Normalität mit Corona und Virus-Varianten - „Wir brauchen eine Lösung, die die nächsten Jahre Bestand hat“

Die Delta-Variante kann auch bei vollständig Geimpften Corona-Infektionen verursachen, allerdings meist ohne schweren Verlauf. Wie gefährlich ist die Lambda-Variante, die vornehmlich in Lateinamerika dominant ist? Ein Gespräch mit dem Virologen Klaus Stöhr.

Reisende in Zeiten der Pandemie am Frankfurter Flughafen / dpa
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Autoreninfo

Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

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Klaus Stöhr war von 1992 an 15 Jahre lang für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) tätig, unter anderem als Leiter des Globalen Influenza-Überwachungsprogramms; er hat die Pandemievorbereitung der WHO koordiniert und war Sars-Forschungskoordinator. Danach hat er bis 2018 beim Pharmakonzern Novartis im Bereich Impfstoffentwicklung und Produktion gearbeitet und ist seit drei Jahren freier Berater.

Herr Stöhr, wenn ein Corona-Impfstoff für Kinder im Grundschulalter zugelassen wäre, würde ich mein Kind sofort damit impfen lassen. Finden Sie das übertrieben?

Also es wäre toll, wenn ein Impfstoff für alle Altersgruppen einschließlich der Kinder zur Verfügung stünde, der ein positives Risiko-Nutzen-Verhältnis hätte. Aber den gibt es leider nicht. Die gegenwärtig vorliegenden Daten bescheinigen den aktuellen Impfstoffen einen höheren Nutzen als ein Risiko nur bei den über 18-Jährigen. Die Impfstoffe sind zwar zugelassen auch für Jugendliche ab zwölf Jahren. Aber dort ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis leider noch nicht so, dass man in Deutschland eine generelle Impfung für solche Kinder empfehlen könnte. Für Kinder mit einem höheren Risiko, schwer an Corona zu erkranken, also solche mit Vorerkrankungen, kehrt sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis wieder um. 

Sie haben sich kritisch geäußert bezüglich der Corona-Tests in Schulen. Der Aufwand und die Kosten, um nur wenige asymptomatische Fälle aufzuspüren, seien sehr hoch. Aber was bleibt uns denn sonst, um Ausbrüche an Schulen und damit Schulschließungen zu verhindern?

Ich habe gesagt, dass man die Tests gesundheitsökonomisch evaluieren sollte. Das sind 170.000 Euro, um ein asymptomatisches Kind zu finden.

Aber was wäre denn die Alternative, damit wir nicht wieder die Schulen schließen müssen? 

Eine Lösung umzusetzen, die auch langfristig in den nächsten Jahren Bestand hat. Wegen keiner der anderen 200 Atemwegserkrankungen werden die Schulen im Winter geschlossen. In einigen europäischen Ländern ändert man schlichtweg die Regeln und stuft unter Zwölfjährige bereits wie Geimpfte ein. Bei der Influenza gibt es in manchen Jahren bestimmt 30 bis 40 Prozent Schüler, die nicht zur Schule gehen können, weil sie aufgrund einer Infektion zu Hause sind. Die Lehrer und Eltern erwischt es auch häufig und man macht trotzdem gar nichts. Allerdings: Weil noch viele der älteren Kinder keine Antikörper haben und viele Erwachsene noch nicht geimpft sind, müsste man den Betrieb in den Schulen in diesem Herbst noch der Situation anpassen, stufenweise.

Sollten wir Ihrer Einschätzung nach Infektionen über den Herbst hinaus also einfach laufen lassen?

Sich in vernünftigen Schritten der Normalität der Ausbreitung von Atemwegsinfektionen bei Kindern annähern: So würde ich das formulieren. Einfach laufen lassen, das klingt, als ob man alles ohne Sorgen und ohne Berücksichtigung der Auswirkungen geschehen lassen würde. Aber ich habe das verglichen mit der Influenza und anderen Atemwegserkrankungen, wo die gegenwärtige, offensichtlich als verhältnismäßig angesehene und anerkannte Reaktion darin besteht, gar nichts zu unternehmen.

Aber wenn wir wie bei der saisonalen Influenza auch Corona-Infektionen unter Kindern in Schulen und Kitas laufen ließen, würden die Infektionen zunehmen und sich womöglich auch auf andere Bevölkerungsgruppen ausbreiten. Nicht alle können sich impfen lassen.

