Datenchaos in der Pandemie - „Die Unterlassungssünden sind schwindelerregend“

Neuinfektionen und Krankenhauseinweisungen, die Validität von Tests, das Alter der Intensivpatienten, der Anteil von Geimpften und Ungeimpften am Infektionsgeschehen – zu all dem gibt es nur höchst unzureichende Daten und Zahlen, auf deren Grundlage aber dennoch Pandemiepolitik betrieben wird.

Nach R-Wert und Inzidenz soll nun die Hospitalisierungsrate der alles entscheidende Wert der Corona-Politik sein. / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Gerd Antes zählt zu den renommiertesten Medizinstatistikern Deutschlands. Er war Mitglied zahlreicher Wissenschaftskommissionen, unter anderem der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut sowie des Advisory Boards der International Clinical Trial Registry Platform (ICTRP) der WHO. Der Medizinstatistiker war Wissenschaftlicher Vorstand der Cochrane Deutschland Stiftung, die sich für wissenschaftliche Evidenz in der Medizin einsetzt.

Herr Antes, mit der Ministerpräsidentenkonferenz von letzter Woche hat die Politik die zentrale Maßeinheit für die Pandemiebekämpfung neu ausgelobt. Nach R-Wert und Inzidenz ist es nun die Hospitalisierungsrate, die zum entscheidenden Wert der Maßnahmenpolitik geworden ist. Kann man mit diesen singulären Zahlen ein derart komplexes Geschehen wie eine Pandemie steuern?

Es ist nicht so, dass diese einzelnen Zahlen nichts aussagen würden, dennoch ist es unsinnig, wenn man sie als einziges Steuerungsprogramm nutzt. Außerdem geht es neben Zahlen ja auch um Begriffe und Definitionen. Wenn wir nun etwa wieder täglich darauf hingewiesen werden, dass die Zahl der Neuinfektionen in die Höhe schießt, dann ist das so ja nicht richtig. Was nach oben geht, das ist die Anzahl der positiven Tests. Das ist bei weitem nicht das Gleiche.

Gerd Antes 

Zumal die wiederum im Verhältnis zu der absoluten Zahl der Tests gesehen werden müssen, die laut RKI zwischen den Kalenderwochen 41 und 45 nahezu verdoppelt worden sind.

Das sind beliebte Fehler, auf die man in der Empirie achten muss: Wenn ich eine Lupe habe, mit der ich wesentlich genauer gucken kann als ohne Lupe, dann schießt natürlich automatisch irgendwas hoch – und das nicht, weil es aus sich selbst heraus hochschießt, sondern weil ich eben genauer hingucken kann. Aber die Tests sind noch aus einem ganz anderen Grund Schwachpunkte in der Pandemiebekämpfung. Denn Tests, die derzeit als zugelassen gelten, werden nicht validiert. Erst jüngst ist eine Studie vom Paul-Ehrlich-Institut veröffentlicht worden, die belegt, dass es derzeit Tests auf dem Markt gibt, die selbst dann nicht „anspringen“, wenn man das Virus unter Laborbedingungen und quasi in Reinform auf ihnen aufbringt. Von 122 untersuchten Tests waren 20 Prozent miserabel. Das hat fatale Folgen; denn wenn die Tests „falsch negativ“ sind, dann sind sie im Endeffekt schädlich. Übrigens: 400 auf dem Markt erhältliche Tests wurden bis dato noch gar nicht evaluiert. Und dann gibt es ja auch noch die große Palette an Selbsttests. Mich hat diese Studie wirklich schockiert.

Weil sich die Getesteten am Ende in falscher Sicherheit wiegen?

Genau. Dann ist es vielleicht sogar besser, man testet die Menschen gar nicht, dann würden sie sich vermutlich wesentlich vorsichtiger verhalten. Das müsste quantitativ betrachtet werden.

Reden wir einmal über eine andere Größe – die Anzahl der Geimpften, die derzeit auf den Intensivstationen liegen. Diese Zahl geistert zwar in verschiedensten Ausformungen bereits seit Wochen durch die Medien, doch Gernot Marx, der Leiter des Divi, hat jüngst in einer Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages einräumen müssen, dass wir diese Zahl eigentlich gar nicht kennen, ja, dass sie bis dato nicht einmal erhoben wurde. Wie kann das sein?

