Krise der Republik - Angst vor der Freiheit

Wie viel Angst verträgt die offene Gesellschaft? Nicht erst die aktuelle Corona-Krise zeigt, dass wir Gefahr laufen, an dem Ast zu sägen, auf dem wir sitzen. Ein Plädoyer für mehr innere wie äußere Freiheit.

Wie lange wird die Geduld der Bevölkerung noch halten? / Sebastian König
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Man könnte diese Geschichte auch von der anderen Seite aus erzählen. Rechts wäre dann links, und links wäre rechts. Und die Allee dazwischen wäre kein Graben, sondern einfach nur eine Straße, gesäumt von alten Kastanien. 

Es ist der 1. Mai 2021. In der Innenstadt von Weimar haben sich an diesem ersten warmen Frühlingstag Hunderte Menschen versammelt, um gegen die Corona-Politik der Regierung zu demonstrieren. Kritiker der Maßnahmen, Menschen, die man in den zurückliegenden Monaten „Querdenker“ zu nennen gelernt hat, haben zu einer Kundgebung in der Nähe der gutbürgerlichen Carl-August-Allee aufgerufen. Die Stadtverwaltung hat die Demo verboten. Die Veranstalter haben geklagt, doch die Gerichte haben das Verbot bestätigt. Das übliche Katz-und-Maus-Spiel. Routine im zweiten Jahr einer Republik, der im Zuge der Pandemie immer mehr die Nerven durchzugehen drohen.

Am Ende sind dennoch einige Hundert Menschen in die Klassikstadt an der Ilm gekommen. Vielleicht sind es Tausend. Diese Zahl zumindest wird am Abend von der Polizei bestätigt. Bevor sie sich zum Pulk und schließlich zum großen Schwarm verdichten, hocken viele um ein paar Blumenbeete vorm Hauptbahnhof herum und warten Kranichen gleich auf irgendein Zeichen. Wenige Hundert Meter die Straße herauf kommt es währenddessen zu ersten kleineren Rangeleien: Jenseits der Carl-August-Allee haben sich jüngere Anhänger der Antifa gegen die Demonstranten in Stellung gebracht. Auch das gehört längst zur Routine dazu.

Wer will schon ein Nazi sein?

Wer an diesem Tag in der Mehrheit ist, ist eigentlich egal. Denn wie schon gesagt, man könnte diese Geschichte auch von der anderen Seite aus erzählen. Also vom Jenseits ins Diesseits. Wie einfach das wäre, beweist ein Zwischenfall am Nachmittag: „Nazis raus!“, ertönt es plötzlich von drüben. Und „Nazis raus!“ heißt es auch hüben. Die Gegendemonstranten grölen, die Demonstranten grölen zurück. „Freiheit, keine Diktatur!“ Dieselben Parolen hier wie da. Wer möchte schon ein Nazi sein? Ein junger Schlacks jedenfalls mit verschlissener OP-Maske und schwarzem Hoodie über der Brust schaut desorientiert über die Straße rüber. 

In sein Blickfeld gerät dabei eine kleine Frau von Anfang 50. Auch sie stimmt in den Chor mit ein: „Nazis raus!“ Dann hält sie inne und fährt sich mit der Hand durch die kurz geschnittenen blonden Haare. Ihre Tochter, sagt sie, stünde drüben auf der anderen Seite. Sie lacht. Ein Lachen, das zu schnell aus der Kehle herausgehuscht kommt, als dass es wirklich zu überzeugen wüsste. „Da drüben“, sagt sie, während ihr Finger zu dem roten Pavillon auf der anderen Straßenseite zeigt. Um den haben sich ein paar Jungspunde der Antifa versammelt. Empört, aber letztlich gelangweilt stehen sie sich ihre schwarz-beschuhten Füße in den Bauch. Die kleine Frau, nennen wir sie Dagmar, scheint es noch nicht ganz fassen zu können: „In den kommenden Wochen zieht sie aus.“ 

Bin ich denn der einzige?