Das entspräche der Situation, die man als Endemie bezeichnet. Das Virus wird heimisch. Alle Kinder, die in Zukunft geboren werden, werden sich vor ihrem zwölften bis 18. Lebensjahr mit der Vielzahl der Atemwegserkrankungen infizieren. Das passiert, und danach sind sie immun. Im Unterschied zu diesen Erkrankungen haben allerdings in diesem Jahr aber immer noch ungefähr 25 bis 30 Prozent der über 18-Jährigen keinen Immunschutz gegen Sars-CoV-2. Deshalb ist ja die Impfung für diese Altersgruppe, aber besonders für die über 50-Jährigen, jetzt so wichtig.

Wir sprechen immer noch von Sars-CoV-2 und nicht von der saisonalen Influenza.

Genau. Auch viele der Kinder und Jugendlichen konnten noch nicht stufenweise einen Immunschutz aufbauen. Deshalb wird es auch in diesem Winter eine starke Atemwegsaison geben. Aber bei den Kindern verlaufen die Infektionen zum Glück ja meistens harmlos.

Außer, Kinder haben Pech und entwickeln Long Covid oder schlimmer noch PIMS (Pädiatrisches Inflammatorisches Multiorgan-Syndrom) wie bisher knapp 400 Kinder in Deutschland. Elf Kinder sind bisher nach einer Corona-Infektion in Deutschland gestorben.

Ich halte mich hier an die Einschätzung der Ständigen Impfkommission (Stiko): Long Covid und PIMS sind für die Kommission kein Grund, die Impfung für die gesunden Kinder und Jugendlichen unter 16-Jährigen zu empfehlen. Eine recht neue britische Studie hat gezeigt, dass maximal fünf Prozent der Kinder Nachwirkungen, die länger als vier Wochen andauern, nach einer Corona-Infektion hatten. Bei den PIMS-Fällen, bei denen einige Kinder auch auf der Intensivstation behandelt werden mussten, ist glücklicherweise noch kein Kind gestorben.

Der US-Gesundheitsexperte Anthony Fauci, der die dortige Regierung berät, warnt davor, dass sich noch weitere Virus-Varianten herausbilden könnten, wenn die Fallzahlen steigen und es mit dem Impfen gleichzeitig nicht schneller vorangeht. Teilen Sie seine Befürchtung?

Klaus Stöhr / privat

Dass weitere Varianten entstehen werden, steht außer Frage. Allerdings liegt es neben der biologischen Realität, steigende Fallzahlen und Ungeimpfte als Grund für mehr besorgniserregende Varianten anzusehen. Die Anzahl der Varianten, die sich spontan bilden, scheint begrenzt zu sein. Wenn jedoch zunehmend mehr Leute immun werden, dann werden sogenannte Immun-Escape-Varianten entstehen. Um die müssen wir uns wirklich Sorgen machen. Diese können den Immunschutz umgehen und dadurch leichter Geimpfte oder Genesene infizieren. Sind die Betroffenen schon älter, können die Krankheitsverläufe auch schwer werden. Und das würde erforderlich machen, dass die Impfstoffe neu angepasst werden müssten.

Die WHO hat die Lambda-Variante bisher nur als „Variant of Interest“ eingestuft. Japanische Forscher haben Ende Juli eine Vorstudie veröffentlicht, nach der die Lambda-Variante sehr ansteckend sein soll und darüber hinaus auch Antikörper des menschlichen Immunsystems umgehen können soll. Wie schätzen Sie das Risiko durch diese Virus-Variante ein? 

Da muss man sich zunächst diese Studie anschauen. Es handelt sich da um eine Laborstudie. Dort wurde das Corona-Virus mit dem Spike-Protein der Lambda-Variante versehen. Dann hat man Antikörper dazugegeben, um zu testen, inwieweit dieses Virus mit dem Lambda-Spike-Protein von diesen Antikörpern neutralisiert wird. Das lässt natürlich völlig außer Acht, dass die Antikörper nur ein kleiner Teil der Immunantwort sind. Die verschiedenen T-Zellen, die eine große Rolle bei der Immunantwort spielen, werden gar nicht berücksichtigt. Aus meiner Sicht zieht man hier Schlussfolgerungen, die über das hinausgehen, was man wissenschaftlich fundiert schlussfolgern könnte.

Um die Lambda-Variante müssen wir uns also erst mal keine Sorgen machen?

Es gibt darauf gegenwärtig keine Hinweise. Die Delta-Variante ist und wird in den nächsten Monaten noch dominant bleiben. Es gab hierzulande nur vereinzelte Fälle von Lambda, der Anteil liegt bei etwa einem Prozent an der Gesamtheit der Infektionen. Und auch in anderen Ländern nimmt ihr Anteil ab.

Aber die Lambda-Variante ist am stärksten verbreitet in Lateinamerika und sie wurde zuerst in Peru identifiziert, dem Land mit der weltweit höchsten coronabedingten Übersterblichkeit. Und da sind noch andere Länder, wo diese Variante sehr verbreitet ist, Nicaragua, Bolivien, Mexiko zum Beispiel, Staaten mit den höchsten Corona-Übersterblichkeiten weltweit. Sehen Sie da keinen Zusammenhang? 

