Wochenlange Corona-Herrschaft - Ein Lehrstück in Sachen Demut

Ein Virus hat dem Menschen vorläufig das Kommando über die Welt entrissen und uns vor Augen geführt, an was für einem dünnen Faden unsere zivilisatorischen Errungenschaften hängen. Der nächste Stresstest kündigt sich mit der Dürre derweil schon an.

Bilder wie aus einem Endzeit-Film: Selbst New York City steht still / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Vier Wochen geht das nun schon so, und immer noch haftet diesem Zustand etwas Unwirkliches, etwas Empörendes und Verstörendes an. Die Zivilisation des höchstentwickelten Wesens der Welt ist von einem noch nicht einmal millimetergroßen Etwas zum vorläufigen Stillstand und Absturz gebracht worden. Es ist kein Lebewesen, weder Pflanze noch Tier, aber doch ein Seiendes, ein Schmarotzer, der sich auf ebenso perfide wie geniale Weise die Zellen seines Wirts zum Brutkasten, zur Reproduktionsstätte seiner Art umprogrammiert, und das teilweise so massenhaft und in zentralen Organen, dass diese Organe, Lunge, Nieren, Herz, ihrer eigentlichen Aufgabe nicht mehr nachkommen und der Wirt stirbt, bevor sein Immunsystem eine hinreichend große Armee an Antikörpern aufstellen konnte. Das Ding ist winzig. Aber im Moment ist es größer als wir. 

Ein Virus hat die Herrschaft über die Welt jedenfalls vorläufig vom Menschen übernommen. Wir leben im Corozän. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem der Impfstoff da ist. Und das wird nach übereinstimmender Ansicht aller Experten frühestens in einem Jahr der Fall sein. 

Etwas Demut

Man muss das vielleicht nicht so drastisch, plastisch und pathetisch formulieren wie der jordanische König Abdullah, der davon sprach, dass uns Mutter Natur „einen heftigen Tritt in den Hintern verpasst“ habe. Aber richtig daran ist, dass der hochentwickelten Menschheit in der organischen Welt gerade die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt werden. Und ihr vor Augen geführt wird, dass die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich die Erde untertan gemacht hat, blind dafür gemacht hat, an welchem dünnen Faden ihr ganzes geniales weltweites Wirtschaftssystem, ihre Ubiquität, ihr Wohlstand und Wohlergehen hängt. Vielleicht ein Moment, Zeit haben wir ja jetzt mehr denn je, um sich in etwas Demut die Frage zu stellen, ob an diesem dünnen Faden nicht ein viel zu schweres Gewicht hing. 

Das Virus beginnt nicht erst im menschlichen Körper seine Huckepackstrategie. Es hat sich auf seinem Weg in den Organismus von Millionen von Menschen schon von dessen ausgeklügeltem weltumspannenden Transportsystem Huckepack nehmen und um die ganze Welt fliegen lassen. Es gab immer schon Seuchen, die Pest, die spanische Grippe, aber nie war die Menschheit als Ganzes ein so erfolgreicher Super Spreader. Übrigens flog Rania, die Ehefrau des jordanischen Königs Abdullah, von Amman gerne mal zum Shoppen nach Paris, als das noch ging. Paris war ja auch nur einen Online-Klick eines Flugtickets weg von Amman. 

Lockdown - Selbstmord aus Angst vor dem Tod?

Der Mensch tut sich naturgemäß schwer mit der vorläufigen Machtübernahme durch den garstig-perfiden Winzling. Und es ist menschlich und ganz normal, dass er seine intellektuelle Überlegenheit dem Virus gegenüber einsetzt. Um es kleinzureden, zum Beispiel. Nicht schlimmer als die Grippe, alles schon dagewesen. Alles halb so wild. Und tatsächlich trudeln die gesicherten Erkenntnisse erst allmählich ein über dieses neuartige Virus. Was sich allerdings nach und nach abzeichnet, lässt den Schluss zu: Man kann und muss dringend darüber debattieren, ob der Lockdown in ökonomischer Sicht nicht buchstäblich Selbstmord aus Angst vor dem Tod ist. 