Dabei war doch Dagmar sonst auch immer auf der anderen Seite: Antirassismus, Antiatomkraft. Ganz wie die Tochter. Jetzt aber – Anti-Corona. Sie habe irgendwann zu zweifeln begonnen. Die Zahlen. Die Kollateralschäden. Zu viel gelesen, zu wenig geglaubt. Und das, obwohl sie doch selbst im Gesundheitswesen arbeite. Dagmar erzählt das, als müsste sie es doch besser wissen. Vielleicht, wenn sie sich etwas Mühe gäbe? Nein, die Frau mit der dunklen Jeans ist da unbeirrbar. Da ist was, sagt sie, das stimme halt nicht. Und das habe sie hierher auf die Straße getrieben – zu denen, die von jenen am Pavillon als Nazis beschimpft werden. Verschworen, verschwurbelt oder schlichtweg Faschisten. Bei der Arbeit, sagt Dagmar, könne sie kaum noch darüber reden. Und für die Tochter stehe sie jetzt halt irgendwo rechts. 

Sie erzählt das so nüchtern, als wäre es nur eine irre Geschichte. Eine Randspalte aus der Zeitung oder eine Episode aus einem Roman: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich (…) zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Doch immer mehr Menschen scheinen sich auf diese Art verändert zu haben. Manche erkennen sich selbst nicht mehr wieder, andere zweifeln an der Gesellschaft, wieder andere gar an der Demokratie als Ganzes. Dagmar sagt, bei ihr habe das mit den Grundrechtseinschränkungen begonnen. Da sei irgendwas ins Rutschen geraten. 

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Mit diesem Gefühl steht sie nicht alleine. Eine Studie der Universität Bielefeld mit dem Titel „Freiheit(en) in unsicheren Zeiten“ hat bereits für den Beginn der Corona-Krise herausgefunden, dass sich immerhin 38 Prozent der Befragten damals stark oder sehr stark von den Grundrechtseinschränkungen betroffen sahen. Am häufigsten wurde dabei auf die Versammlungsfreiheit oder auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit verwiesen. Gut ein Viertel der Befragten gab aber auch an, sich durch die Maßnahmen in der in Artikel 1 des Grundgesetzes zugesicherten Würde verletzt zu sehen. Hieß es nicht einst, die sei im Kern unantastbar?

Wie verfassungspatriotisch sind wir noch?

Dass sich daran etwas verändert haben könnte, scheinen mittlerweile viele so zu sehen. Einen ehemaligen Richter haben diese Veränderungen sogar dazu gebracht, sein sich vor Jahrzehnten erworbenes Bundesverdienstkreuz an das Bundespräsidialamt zurückzuschicken. Manfred Kölsch, einstiger Vorsitzender Richter am Landgericht Trier, ist sichtbar entsetzt. Er habe nie daran gedacht, dass ein Virus eines Tages in der Lage sein könne, die deutsche Verfassungsarchitektur aus den Angeln zu heben. Vertan. Vorbei. Im marineblauen Pullover sitzt Kölsch nun vor einem großen Bücherregal und erzählt, dass er mit der Rücksendung seines Ordens gegen die „unzulängliche Kontrolle der Exekutive durch die Rechtsprechung“ protestiere. Das Video ist noch immer auf Youtube zu sehen.

Eine Wehklage am Ende einer juristischen Karriere. Doch hat der Mann mit seiner Einschätzung wirklich recht? Oder ist das die übertriebene Mindermeinung eines Juristen, der in der Abwägung verschiedener Grundrechte zu einem falschen und überzogenen Urteil gekommen ist? 

Der Fall jedenfalls erregte Aufsehen. Die Judikative kündigt. Und das ausgerechnet in jenem Land, in dem Dolf Sternberger und Jürgen Habermas einst das schöne Wort „Verfassungspatriotismus“ erfunden haben. Über Jahrzehnte hinweg ließ allein der Klang unsere republikanische Brust anschwellen. Was aber ist ein solcher Begriff noch wert, wenn wesentliche Grundrechte im Handumdrehen auf Stumpflänge gestutzt werden können und der Souverän seiner Selbstentmachtung sogar tatenlos zusieht? 

Ulrike Guérot, deutsche Politikwissenschaftlerin an der österreichischen Donau-Universität Krems, warnt davor, das Freiheitsstreben des Menschen zu überhöhen: „Eigentlich haben wir die Demokratie doch erst seit einhundert Jahren“, so Guérot. Ein historisches Experiment mit offenem Ausgang. Da könne auch manches in Schief­lage kommen. Sie jedenfalls verwundere es nicht, wenn Umfragen aus der Zeit des ersten Lockdowns belegten, dass die damaligen Freiheitseinschränkungen den Segen der meisten Bürger fanden. 

