Wie raus aus der Pandemie? - „Deutschland fehlte der Mut“

Nicht nur Deutschland kämpft gegen den erneuten Anstieg der Infektionszahlen. In manchen Ländern ist allerdings das normale Leben wieder zum Greifen nah. Woran das liegt, erklärt der Epidemiologe Hajo Zeeb im Interview.

Brasilien ist eines der am härtesten von der Corona-Pandemie betroffenen Länder / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Hajo Zeeb ist Professor für Epidemiologie an der Universität Bremen und leitet die Abteilung Prävention und Evaluation des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie - BIPS. Seit Beginn der Pandemie beschäftigt er sich mit COVID-19. Er hat das Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 mitbegründet.

Herr Zeeb, den Umgang mit der Pandemie betreffend lohnt sich ein Blick in andere Länder. Wer macht was richtig? Und von wem kann sich Deutschland noch etwas abgucken? 

Es läuft sehr unterschiedlich in anderen Ländern. Viele asiatische Länder sind sehr gut durch die Pandemie gekommen, zum Beispiel Taiwan. Dort gab es sehr strenge Einreisekontrollen, sehr genaue Kontrollen der angeordneten Quarantäne und einen insgesamt sehr vorsichtigen Umgang mit Hygienevorschriften in der Bevölkerung. Auch Australien und Neuseeland sind gut gefahren mit schnellen und strikten Lockdowns, und können aufgrund sehr niedriger Zahlen oder sogar keinen Fällen wie in Neuseeland auch recht entspannt und unaufgeregt in die Impfung einsteigen.

In Europa ist Portugal recht interessant. Bis in den Oktober verzeichnete Portugal sehr niedrige Inzidenzen, dann kam nach Weihnachten eine 2. Welle mit sehr hohen Infektionszahlen. Darauf folgte ab Januar ein umfassender Lockdown mit vielen Testangeboten und seit Anfang März gehen die Fallzahlen rapide zurück. Auch einige der nordischen Länder sind mit einer guten Antwort auf die Krise aufgefallen.  

Zu Beginn der Pandemie hatten die USA große Schwierigkeiten, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Jetzt haben sie bereits über 100 Millionen Impfungen verabreicht. Wieso schafft Deutschland dieses Tempo nicht? 

Hier kommen viele Faktoren zusammen. Das zentral auf das eigene Land USA ausgerichtete Vorgehen bei der Beschaffung, eine Aufbruchstimmung nach dem Biden-Sieg, und eine sehr effizient hochgezogene Impf-Infrastruktur, die sehr viele Möglichkeiten nutzt.

Warum schafft Deutschland dieses Tempo nicht? 

Es ist sicher einerseits der geringeren Verfügbarkeit der Impfdosen geschuldet, für die die Gründe bekannt sind, und dazu vermutlich eine im Vergleich zu anderen Ländern doch sehr auf Sicherheit und geplante Verfahren ausgerichtete Vorgehensweise – gute Beispiele dürften die allzu langsame Einbeziehung der Hausärzte, Verzicht auf Impftermine am Wochenende oder in eher ungewöhnlichen Kontexten, wie zum Beispiel Apotheken, sein. 

Welche Maßnahmen könnten die Deutschen neben dem Impfen noch ergreifen, um die Infektionszahlen so niedrig wie möglich zu halten? 

Es geht weiter um AHA+L, unbedingtes Vermeiden unnötiger Kontakte, und nochmal die Schranken im persönlichen Umfeld hochziehen, bis die Inzidenzen wieder unter Kontrolle sind. Es muss weiter umfangreiche Kommunikation über die Bedrohung und wirksame Gegenmaßnahmen geben. Das umfangreichere Testen wird dazu beitragen, Fälle – vor allem ohne Symptome – früher zu erkennen, aber es löst nicht alle Probleme. Insgesamt geht es um eine Kombination vieler Maßnahmen, die in der Summe das Risiko sehr gut minimieren können. 

In Ungarn gibt es gerade ein „Rennen gegen die britische Variante“. Obwohl Ungarn über eine Menge an Impfstoff verfügt, steigt die Zahl der Covid-19-Todesfälle immer weiter. Woran liegt das genau? 

Nach dem Einsetzen der Impfstrategie dauert es einige Zeit, bis zuerst schwere Verläufe und Todesfälle sinken, und dann mit hoher Durchimpfungsrate die Infektionszahlen. In Ungarn sind die Infektionszahlen weiter extrem hoch, um die 700 pro 100.000 Einwohner, und damit ist auch die Gruppe der Betroffenen in mittleren und jüngeren Jahren sehr hoch. Es zeigt sich, dass in dieser Phase Impfungen allein nicht die Lösung sind, sondern mit den gesamten Infektionsschutzmaßnahmen kombiniert bleiben müssen – und da war Ungarn bisher nicht besonders gut.

