Angeblicher Geheimplan gegen Deutschland - Der Wannsee-Scoop, der keiner ist

Während einer „geheimen“ Konferenz sollen AfD-Politiker die Vertreibung Millionen Deutscher mit Migrationshintergrund geplant haben, berichtet „Correctiv“ – und landet damit einen Scoop. Das Problem: Die Journalisten sind Gefangene ihrer eigenen Narrative.

Blick auf ein Gästehaus in Potsdam, in dem AfD-Politiker nach einem Bericht des Medienhauses Correctiv im November an einem Treffen teilgenommen haben sollen / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Der Chefredakteur von Die Zeit, Giovanni di Lorenzo, meldete im Sommer 2023 angesichts galoppierender Umfragewerte für die AfD Zweifel am Umgang auch der Medien mit der Partei an. Man dürfe die von ihr aufgeworfenen Themen nicht länger ignorieren, ihre Anhänger nicht als „Nazis“ in die extreme Ecke stellen. So werde die Lage nicht besser. Was di Lorenzo damit gesagt hatte, ohne es direkt auszusprechen, war: Etablierte Politik und Medien könnten ihren eigenen Anteil am Aufstieg der AfD haben. Sichtbare Wirkung hat dieser Appell der Nachdenklichkeit allerdings bis heute nicht entfaltet.

„Geheimplan gegen Deutschland“

Pünktlich zum Start des Superwahljahres 2024 steht nun ein neuer AfD-Skandal zur Debatte. Während die Rechtspartei als Wahlsiegerin aus drei ostdeutschen Landtagswahlen hervorgehen könnte, machte das Rechercheportal Correctiv einen „Geheimplan gegen Deutschland“ öffentlich. Ganze 18 Rechercheure sollen an dem Scoop beteiligt gewesen sein. Die Geschichte verbreitete sich in Windeseile im gesamten Mediensystem. Selbst der Spiegel pinselte die Geschichte ohne eigene Recherche einfach komplett ab.

Das Szenario: Ausgerechnet in einer Villa in der Nähe des Wannsees hätten sich „hochrangige AfD-Politiker, Neonazis und finanzstarke Unternehmer“ im Geheimen getroffen, um „nichts Geringeres als die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland“ zu planen. Was dieses Framing beim Leser bewirken soll, kann sich jeder ausmalen, der im Geschichtsunterricht nicht völlig geschlafen hat.

Wie in einem Geheimdienstfilm

Das Ergebnis der Recherche liest sich wie das Drehbuch zu einem Geheimdienstfilm – und das soll wohl auch so sein. Insgesamt vier Kameras waren auf dem Gelände installiert worden: in der Villa und auf einem Floß, das dafür direkt beim Hotel gemietet wurde. Es gibt Fotos von den Teilnehmern, ihre Namen, Lagepläne usw. usf. Correctiv war es sogar gelungen, einen Journalisten als Hotelgast einzuschleusen. An der Veranstaltung selbst konnte er zwar nicht teilnehmen, aber immerhin registrieren, wer alles ein- und ausging.

Aber nicht nur Fotos und Lagepläne wurden veröffentlicht, sondern auch detaillierte Informationen darüber, was hinter verschlossenen Türen so alles gesprochen wurde. Oder vielmehr: gesprochen worden sein soll. Correctiv gibt an, die Quelle für das gesprochene Wort sei ein Teilnehmer der Veranstaltung gewesen. Teilnehmer der Tagung hingegen mutmaßen, die Runde könnte abgehört worden sein. Der eingeschleuste Reporter jedenfalls sei ständig mit Kopfhörern im Ohr durch das Haus gelaufen. Geheimdienststoffe bieten eben Gelegenheit für allerlei Spekulationen.

„Völliger Unfug“

Anlass für die Mutmaßung, es habe sich um so etwas wie eine Wannsee-Konferenz 2.0 gehandelt, ist ein Vortrag des österreichischen Publizisten Martin Sellner über „Remigration“. Dem deutschen Verfassungsschutz gilt er als Rechtsextremist. Und Sellner hätte – im Geheimen – einen  Plan zur Vertreibung von Millionen deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund vorgestellt.

