zeigt sich das in Notzeiten. Streng genommen, müsste ein liberaler Staat etwa im Falle einer Pandemie von jeder Gegenmaßnahme absehen und an die Eigenverantwortung der Bürger appellieren. Doch Bürger wählen Politiker nicht für’s Nichtstun.

Das Paradoxon Demokratie

Allenfalls ein Autokrat kann sich Passivität erlauben. Die Demokratie jedoch verlangt nach Maßnahmen, und die sind notgedrungen autoritär. Es ist paradox: Weil der Staat gegenüber einer liberalen Gesellschaft seine Legitimation allein aus dem Schutz seiner Bürger bezieht, muss er ihre Freiheit einschränken. Weil er aber ihre Freiheit einschränkt, verliert er an Zuspruch und gerät in die Kritik.

Denn freie Gesellschaften wollen sich nicht einschränken lassen. Jeder hat andere Vorlieben oder Prioritäten. Und jeder ist sein eigener Fachmann. Vor allem aber: Pflichten sind in freiheitlichen Wohlfahrtsstaaten denkbar unpopulär. Ihre Bürger sehen sich ausschließlich als Träger von Rechten: Dem Recht, im Park zu sitzen. Dem Recht auf Geselligkeit. Und natürlich dem Recht auf Spaßurlaub.

Liberale Demokratien sind nicht krisentauglich

Die Einsicht, dass diese Rechte allenfalls sehr indirekte sind, liegt jenseits seines Horizontes. Und so kommt es – Mobilfunkdaten bestätigen die subjektive Alltagsbeobachtung – dass nach dem ersten Schock die Disziplin der Bürger deutlich nachlässt.

Kaum stellt die Politik Lockerungen in Aussicht, schieben sich die Massen durch Parks und bilden sich Pulks an Eisdielen. Daraus könnte man jetzt die Schlussfolgerung ziehen, dass liberale Demokratien im Kern nicht krisentauglich sind: zu individualistisch, zu hedonistisch, zu wenig belastbar und zu sehr auf die Legitimation ihrer Bürger angewiesen, die von ihrem Staat unmögliches verlangen: maximalen Schutz bei maximaler Freiheit plus maximalem Wohlstandserhalt.

Verborgene Stärken

Dennoch ist der liberale Staat auch in der Krise autoritären Systemen überlegen. Der Grund dafür ist einfach: Er ist flexibel. Sollte sich – nur als Beispiel – herausstellen, dass der Shutdown vom 23. März in diese Form sinnlos war (wie etwa Schätzungen zur Reproduktionszahl des RKI in seinem Bulletin 17/2020 S. 14 auf den ersten Blick vermuten lassen), dann würde das nicht die Schwäche des liberalen Staates unterstreichen, sondern seine Stärken: Transparenz, Lernbereitschaft, Korrekturfähigkeit.

Zerstört der autoritäre Staat bei einer Selbstkorrektur seine Aura der Unfehlbarkeit, so ist der liberale Staat geradezu gezwungen, permanent nachzujustieren. Denn alle machen Fehler und Daten sind mitunter schwer zu interpretieren. Dem einzelnen Politiker kann das die Karriere kosten. Die Gesellschaft als ganze macht es leistungsfähig. Darin liegt ihre Stärke.

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