Einzelne Stimmen sagen sogar, dass das Impfen kontraproduktiv sei, weil das Virus immer schneller mutiert. Ist an dieser Aussage etwas dran? Insbesondere wenn man das Beispiel Ungarns nimmt, wo die Anzahl der Impfungen steigt, aber dazu auch die Anzahl der Todesfälle.

Die Mutationsgeschwindigkeit wird meiner Kenntnis nach nicht durch das Impfen verändert, allerdings sind bei hohen Inzidenzen eben auch viele Personen mit Immunschwächen und Vorerkrankungen infiziert, bei denen es zu langen Erkrankungsverläufen kommen kann. Das sind dann gute Gegebenheiten, damit sich Mutanten erfolgreich entwickeln. Das Beispiel Ungarn kann nicht so interpretiert werden, dass Impfungen Todesfälle vermehren, das sind unterschiedliche Dinge, und die Durchimpfung in Ungarn liegt aktuell bei knapp 20 Prozent. 

Was heißt das für Deutschland? Müssen härtere Maßnahmen ergriffen werden, um die Ausbreitung der Variante B.1.1.7 zu stoppen? 

Mit den aktuellen Maßnahmen bleiben wir sicher in einem deutlichen Aufwärtstrend, gerade wenn weitere Öffnungen zur Diskussion stehen. Insofern wird es kaum ohne einen weiteren Lockdown gehen, der uns in circa drei Wochen wieder auf Werte unter 50 bringen kann. Die Variante B.1.1.7 ist völlig ausgebreitet, alle anderen sind in der Minderzahl.

Wieder zurück auf einen anderen Kontinent und ein anderes Land: Brasilien. Das Virus in Brasilien ist außer Kontrolle. Das ist doch auch nicht verwunderlich, wenn man das öffentliche Leben nicht herunterfährt, oder? 

Brasilien ist ein trauriges Beispiel einer machtlosen Wissenschaft und Teilen der Medienlandschaft. Bei einer politischen Führung, für die Public Health keine Rolle spielt und nur die Wirtschaft zählt, ist das auch nicht verwunderlich. In solch einer zynischen Stimmung ist es aber auch so, dass sich viele Bürger finden, die dann keinen Grund sehen, Infektionsprävention zu betreiben, zum Teil aber auch angesichts massiver eh schon bestehender Alltagssorgen. 

Erst vor einer Woche hat die Regierung in Brasilien die Strände gesperrt. Ist das nicht naiv? 

Ja, naiv und zynisch – als wenn das Problem gerade erst aufgetaucht wäre.

Finnland, Norwegen und Dänemark gelten als gute Beispiele im Umgang mit dem Coronavirus. Was machen die denn anders als Deutschland? Man kann doch nicht immer alles auf die dünnere Besiedelung schieben? 

Nein, auch in Städten in den genannten Ländern sind die Infektionsraten recht niedrig. Die Länder haben eine gute Kombination von Maßnahmen gepaart mit einer guten öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur und recht viel Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Maßnahmen. Dazu dann eine weniger dichte Bevölkerung – dann gelingt Corona-Management.

Hajo Zeeb / S. Budde - BIPS

Die Deutschen werden immer wieder mit einem #wirbleibenzuhause vertröstet. Machen Sie der Regierung den Vorwurf, von Anfang an nicht streng genug gewesen zu sein? 

Ich möchte keine Vorwürfe machen, aber aus Sicht vieler Wissenschaftler ist es insgesamt nicht gelungen, ausreichend und ausreichend diverse Expertise für die Pandemie zusammenzubringen und diese für die Entscheidungsfindung zu nutzen.

Am Anfang waren wir aus meiner Sicht ausreichend streng und sehr motiviert, aber im Verlauf – etwa im Sommer mit den Reisen – hat die Weitsicht und Entschlossenheit nicht gereicht. Und es fehlte der Mut, dann auch wieder schnell strenge Lockdowns umzusetzen, insbesondere der Novemberlockdown war nutzlos – und das war völlig absehbar.

Sollte man sich überhaupt zu sehr auf die Maßnahmen der anderen Länder konzentrieren?
Oder lenkt das nur von einer zielführenden eigenen Strategie ab? 