Es gibt immer einen Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität. Die Hauptfrage jetzt ist: Gibt es Anzeichen, dass die Variante mehr als nur lokal an Bedeutung gewinnt? In Peru geht der Anteil bereits wieder zurück. In Deutschland liegt der Anteil bei unter einem Prozent, Tendenz abnehmend. Es gibt auch keine Studien, die einen Kausalzusammenhang zwischen Lambda-Variante und Übersterblichkeit belegen. Genauso wenig können wir eine Kausalität feststellen zwischen der Zunahme des Anteils der Delta-Variante und einer steigenden Zahl an Hospitalisierungen in Deutschland oder Europa. Allerdings ist der Analogschluss sicher richtig: mehr Infektionen – mehr schwere Erkrankungen. Zumindest als die Impfung noch nicht auf der Tagesordnung war.

In Israel sehen wir aktuell sehr wohl einen Zusammenhang zwischen zunehmender Delta-Variante und wieder mehr Hospitalisierungen. Delta ist die dominante Variante. Und die Hälfte der Patienten, die gerade im Krankenhaus wegen Covid-19 behandelt werden, sind vollständig geimpft. 

Ja, es gibt einen zeitlichen Zusammenhang. Für eine Kausalität benötigen wir Studiendaten, die auch andere Faktoren berücksichtigen wie erhöhte Mobilität oder verändertes Testverhalten. Bei den unter 60-Jährigen mit schwerem Krankheitsverlauf kommt hinzu, dass die allermeisten nicht geimpft sind. Bei den über 60-Jährigen sind es ungefähr 60 Prozent, wobei die Impfrate in dieser Gruppe bei über 90 Prozent liegt. Das heißt: Die Impfung wirkt sehr gut. Allerdings benötigen die Älteren sicherlich im Herbst eine Auffrischung. Interessant ist dabei, dass die Intensivbettenbelegung pro 100.000 Einwohner in Israel wohl ungefähr so hoch ist wie in Deutschland, die Meldeinzidenz aber 13-mal höher. Auch dort koppelt sich die Meldeinzidenz ab von dem eigentlichen Indikator der Krankheitslast.

Sie sehen nur Zusammenhänge, keine Kausalität, aber wie wollen Sie denn eine solche auf der Makro-Ebene überhaupt nachweisen? 

Das macht man mit entsprechenden Fall-Kontroll-Studien. Natürlich muss man oft Entscheidungen auf unvollständiger Datengrundlage fällen. Aber dann initiiert man parallel dazu gleich eine Forschungsagenda, um die Wissenslücken danach zu schließen. Und dann muss man natürlich reagieren. Das Bekämpfungs-Armamentarium hat sich ja durch die Varianten nicht geändert. Dieselben Maßnahmen greifen, also Masken, Abstandsregeln und Impfungen. Der Panikmache, häufig frei von jeder Datengrundlage in der Berichterstattung vieler Medien und auch seitens einiger Politiker, sollte man mit Rationalität entgegnen. Also Daten und Fakten anschauen.

Was hätten denn Medien und Politiker davon, Panik zu verbreiten?

Für die Frage bin ich der falsche Adressat. Aber es gibt ja Studien von Medienwissenschaftlern, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Menge und Art der Berichterstattung über Corona und der zum Teil irrationalen Angst in der Bevölkerung. 

Kommen wir noch mal zurück zur Lambda-Variante und der WHO. Die Autoren der japanischen Laborstudie fordern auf Grundlage ihrer Ergebnisse, die Lambda-Mutante von „Variant of Interest“ zur „Variant of Concern“ hochzustufen. Was würde das denn für Konsequenzen haben, wenn die WHO dem Folge leistete?

Erst einmal: Die Studie gibt eine solche Forderung gar nicht her. Prinzipiell agiert die WHO aber hier als Risiko-Schiedsrichterin und versucht, eine neutrale Organisation zu sein. Wenn die Daten so wären, dass sie die Lambda-Variante als besorgniserregend einstufte, also dass die Variante höhere Morbidität, Mortalität oder einen veränderten Krankheitsverlauf verursacht oder das Virus tatsächlich die Immunität unterläuft, würden notwendigerweise Länder Schlussfolgerungen ziehen. In Deutschland würde man womöglich Varianten-Risikogebiete bestimmen mit entsprechenden Reisewarnungen und veränderten Rückreisebestimmungen. Also die Länder passen ihre Maßnahmen an solche WHO-Definitionen an und würden entsprechend reagieren.

Das Gespräch führte Uta Weisse.

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