Freiheit gerät schnell in den Hintergrund

In der Tat: Laut einer Allensbach-Umfrage aus dem April 2020 vertraten damals 79 Prozent der Befragten die Ansicht, dass man alles tun müsse, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, auch wenn die Freiheiten der Menschen dadurch stärker eingeschränkt würden als jemals zuvor in der Geschichte der Republik. Lediglich 8 Prozent widersprachen dieser Auffassung. 

War das Panik in Anbetracht der Pandemie? Nicht unbedingt. Schon zwei Jahre zuvor, Corona lag noch in weiter Ferne, hatte sich ein solcher Trend angekündigt. Gut die Hälfte der Deutschen gab 2017 an, dass sie sich im unentwegten Ringen zwischen Freiheit und Sicherheit notfalls auf die Seite der Sicherheit schlagen würden. Lediglich 34 Prozent sahen es andersherum. Ulrike Guérot sagt, diese Zahlen seien nichts Ungewöhnliches. Dabei sind sie eigentlich ein Tritt in die Magengegend der offenen Gesellschaft – doch aufgejault hat damals niemand. Mit der Freiheit ist es vielleicht wie mit der Liebe: Sie ist unsichtbar; bemerken tut man sie erst, wenn sie fort ist.

Dabei standen 2017 noch keine Viren auf der Top-Ten-Liste der gefühlten Gefährdungen. Was den Menschen damals Angst bereitete, das waren der internationale Terrorismus, ein angeblicher Werteverfall oder die zumindest gefühlte Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Die Themen waren austauschbar, die „Lust an der Unfreiheit“ aber, wie Esther Vilar den Todestrieb der offenen Gesellschaft schon einmal 1971 genannt hat, schien unumkehrbar und nicht mehr wegzukriegen zu sein. Und warum auch? Nur jeder Sechste konnte sich vor vier Jahren schließlich vorstellen, dass immer strengere Sicherheitsvorkehrungen vonseiten des Staates am Ende auch eine Gefährdung der Freiheit an sich darstellen könnten. 

Auf dem Weg Richtung China?

Einzig Peter Sloterdijk schien sich Sorgen zu machen. In einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Point aus dem März 2020 warnte der Philosoph davor, dass sich das westliche System bald schon als ähnlich totalitär erweisen könnte wie das Chinas. Sind wir in Zukunft also untenrum frei, aber obenrum in Käfighaltung? 

Möglich, dass Sloterdijk kurz zuvor eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Kenntnis genommen hatte: Der zufolge war ohnehin nur noch die Hälfte der Deutschen zufrieden mit dem Zustand ihrer Demokratie in Gänze – in Ostdeutschland waren es sogar nur noch 35,6 Prozent. Es sind Zahlen und Fakten am Vorabend eines viralen Überfalls. Aufgeschreckt aber ist damals keiner.

Kann Freiheit also zur Last werden, die den Menschen so schwer bedrückt, dass er ihr zu entfliehen sucht? Und gibt es außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung? 

Es sind Fragen, die wie aus der Zukunft des Homo hygienicus zu kommen scheinen; dabei stammen sie bereits aus dem Jahr 1941. Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erich Fromm hat sie damals gestellt, in seinem viel beachteten Buch „Die Furcht vor der Freiheit“. Was den Pionier der empirischen Sozialpsychologie und frühen Weggefährten Theodor W. Adornos damals umtrieb, war eine Antwort auf die autoritären Verführungen seiner Epoche, auf Faschismus und Stalinismus. Als er sie schließlich fand, war er ernüchtert. Es gebe wohl so etwas wie einen autoritären Charakter; ein Typus, der sich bald auch in einer berühmten Berkeley-Studie mit dem Titel „The Authoritarian Personality“ aus dem Jahr 1950 niederschlagen sollte. Dieser Charakter halte den Menschen notfalls davon ab, sein „individuelles Selbst in Freiheit zu verwirklichen“.

Autoritärer Trend

Schnee von gestern, sollte man meinen. Ein antihumanistisches Horrormärchen, vorgetragen im altväterischen Slang der Psychoanalyse. Doch keineswegs. Wer es eher liberal und zeitgemäß mag, der sei an eines der letzten Bücher von Ralf Dahrendorf erinnert: In „Die Krise der Demokratie“ aus dem Jahr 2002 warnte der vor zwölf Jahren verstorbene Soziologe vor dem schleichenden Aufstieg eines „neuen Autoritarismus“. Dieser, so Dahrendorf schon damals, zeichne sich durch ein Verstummen des demokratischen Diskurses sowie durch Entzug der Exekutive aus, die dazu neige, „Entscheidungen möglichst jenseits aller Kontrollen zu treffen, und dies angesichts einer grundsätzlich desinteressierten und apathischen Bevölkerung“.