Cicero hat mit mehreren Teilnehmern der Veranstaltung unabhängig voneinander gesprochen. Dazu gehört der Jurist Roland Hartwig. Er war einmal AfD-Bundestagsabgeordneter und ist heute der persönliche Referent von Alice Weidel. Er berichtet, die Runde gebe es schon mehrere Jahre und habe rein privaten Charakter, werde also nicht öffentlich angekündigt. Die Berichterstattung darüber nennt er schlicht „völligen Unfug“. Sellner habe nicht die massenhafte Ausweisung deutscher Staatsbürger propagiert: „Und falls er es getan hätte, hätte ich protestiert, weil es verfassungswidrig wäre.“

Dies bestätigt auch das CDU-Mitglied Ulrich Vosgerau, ein weiterer Teilnehmer der Veranstaltung. Der Rechtsanwalt und Privatdozent an der Universität zu Köln nahm auf Einladung erstmalig an der Runde teil. Er behauptet: „Jedenfalls in meiner Gegenwart hat niemand so etwas gesagt. Was in der Tat diskutiert wurde, war die Frage, wie man kriminelle Ausländer oder abgelehnte Asylbewerber schneller abschieben kann. Aber darüber denkt selbst der Bundeskanzler nach.“

„Geheim“ konnten die Gedanken Sellners schon aus einem einfachen Grunde nicht sein: Seit geraumer Zeit verkauft sich sein auf der privaten Veranstaltung vorgestelltes Buch „Regime Change von rechts“ bestens, inzwischen in der vierten Auflage. Um den Inhalt des „Geheimplanes“ zu enthüllen, hätte man also bloß in eine Buchhandlung gehen oder sich einen seiner zahlreichen Vorträge anhören müssen, die seit Monaten im Internet kursieren.

Wie hältst Du’s mit den Fakten?

Dass an den Recherchen nicht alles falsch, aber manches zumindest nicht richtig sein dürfte, könnte der Fall Vosgerau belegen. Der Verfassungsrechtler referierte selbst auf der Tagung. „Ungeplant“, wie er betont. Es sei eine Lücke im Programm entstanden und da hätte man ihn gefragt, ob er einspringen könne. Das Thema seiner Einlassungen: die rechtlichen Probleme der Briefwahl.

Vosgerau ist zumindest ein Skeptiker, wenn es um Fragen der Briefwahl geht. Als Anwalt betreibt er mehrere Verfahren. Der Grund: Eigentlich sollen Wahlen „frei“ und „geheim“ stattfinden – so steht es im Grundgesetz. Mit der Briefwahl werde die Wahrung dieser Verfassungsgrundsätze aber ins Private verschoben. Nach seinen eigenen Angaben wäre das auch Gegenstand seines Vortrages gewesen. Gemäß Correctiv hätte Vosgerau aber „Bedenken in Bezug auf junge Wählerinnen türkischer Herkunft“ geäußert. Das klingt ausländerfeindlich. 
 

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Vosgerau erläutert gegenüber Cicero: „Tatsächlich habe ich zur Illustration meines Standpunktes ein Beispiel vorgetragen. Es scheint mir nicht unrealistisch, dass in einer muslimisch geprägten Familie mit traditionellem Frauenbild am Ende der Mann bestimmt, was die Frau zu Hause am Küchentisch zu wählen hat. In nicht-muslimischen Familien kann das freilich auch passieren. In solchen Fällen sind die Grundsätze freier und geheimer Wahlen aber verletzt – und das politische Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Frauen ebenso. Dies sind die Gründe, warum ich kein Anhänger der Briefwahl bin. Und genau das habe ich vorgetragen.“ Von diesen Zusammenhängen aber findet man in den Enthüllungen von Correctiv: nichts!

Stattdessen wird behauptet, Vosgerau hätte das Anfertigen von Musterschreiben zur  Anzweiflung der Rechtmäßigkeit von Wahlen befürwortet. Und dann heißt es weiter: „Je mehr mitmachten, stimmt er zu, umso höher die Erfolgswahrscheinlichkeit.“

Vosgerau schüttelt den Kopf. Das genaue Gegenteil sei wahr. Jemand habe ihn gefragt, ob Wahlbeschwerden erfolgreicher seien, je mehr Menschen sich an ihnen beteiligten. Seine Antwort, so behauptet er es jedenfalls: Der Erfolg in rechtlichen Verfahren hänge nicht von der Quantität der Beschwerden, sondern der qualitativen Sachhaltigkeit der Argumentation ab: „Die Mehrheitsregel gilt in der Demokratie, aber nicht vor Gericht.“ Die Universität zu Köln will nun prüfen, ob Vosgerau weiterhin Privatdozent für Öffentliches Recht bleiben kann.