Es ist unbedingt sinnvoll, sich mit anderen Ländern abzustimmen, Maßnahmen zu prüfen, auch mal vor Ort mit Verantwortlichen und Betroffenen zu reden – leider ist das nicht passiert. Es wäre eine prima Idee gewesen, mit einem „Epidemic Intelligence Committee“ oder so etwas in der Art nach Südkorea, Australien, Neuseeland oder Norwegen zu fahren, das hätte sicher einen guten Austausch ergeben, für alle Seiten. Natürlich gibt es diesen internationalen Austausch über die WHO und die europäische ECDC, die Intensität und Lernwilligkeit wäre aber sicher noch zu erhöhen gewesen. 

Werfen Sie das der deutschen Regierung vor? Man sagt ja immer so gerne, „jeder kocht sein eigenes Süppchen“. 

Vorwurf wäre vielleicht zu viel, aber es wäre sicher eine gute Idee gewesen. Es ist schon verständlich, dass gerade zu Beginn einer solchen Ausnahmesituation erstmal geschaut werden muss, welche Möglichkeiten bestehen und was das Infektionsschutzgesetz vorgibt. Recht schnell hat man dann auch gemerkt, dass die Länder unterschiedliche Vorgehensweisen haben, wie zum Beispiel bei der Corona-WarnApp. Hier wurde ein Konzept explizit für Deutschland entwickelt und eine eigene Lösung zusammengebaut. Und erst im Nachhinein wurde sie dann kompatibel gemacht mit anderen Ländern. Es wäre also sinnvoll gewesen, sich direkt zu Beginn mit anderen Ländern abzustimmen. 

Verfügt Deutschland noch über eine Strategie im Umgang mit dem Virus? 

Es gibt eine Strategie, die aus vielen verschiedenen Strängen besteht, und dauernd auf den Prüfstand gehört. Immer mehr hat man allerdings den Eindruck, dass es neben wenigen dauerhaften Grundstrategien (in Bezug auf Fallidentifikation, Quarantäne, Isolation, etc.) zusehends weniger Übereinkunft gibt und eine gemeinsame Strategie zugunsten regionaler Ansätze zurückgestellt wird.

Eine Forschungsgruppe aus Oxford hat einen sogenannten „Stringency Index“ im Umgang mit dem Coronavirus erarbeitet. Anhand neun Indikatoren, wie zum Beispiel der Schulschließungen oder Reise-Restriktionen, soll ein Vergleich zwischen den Ländern geschaffen werden. Ist das ein guter Ansatz, um die Maßnahmen der Länder vergleichen zu können? 

Da es ein großes Set an Maßnahmen und deren Durchsetzungsintensität angibt, ist es fraglos hilfreich, einen derartigen Index zu haben, auch wenn er – wie alle aufsummierenden Maßzahlen – Details nicht zeigen kann und Unterschiede zum Teil nivelliert. Aber es geht um vergleichendes Lernen, auch für zukünftige Pandemien. Da stellen sich die Fragen: Was wird gemacht? Welche Kombination von Maßnahmen ist mit welchen Infektionszahlen verbunden? 

Gibt es dabei auch einen Zusammenhang zwischen einem höheren Score, das heißt schärfere Maßnahmen, und der Abnahme der Coronafallzahlen? 

Das ist nicht unbedingt so, zumindest muss man verstehen, dass manchmal härtere Maßnahmen die Folge höherer Zahlen sind, und erst in der Betrachtung über die Zeit klar wird, was passiert, wenn Maßnahmen ergriffen, verschärft oder gelockert werden. Daher kann man sich diesen Index im Verhältnis zu Infektionszahlen auch über die Zeit anschauen. Deutschland weist zum Beispiel einen hohen Index, aber auch hohe Zahlen auf, beides ist über die Zeit angestiegen. Neuseeland hat einen mittleren Index, aber seit September 2020 keine Fallzahlerhöhungen mehr.  

Warum weisen Australien und Neuseeland einen so niedrigen Wert auf? Haben die Länder so gute Vorarbeit geleistet, sodass sie jetzt keine verschärften Maßnahmen mehr ergreifen müssen? 

Das ist so einzuschätzen, dass dort die Pandemie unter Kontrolle ist, bei neu auftretenden Fällen sehr entschieden, aber nur kurz reagiert wird, und ansonsten einige Beschränkungen, die hier bei uns gelten, dort nicht mehr nötig sind. Sobald die Fallzahlen in Europa sinken, wird ja auch hier nicht sofort, aber allmählich entschärft, dann werden wir hoffentlich auch niedrigere Zahlen verbunden mit wenigen Maßnahmen – und einer hohen Impfquote – sehen.

Die Fragen stellte Sina Schiffer 

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