Wird diese Dystopie dieser Tage Wirklichkeit? Vielleicht ist der demokratische Diskurs noch nicht gänzlich verstummt, aber er zeichnet sich durch immer gefährlichere Schweigespiralen aus. Stand die republikanische Debatte vor Jahren noch im Zeichen der „kommunikativen Vernunft“ und des „eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas), so hat sie sich auch jenseits von Corona längst von unhintergehbaren Sprechverboten vereinnahmen lassen.

Überall stehen sie mittlerweile herum: die N-Worte, A-Worte, F-Worte. Platzhalter für das Unsagbare; Warnschilder für den kollektiven Zwangscharakter. Als wüsste man nicht aus den Religionen, dass erst so richtig groß und heilig wird, was für Menschen unaussprechlich bleibt. Und die sakralen Bereiche scheinen zu wachsen. Laut einer Allensbach-Umfrage von 2019 waren 78 Prozent der Befragten bereits damals der Auffassung, dass man in der Öffentlichkeit nicht mehr zu allem frei seine Meinung sagen könne. Das war ein Jahr vor dem Virus. Corona wird diesen besorgniserregenden Trend vermutlich noch weiter verstärkt haben. 

Berufsverbot für #allesdichtmachen

Denn was es im Ernstfall heißt, eine gesellschaftliche Mindermeinung zu dieser Epidemie zu vertreten, das konnte man jüngst bei den erhitzten Diskussionen rund um die Aktion #allesdichtmachen erleben. In zumeist ironischen kleinen Videos hatten sich Ende April 50 Schauspieler und zwei Filmemacher – darunter Prominente wie Jan Josef Liefers und Meret Becker – erdreistet, die aktuelle Corona-Politik zu kritisieren. Kein Ding, hätte man vielleicht vor Jahren noch darüber gedacht. Die deliberative Öffentlichkeit würde es schon richten. Probleme, die das Leben von allen betreffen, können eben auch nur durch die Meinung von allen entschieden werden. 

Doch was hier folgte, war etwas anderes. Es stellte alles in den Schatten, was man bis dato unter dem Begriff „Cancel Culture“ erlebt hatte: Während sich ein Großteil der Republik im Übelnehmen übte und vom Fernsehsessel aus lauthals „AfD“ und „Nazi“ krakeelte, ging ein Rundfunk­rat des Westdeutschen Rundfunks sogar so weit, die Verbannung der Schauspieler von den öffentlich-rechtlichen Mattscheiben zu fordern. Garrelt Duin, einstiger Wirtschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, forderte auf Twitter die Gremien von ARD und ZDF dazu auf, die Zusammenarbeit mit Liefers und Co. schnellstmöglich zu beenden. „Viele Grüße, ein Rundfunkrat!“, so stand es unter dem Tweet, mit dem der SPD-Politiker dem längst überfälligen öffentlichen Diskurs kurzerhand wieder den Saft abdrehen wollte. 

Von links auf rechts gedreht

Für die österreichische Schauspielerin Nina Proll, ebenfalls unter den so gescholtenen Mimen, kam ein solcher Shitstorm nicht von ungefähr. Die 47-Jährige, einst durch eher betont heitere Filme wie „Komm, süßer Tod“ oder „Keinohrhasen“ berühmt geworden, beobachtete schon seit den Debatten um #Metoo eine zunehmende Verengung des Meinungskorridors: Bereits 2017, so Proll, sei eine differenzierte öffentliche Debatte nicht mehr möglich gewesen. „Das ist immer das Gleiche: Es gibt ein öffentliches Narrativ, das als moralisch alternativlos dargestellt wird, und jeder, der dieses Narrativ infrage stellt oder sich ihm widersetzt, wird als menschenverachtender Rassist, Sexist oder Egoist diffamiert.“ Dadurch werde eine nüchterne Debatte verunmöglicht. 