Die Weltwirtschaft stürzt in einen beispiellosen Abgrund, und es kann in der Tat ein Punkt erreicht werden oder schon erreicht sein, an dem ein höherer Zoll an Menschenleben entrichtet werden muss, damit daraus nicht eine Katastrophe wird, in deren Existenzkampf nichts mehr auszuschließen ist.  

Ist das glaubhaft?

Das kann und muss man diskutieren. Und dann richtig entscheiden. Selbst dem amerikanischen Präsidenten hat diese Erkenntnis für einen kurzen Moment Demut gelehrt. Das will was heißen.

Aber dafür, dass das neuartige Coronavirus eine höhe Tödlichkeit bereit hält, gibt es zumindest auf der phänomenologischen Ebene unmissverständliche Hinweise. Wenn nachweislich in Italien mindestens 100 Ärzte an dem Erreger gestorben sind und die Letalität, wie von manchen angenommen, nur bei 0,1 Prozent läge, dann hätten sich in Italien 100.000 Ärzte infiziert. Ist das glaubhaft? 

Debattieren kann und soll man

Wenn gesagt wird, es töte nur Sieche, Greise und Geschwächte: Wie passt das zu einem der prominentesten Covid-19-Patienten der Welt? Der britische Premier Boris Johnson ist Mitte 50, energiestrotzend, robust, etwas beleibt vielleicht, aber dennoch sportlich, Radfahrer, Tennisspieler. Zwei Tage, sagte er nach seiner Rückkehr von der Intensivstation, hätte es bei ihm „in beide Richtungen gehen können“, und er verdanke sein Leben zwei Krankenschwestern, die in dieser Zeit nicht von seiner Seite gewichen seien. 

Debattieren kann und soll man auch das. Aber manches, was für Debatte gehalten wird, ist einfach Dummheit oder Irrsinn. So wie die Einlassungen eines New Yorker Wissenschaftlers namens Knut Wittkowski, der das Konzept des „social distancing“ für kontraproduktiv hält. Und es ist auch nicht Zensur, sondern der legitime Schutz der eigenen Reputation, wenn die Rockefeller University seine Beiträge sperrt und Wert auf die Feststellung legt, dass Wittkowski kein ordentlicher Professor der Rockefeller University sei.

Der Ritt auf der Rasierklinge

Scharlatane hat es bei Seuchen immer gegeben. Der Ablasshandel blühte jedesmal auf. Und auch jetzt fungieren Leute wie Wittkowski wie säkulare Ablasshändler. Das hat aber damals nicht funktioniert, und es funktioniert auch heute nicht. Bestenfalls als Geschäftsmodell mittels medialer Aufmerksamkeit, ein gutes Geschäft war der Ablasshandel seinerzeit auch. Aber nicht im Hinblick auf einen Erkenntnisgewinn.

Es gibt noch keine Lehre aus vier Wochen Dasein im Corozän. Aber eine Erkenntnis: Die zivilisierte Menschheit reitet schon seit geraumer Zeit sorglos auf einer Rasierklinge - mit einem komfortablen Kissen unter dem Hintern. Aber jetzt schneidet die Klinge ein. Der nächste Nackenschlag, der nächste Stresstest kündigt sich schon an. Mal im Wald gewesen in den letzten Tagen? Gesehen, wie knochentrocken das da ist und unter welchem Wassermangel die scheinbar so sattgrünen Bäume leiden? In einem April, der trocken war wie ein Juli und warm wie ein August. 

Zu Corona das Comeback des Klimas und weit und breit keine Fluchtmöglichkeit in den Urlaub: Dieser Sommer könnte ein Belastungstest werden. Hoffentlich bleibt die anorganische Nebenwelt stabil, das World Wide Web, das der Mensch in seiner Genialität geschaffen hat und die seine Zivilisation im Notbetrieb aufrecht erhält. Denn auch das hängt mit seinem filigranen Gespinst, das es um die ganze Welt gelegt hat, am Ende an einem ganz dünnen Faden.  

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