Wenn Vosgeraus Auskünfte zutreffend sein sollten, würde das letztlich die gesamte Recherche mit einem dicken Fragezeichen versehen. Dann wäre es zwar so, dass manche Fakten stimmten, aber so neu zusammengesetzt und geframt wurden, dass sie am Ende die Wirklichkeit verzerren und nicht abbilden.

Der Fall Martin Sellner

Das könnte selbst bei Sellner der Fall sein. Was er das Projekt „Remigration“ nennt, besteht aus mehreren Teilen. Dass er als knallharter Rechter dabei nicht für eine Ausweitung von Migration und multikultureller Gesellschaft wirbt, kann nicht wirklich überraschen. Stattdessen plädiert er für Maßnahmen zur radikalen Reduzierung der Flüchtlings- und Asylströme, für die konsequente Abschiebung krimineller Ausländer und von Asylbewerbern ohne Asylgründe und schließlich – teilweise – auch für den Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft und die Abschiebung heutiger Staatsbürger.

Genau hierauf stützt sich Correctiv aus gutem Grund. Im Jahre 2017 wurde die NPD vom Bundesverfassungsgericht zwar nicht verboten, aber doch als „verfassungsfeindlich“ eingestuft. Der Hauptgrund: Sie wolle die Summe der Staatsbürger identisch machen mit der Summe der „ethnisch Deutschen“. Das aber hätte zur Folge, dass deutschen Staatsbürgern nicht-deutscher Herkunft die Staatsbürgerschaft entzogen werden müsste. Und genau dies,  die Ungleichbehandlung von Staatsbürgern, wäre: verfassungswidrig. Um diesen Nachweis geht es den Rechercheuren auch bei Martin Sellner, der „Wannsee-Konferenz 2.0“ und letztlich der AfD.

Kompliziertes Staatsbürgerrecht

Die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft ist zwar nicht unmöglich, aber ihr sind sehr enge Grenzen gesetzt. Prinzipiell möglich dürfte das zum Beispiel sein, wenn sich der Inhaber zweier Staatsbürgerschaften, darunter die deutsche, als schwer kriminell oder gar als Terrorist erweist. In einem solchen Fall könnte, ggf. mit Änderung der Rechtsgrundlage, die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden – mit der Folge des Vollzugs einer Abschiebung in jenes Land, für das die zweite Staatsbürgerschaft gilt. Abgeschoben würde dann aber gar kein Staatsbürger mehr, sondern ein ehemaliger. Ein entscheidender rechtlicher Unterschied!

Dies war auch der Grund dafür, warum nach dem Überfall der Hamas auf Israel in der etablierten Politik im Falle antisemitischer Islamisten plötzlich munter über die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft diskutiert wurde. Auch Innenministerin Nancy Faeser brachte sich in die Debatte um die Aberkennung von Staatsbürgerschaften ein und erwog, gleich ganze Clan-Familien abzuschieben. Daraus allerdings wurde nichts, da der deutsche Rechtsstaat keine Sippenhaft kennt. Der Vorschlag Faesers war schlicht: verfassungswidrig.

Wie rechtlich kompliziert diese Fallkonstellationen sind, weiß auch Martin Sellner. Erst im Dezember 2023 hatte er beim als rechtsextrem geltenden Magazin Compact eine ganze Serie von Videos an den Start gebracht, in denen er den Inhalt seines Buches „Regime Change von rechts“ erläuterte. Er betonte dort stets, dass er nur Remigrationsmaßnahmen befürworte, die sich im Rahmen des Grundgesetzes bewegen.

Sellner holt zur Verteidigung aus

Auf diese Videos wird Sellner nach Veröffentlichung der Recherchen von Correctiv auch in seinem Telegram-Kanal Bezug nehmen und bestreiten, am Wannsee die „Abschiebung von Staatsbürgern“ gefordert zu haben.