Wie Dagmar, die Demonstrantin aus Weimar, habe auch Proll in den letzten Jahren beobachten müssen, wie sich politische Lager mehr und mehr verdreht hätten: „Ursprünglich galt als politisch links, wer für die Gleichheit aller Menschen, die Achtung der Grund- und Freiheitsrechte sowie gegen einen totalitären Staat war. Mittlerweile aber schreien die Linken zunehmend nach einem paternalistischen Staat und stellen immer totalitärere Forderungen, während die Rechten anscheinend die Einzigen sind, die sich noch für unsere Verfassung interessieren.“ 

Hysterie ist nichts neues

Da sei etwas grob in Schieflage geraten, glaubt Proll. Schließlich solle man nicht den Fehler machen und relevante Themen den Rechten überlassen. Es müsse möglich sein, diese auch von der Mitte aus zu diskutieren. Die Chancen dafür aber stünden derzeit nicht zum Besten: Laut Proll waren die hysterischen Reaktionen auf #allesdichtmachen nur die aktuelle Spitze eines seit Jahren dahindümpelnden Eisbergs. Wie es mit diesem weitergeht? „Ich befürchte eine weitere Hysterisierung. Der Höhepunkt ist noch nicht erreicht.“ 

Doch waren all die Schmähartikel, Beleidigungen und Anschuldigungen, die die Schauspieler und Regisseure seither über sich ergehen lassen mussten, wirklich neu? Fakt ist, dass offene Gesellschaften wohl immer schon zur Überreaktion neigten, wenn eine Mehrheit ihre übergroßen Ängste nicht mehr im Griff zu haben glaubte. Denn Angst, so der Soziologe Heinz Bude, führt stets zur „Tyrannei der Mehrheit“. Wenn alle mit den Wölfen heulen, dann ist das Spiel mit der schweigenden Masse eröffnet, und niemand erhebt mehr seine Stimme. „Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche“, so Bude.

Ein düsteres Vorbild 

Immer wieder hat man das so oder ähnlich bereits erleben müssen. Am markantesten vielleicht Anfang der fünfziger Jahre. Es war die Ära der Hexenjagden des McCarthyismus, eines „Amerikanismus mit aufgerollten Hemdsärmeln“ – wie Joseph McCarthy selbst, damals Senator für den US-Bundesstaat Wisconsin und Erfinder dieser fast schon wahnhaft betriebenen Hysterie gegen jegliche Andersartigkeit, seine Politik beschrieb. Auf bloße Beschuldigung hin konnten Menschen öffentlich verhört und verurteilt werden. Unzählige Karrieren, besonders die von Künstlern und Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich, konnten mit wenigen Worten ausgelöscht werden. 

Damals reichte der Verdacht der Nähe zur falschen Ideologie, und die öffentliche Schlammschlacht war eröffnet. Thomas Mann, der es 1951 gewagt hatte, das sogenannte Komitee gegen unamerikanische Umtriebe zu kritisieren, wurde als „weltweit bedeutendster Stalin-Entschuldiger“ gebrandmarkt. Dutzende Schauspieler, Filmproduzenten und Regisseure, darunter Dalton Trumbo, Drehbuchautor von erfolgreichen Blockbustern wie „Spartacus“ oder „Papillon“, bekamen Berufsverbot oder wurden Opfer öffentlicher Schmierkampagnen.

Ein Klima, das heute wohl selbst die Vorstellungskraft eines Garrelt Duin um einiges übersteigen würde. Das Schicksal der sogenannten „Hollywood Ten“, einer Gruppe linker Schauspieler und Filmemacher, steht noch immer stellvertretend für all jene, die damals Opfer eines zerstörerischen Unbehagens an der Kultur wurden. Die gnadenlose Ernsthaftigkeit aber, mit der gegen die Abweichler vorgegangen wurde, erinnert nicht von ungefähr an die Hysterie um #allesdichtmachen.

Angst wirkt immer

Doch Ende der sechziger Jahre beruhigte sich die Situation wieder. Die Angst aber, laut Heinz Bude das vielleicht einzige „Apriori moderner Gesellschaften“, war noch immer in der Welt. In der westlichen Gesellschaft wirkte sie wie ein Fluch. Vor diesem hatte einst schon Franklin D. Roosevelt gewarnt: „The only thing we have to fear is fear itself.“ Ein Satz wie eine Prophezeiung. Denn eine Generation später war die Angst wieder da. 