Ich bin bereits seit Beginn der Pandemie sehr erstaunt darüber, wie dilettantisch und stümperhaft in diesem Land mit Zahlen umgegangen wird. Gerade die Intensivstationen wären ein immens wichtiger Ort, um die Ursprünge und Auswirkungen der Krankheit besser zu fassen zu kriegen. Auf den Intensivstationen könnte ich lernen, wo ich mit effektiven Hygienekonzepten, mit Aufklärung und Informationskampagnen ansetzen müsste. Wenn die beiden neuralgischen Punkte, die unser Gesundheitssystem derzeit bedrohen – die Krankenhauseinweisungen und die Überlastung der Intensivstationen –, datentechnisch nicht ausreichend erfasst werden, dann läuft wirklich etwas schief. Wir hatten jetzt 22 Monate Zeit, und noch immer kommen Unterlassungssünden zum Vorschein, die in ihrer Summe schwindelerregend sind.

Wenden wir uns also lieber den bekannten Größen zu: der Anzahl der Intensivbetten und deren Belegung etwa. Für sich genommen scheinen diese Angaben ja kaum Aussagekraft zu haben, denn entscheidend sind doch vermutlich nicht nur die Belegungen, sondern ebenso die Belegungszeit.

Die Bettenkapazitäten sind in den Medien immer wieder thematisiert worden. Aber das sind Zahlen, die mit großer Vorsicht zu genießen sind. Absolute Zahlen gaukeln eine Genauigkeit vor, die bei genauem Hinschauen sehr ungenau werden kann. Wenn jetzt zum Beispiel auch immer wieder jüngere Menschen auf den Intensivstationen landen, dann verschiebt sich automatisch auch das Belastungsprofil. Die jüngeren Menschen liegen einfach länger und blockieren somit auch länger die Betten. Die mittlere Liegedauer beträgt derzeit je nach Quelle zwischen 10 und 21 Tage. Doch wissenschaftlich gesprochen haben wir aktuell eine zweigliedrige Verteilung: Es gibt die jüngeren Patienten, die lange liegen, und die vulnerablen Gruppen und Alten, die eine kürzere Liegezeit haben.

Mit den Alten und Vulnerablen sprechen Sie eine Bevölkerungsgruppe an, die derzeit ein wenig aus dem Fokus geraten zu sein scheint. Was wissen wir aktuell eigentlich gesichert über die Situation in den Alten- und Pflegeheimen – den Orten also, die im letzten Jahr den eigentlichen Schrecken der Pandemie hervorgebracht haben?

Vermutlich nichts. Mir sind zumindest keine systematischen Erfassungsstrukturen bekannt, die genau nach bekannten und potentiellen Risikofaktoren stratifiziert wären. Es gibt immer nur Mittelwerte, aber Mittelwerte sind die reinsten Informationskiller. Es gibt bei Covid-19 einen extrem wirkmächtigen Faktor, und das ist das Alter. Eine Mittelwertsbildung über alle Altersgruppen hinweg ist da das verkehrteste, was man machen kann. Was es braucht, sind wirklich gute Studien, die tief in die Untergruppen hineingucken können. Hier aber gibt es extreme Lücken. Und die sind letztlich der Grund dafür, dass wir so wenig wissen. Jetzt könnte man natürlich fragen, warum sich das im zweiten Jahr der Pandemie noch immer nicht geändert hat. Und dann landete man vermutlich in einem riesigen Gestrüpp aus Interessenkonflikten, mangelnder Einsicht und fehlender Kompetenz.

Schaut man sich indes die Talkshows von Lanz bis Illner an, dann scheint es dort vor Kompetenzgehabe nur so zu strotzen.

In den Talkshows beschäftigen wir uns ausschließlich mit ausländischen Studien. Das ist ein riesiges Problem. Wir selbst sind für diese Situation einfach nicht gut aufgestellt und können von daher nicht adäquat und an Daten orientiert handeln.

Dabei scheinen die Daten aus den Mündern der Experten doch geradezu herauszuströmen. Derzeit etwa redet man mit Vorliebe über die Daten zu den Geimpften, die man dann in ein Verhältnis zu den Daten bei den Ungeimpften setzt. Doch sind diese beiden Datengruppen überhaupt miteinander vergleichbar?

Nein, natürlich nicht. Die entscheidende Frage ist ja zunächst, ob die Wahrscheinlichkeit, dass eine Infektion entdeckt wird, bei beiden Gruppen gleich hoch ist. Und wenn das nicht so ist, dann ist der Vergleich nicht valide. Vergleiche zwischen nicht ausbalancierten Gruppen gehören zu den methodischen Kardinalfehlern, vor denen Studenten in Anfängervorlesungen gewarnt werden. Diese Fehler seit Pandemiebeginn täglich zu registrieren und als Grundlage für politische Entscheidungen zu sehen, ist schwer auszuhalten und kann nur mit völligem Unverständnis kommentiert werden.