Eines aber könnte man annehmen: Dass Sellner im Interesse der Unangreifbarkeit und daher bloß aus taktischen Gründen auf das Grundgesetz Bezug nimmt. Und dass er, falls die AfD einmal die Macht errungen haben sollte, seine Hemmungen fallen lassen und ganz andere Maßnahmen vorschlagen würde. Und das könnte auch wirklich so sein. Aber es bleibt eine Mutmaßung, und als eine solche sollte man sie dann auch kennzeichnen.

Für sie spricht ein Video, das Sellner noch am selben Abend auf der Plattform Rumble verbreitet. Er hat sich in den letzten Jahren zu einem regelrechten Internet-Aktivisten gemausert und beherrscht das Medium perfekt. In einem einstündigen Livestream nimmt er – aus seiner Sicht – die Correctiv-Recherchen auseinander. Er bezeichnet es dort als „pure Lüge“, dass die Staatsbürgerschaft nach „ethnischen“ Kriterien vergeben werden solle oder er „alle Migranten“ loswerden wolle. Es ginge vielmehr bloß um jene, die dem Land nichts bringen oder kriminell werden. Selbstverständlich sei für ihn, dass Staatsbürger sei, „wer die Staatsbürgerschaft hat“.

Mit dem Geist des Grundgesetzes nicht vereinbar

Was er aber ausdrücklich bestätigt, ist die Tatsache, dass er „nicht assimilierte Staatsbürger“ durch einen erheblichen „Anpassungsdruck“ dazu bewegen will, von selbst das Land zu verlassen. Die Logik dahinter: Da es sich um Staatsbürger handelt, darf man sie rechtlich nicht diskriminieren. Aber man darf ihnen das Leben schon ein wenig schwer machen.

Mit dem Geist des Grundgesetzes allerdings verträgt sich das nicht. Wenn der Staat Menschen als Staatsbürger in das Staatsvolk aufnimmt, gehören sie ihm fortan an. Punkt. Wenn dem Staat nachträglich auffällt, dass dies im Einzelfall möglicherweise ein Fehler gewesen sein könnte, hat er diesen Fehler entweder hinzunehmen – oder er muss die äußerst engen Spielräume zur Aberkennung einer Staatsbürgerschaft mobilisieren.

Sellner hingegen will darüber hinausgehen, die unliebsamen Bürger sozusagen aus Deutschland hinausekeln. Das allerdings macht nur dann Sinn, wenn er die „nicht assimilierten Staatsbürger“ doch nicht so recht als Deutsche anerkennen will, wenn sein Staatsvolks-Begriff republikanischen Maßstäben regelrecht widerspricht und am Ende irgendwie doch ethnische Kriterien entscheiden sollen, wer deutscher Staatsbürger ist und wer nicht. Ob sich Sellner so allerdings auch in der Villa am Wannsee geäußert hat, ist nicht bekannt.

Und die Moral von der Geschicht’?

Es ist also nicht völlig grundlos, was Correctiv über Sellner schreibt. Die Gründe lieferte er allerdings erst nachträglich – beim Versuch der Widerlegung der erhobenen Vorwürfe. Aber dass aus einem privaten ein „geheimes“ Treffen wird, sich der ominöse „Geheimplan“ als der Inhalt eines seit mehreren Monaten frei erhältlichen Buches herausstellt und aus einer Buchvorstellung in privatem Rahmen eine mit der AfD in Verbindung stehende Konferenz zur Planung der Vertreibung Millionen deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund wird – all das lässt sich mit journalistischen Motiven allein nicht mehr erklären.

Der „Fall Wannsee“ dürfte vielmehr ein beredtes Beispiel dafür abliefern, wie sehr sich relevante Teile der Medien in den letzten zehn Jahren in ihre eigenen Narrative verstrickt haben. Sie hinken der politischen Wirklichkeit analytisch hinterher. Eigentlich sollte es besser umgekehrt sein. In Wahrheit fand das Treffen ja nicht einmal am Wannsee, sondern am Liebnitzsee statt. Der Wannsee liegt bloß in der Nähe.

Der Fraktionsvorsitzende der AfD in Thüringen, Björn Höcke, jedenfalls reibt sich schon einmal die Hände. Eine „Räuberpistole vor dem Herrn“ sei die Geschichte. Jeder vernünftige Mensch werde die „kampagnenhafte Absicht“ dahinter verstehen. Die Medien täten sich keinen Gefallen mit solch’ einem Vorgehen. Das Superwahljahr 2024 hat begonnen.
 

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