Es waren die Tage nach 9/11. Während die Bilder von einstürzenden Hochhaustürmen damals in Dauerschleife über die Bildschirme der TV-Stationen flackerten, drehte sich die offene Gesellschaft abermals und Stück für Stück in eine Konsens-Trance hinein. Jede neue Runde im unendlichen Bilder-Loop verstärkte nur noch einmal die dunkelsten Abgründe im Menschen.

Und inmitten dieser unerschöpflichen Beklemmung erdreistete sich eine ansonsten angesehene Intellektuelle, darauf hinzuweisen, dass die Welt gerade dabei sei, in roboterähnliche Verhaltensmuster abzurutschen: „Als New Yorkerin scheint es mir, als seien wir niemals weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen als an dem Tag, an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf uns einstürzte.“ 

Urheberin dieser mahnenden Zeilen war die „dark lady of American letters“, Susan Sontag. Bereits zwei Tage nachdem sich der Westen mit Ground Zero am Nullpunkt seiner Schutzlosigkeit angekommen sah, hatte sie in einem Essay damit begonnen, den aufpoppenden Raketenpatriotismus zu kritisieren.

Laut Sontag beruhte der auf „selbstgerechtem Blödsinn“ und „dreister Täuschung praktisch aller Politiker und Fernsehkommentatoren“. In der FAZ legte sie noch einmal nach: „Die Stimmen, die zuständig sind, wenn es gilt, ein solches Ereignis zu kommentieren, schienen sich zu einer Kampagne verschworen zu haben. Ihr Ziel: die Öffentlichkeit noch mehr zu verdummen.“

Moralistischer Gegenwind

Jetzt, 20 Jahre später, klingen viele von Sontags Worten geradezu unheimlich vertraut: Täuschungen, mediale Kampagnen, die Verdummung der Öffentlichkeit. Sind das nicht auch die Stichworte, mit denen Kritiker eines neuen, ja eines möglicherweise pandemisch voranschreitenden „United we stand!“ derzeit die globalen Maßnahmen gegen Corona kritisieren?

Doch etwas Wesentliches ist jetzt anders: Während Kritik, Gegenöffentlichkeit oder Dekonstruktion von Machtverhältnissen bis vor wenigen Jahren noch zum Hausrecht der Linken gehörten, so scheinen diese Begriffe nun ein kleines Stück nach rechts gewandert zu sein.

Der moralische Gegenwind aber ist identisch. Schließlich hatte auch Susan Sontag ihren Shitstorm erlebt: „Verräterin“, hatte man die New Yorkerin nach ihrem Wortgewitter genannt, eine Frau, die „gerädert und gevierteilt“ gehöre. Ein Porträt aus dem Herbst 2001 trug gar den Titel „Osama bin Sontag“.

Erst die kathartischen Blicke in die Abgründe von Abu Ghraib und Guantánamo konnten dem Furor schließlich ein Ende bereiten. Vielleicht muss es jede Generation neu lernen: Das Schreien der Gerechten erzeugt Gespenster, und gefährlich wird es immer dann, wenn Gegenmeinungen nicht mehr zugelassen sind.

Freiheit fährt gern Achterbahn

Kassandras Stimmen sind eben nur so lange liebreizend und schön, solange sie nicht zu mahnen und zu klagen anheben. Vielleicht aber hat diese ewige Wiederkunft des Gleichen auch etwas Beruhigendes. Meinte nicht schon Friedrich Nietzsche in diesem Kreislauf der Historie die Grundlagen höchster Lebensbejahung erkennen zu können? Die offene Gesellschaft, so muss man mittlerweile wohl sagen, sie wächst niemals exponentiell, sondern entwickelt sich in einem zyklischen Zickzack. 

Ein Blick auf die Statistik kann das bestätigen. Laut einer Studie des Zentrums für die Zukunft der Demokratie an der Universität Cambridge hat die Freiheit immer auch Krisen und Rückschläge erleben müssen. Ökonomische Frustration, wachsende Polarisierung sowie der Aufstieg populistischer Parteien hätten in der Geschichte immer wieder dazu geführt, dass sich die Zustimmung zu freiheitlichen Werten sowie zur Demokratie insgesamt auf dem Rückzug befanden.

Laut den Studienautoren haben das die europäischen Gesellschaften in den zurückliegenden 50 Jahren gleich dreimal erleben müssen: Das erste Mal in den siebziger Jahren, ein weiteres Mal nach der Rezession der neunziger Jahre, die dritte und bis heute anhaltende Abschwungbewegung habe mit der Finanzkrise von 2007 begonnen. 