Sie sagen das so selbstverständlich. Schaut man sich indes den derzeitigen Umgang mit den Zahlen an, dann scheint das für viele noch immer nicht einleuchtend zu sein.

Sie haben vermutlich Recht. Ich habe noch nie so viele Fehler gesehen in der Darstellung von scheinbar einfachen Dingen. Wenn ich die Gruppe der Ungeimpften mit der der Geimpften vergleichen will, dann muss ich letztlich natürlich eine Studie aufsetzen, die versucht, den Unterschied zwischen den beiden Populationen auszumerzen. Nur so werden die beiden Gruppen wirklich vergleichbar.

Es gibt einen ganzen Berg an Zahlen zum Pandemiegeschehen, und wir haben in den zurückliegenden Minuten vermutlich gerade einmal ein paar Einzeldaten streifen können. Und dennoch, wenn man das alles mal zusammenkehrt und genau betrachtet, gibt es dann überhaupt irgendeine erkennbare Korrelation zwischen der Datenlage und dem tatsächlichem Pandemiegeschehen?

Wir sind in einer Art Bermudadreieck gefangen. Sollten die Daten, die ich derzeit zur Pandemie bekomme, derart schlecht sein, dass sie zu falscheren Schlüssen führten als gar keine Daten und reines Bauchgefühl, dann ist wirklich Alarmstufe rot.

Am Ende werden aus all diesen Zahlen politische Maßnahmen geformt, die, so heißt es jetzt von Seiten der Bundesregierung, in den kommenden Monaten erstmals durch ein Expertengremium validiert werden sollen. Der Clou indes: In diesem Expertengremium sitzt kein einziger Epidemiologie. Kann es sein, dass wir am Ende vielleicht gar nicht wissen wollen, was in der gegenwärtigen Situation alles falsch läuft?

Ich habe schon vor einem Jahr gesagt, dass es hier eine Mischung aus Inkompetenz, Arroganz und Ignoranz gibt. Schauen Sie sich nur die Asymmetrie in der Beratergruppe der Bundesregierung an. Das ist ein „Closed Shop“. Da tauchen immer wieder dieselben Gesichter auf; das wird der Sache nicht gerecht. Und dann schauen Sie in die Nachbarländer: In der Schweiz gibt es ein Gremium, das vollkommen anders zusammengestellt und namentlich sichtbar ist. Dort werden die Empfehlungen transparent und öffentlich ausgesprochen.

Ein anderer Nachbar wäre Schweden. Man muss das Vorgehen von Anders Tegnell nicht idealisieren, aber die Schweden schauen seit Monaten auf Zahlen, die uns neidisch machen können.

Ich versuche tatsächlich gerade, das schwedische Phänomen zu durchdringen. Das Land ist ungefähr so bevölkert wie Bayern. Vor fünf Tagen aber lag das Verhältnis bei der Intensivbettenbelegung bei 36 zu 835. Da muss man sich dann schon fragen, was da eigentlich los ist. Oft hört man dann einfache kausale Erklärungen, etwa dass die Bevölkerungsdichte in Schweden viel geringer sei als in Deutschland. Diese kausalen Erklärungen, von denen wir in den letzten zwei Jahren so viele gehört haben, brechen zumeist bei genauerer Betrachtung in sich zusammen und können durch Gegenbeispiele widerlegt werden. Jeder kennt ja das abgenutzte Beispiel von den Störchen und der Geburtenrate, deren gemeinsame Abnahme als Beweis dafür dient, dass der Nachwuchs vom Storch gebracht wird. Mit diesem Beispiel wurden bereits Millionen von Medizinstudenten gequält. Solch ein Missbrauch von Korrelation als kausaler Zusammenhang existiert seit jeher, ist nicht auszurotten und erlebt derzeit völlig neue Hochzeiten.

Auch Dänemark, Norwegen oder Finnland scheinen letztlich besser durch die Krise zu kommen als wir.

Wenn man das alles versucht zu verstehen, dann verlässt man irgendwann das Reich der reinen Zahlen und kommt bei gesellschaftlichen Fragestellungen an. Das ganze Corona-Thema wird in den skandinavischen Ländern einfach vergleichsweise unaufgeregt behandelt. In Dänemark zum Beispiel waren die Schulen fast die ganze Zeit geöffnet; ähnlich war es auch in der Schweiz. Dennoch ist das Infektionsgeschehen nie schlechter gewesen als bei uns, und niemand wäre je auf die Idee gekommen, die nicht getätigten Maßnahmen als Ursache für die Infektionsraten zu nehmen. Es ist eben alles viel komplexer, als ein einfacher Kausalzusammenhang glauben machen will.

Die Fragen stellte Ralf Hanselle.

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