Allerdings, und auch diesen Verdacht kann die Cambridge-Studie erhärten: Insgesamt scheint die Unzufriedenheit aktuell auf einen historischen Höchststand geklettert zu sein. Während in den neunziger Jahren noch zwei Drittel der Bürger in Europa und Nordamerika mit dem Zustand der Demokratie in ihren Ländern zufrieden waren, so waren es 2020 nur noch weniger als die Hälfte. 

Politische Ohnmacht

Dass da etwas grundlegend schiefläuft, glaubt mittlerweile auch die Politologin Ulrike Guérot. Für die Leiterin des Departments Europapolitik und Demokratieforschung an der Universität Krems habe das unter anderem mit der Zunahme weltweiter Krisen und zumindest subjektiv empfundener Unsicherheiten zu tun. Auf Politikfeldern wie Klima, Migration oder Globalisierung erlebten die Bürger seit Jahren eine regelrechte Ohnmacht der Politik. Das habe Zweifel und Sicherheitsbedürfnisse weiter wachsen lassen.

In einem solchen Klima, so glaubt zumindest Guérot, sei Corona gerade zur rechten Zeit gekommen. Endlich hätten die politisch Handelnden einmal bis ins Letzte durchregieren können, machtbesessen und geradezu präpotent. „Die Politik konnte ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Sie machte dem verunsicherten Bürger sogar noch einen Strich auf den Boden, um ihm die Grenzen seiner Bewegungsfreiheit zu markieren.“ 

Und doch, das Sicherheitsgefühl hat nicht zugenommen. Im Gegenteil. Was einzig wächst, scheint der eigentümliche Überdruck im Nervensystem zu sein. Angst, Angst und nochmals Angst. Es scheint die Grundkrankheit der modernen Gesellschaft geworden zu sein. Bei jedem sechsten Erwachsenen ist sie mittlerweile pathologisch geworden. Andere Erhebungen sprechen gar davon, dass jeder vierte Mensch mindestens einmal im Leben eine Beklemmung, eine Phobie oder gar eine Panikstörung entwickle. 

Und die Formen des Fürchtens sind vielgestaltig: Bindungsangst, Abstiegsangst. Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Klimawandel. Man könnte das unendlich fortführen. Angst vor der Unüberschaubarkeit des Daseins, Angst vor dem falschen Leben im Richtigen. Wer Glück hat, kann das große Zittern auf eine Phobie herabreduzieren, den anderen reißt es irgendwann schlicht den Boden weg. 

Das wahre Ich verkümmert

Doch egal, wie sehr man auch dagegen ankämpft – ob mit mehr Überwachung oder mit mehr Sprachregulierung, ob mit Ausgrenzung, Moral und Fingerzeig oder mit dem, was Ulrike Guérot überspitzt die „Banalität des Guten“ nennt, also die Suche nach fast puritanischer Reinheit: Die Gespenster unterm Bett des modernen Bürgers scheinen nicht mehr wegzugehen. 

Vielleicht ist es in Wahrheit ja umgekehrt: Hinter all den vielen kleinen Ängsten lauert im Letzten nur unsere übergroße Angst vor der Freiheit: Wer die Demokratie stärken will, schrieb in diesem Sinne kurz vor seinem Tod der deutsch-schweizerische Psychoanalytiker Arno Gruen, der müsse die Wurzeln einer Pathologie offenlegen: „Wir, die wir uns für so individualistisch halten, verwechseln die Konstruktion einer persona mit der eigenständigen Entwicklung eines Selbst“, so Gruens schonungslose Zeitanalyse aus dem Jahr 2014.

Aus der Rückschau betrachtet, wirkt sie wie ein Blick in die damals nicht mehr allzu ferne Zukunft: Aus Angst, ungehorsam zu sein, unterwerfe sich der moderne Mensch rationalisierten und abstrakten Ideen und verkümmere letztendlich zum „gehorsamen Wesen“, so Gruen. Ohne Freiheit, so seine logische Schlussfolgerung, verpasse der Mensch am Ende die Gelegenheit, sein wahres Ich zur Entfaltung zu bringen. 

Angst oder Freiheit? Vielleicht wirft uns die gegenwärtige Krise ja noch einmal zurück in das große Abenteuer eines selbstbestimmten Lebens in einer offenen Gesellschaft. Nötig wär’s.

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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