Hin und Her bei Corona-Grenzwerten - Wir brauchen realistischere Ziele

In immer kürzeren Abständen präsentieren die politisch Verantwortlichen neue Grenzwerte und neue Ziele der Corona-Pandemiebekämpfung. Das erschüttert zunehmend das Vertrauen der Bevölkerung. Wir brauchen dringend mehr Mut, mehr Ehrlichkeit – und mehr Optimismus.

Überlegt die Kanzlerin schon über die nächste Corona-Kenngröße? / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Am 16. März 2020, also vor gut elf Monaten, verkündete der bayerische Ministerpräsident Markus Söder den ersten umfassenden Lockdown in der Geschichte der Bundesrepublik. Es dauerte nur wenige Tage und alle anderen Bundesländer schlossen sich den bayerischen Vorgaben an. Angesichts der damaligen Situation und den vielen Unwägbarkeiten war das eine gut zu begründende Entscheidung. Vorsicht ist kein Fehler, insbesondere nicht für Regierungen, die dem Wohl ihrer Bürger verpflichtet sind.

Doch in den vergangenen elf Monaten hat sich die Situation geändert. Das Virus ist inzwischen gut einschätzbar. Die Krankheitsverläufe, ihre Häufigkeit, ihre prozentuale Verteilung auf die Bevölkerung, Hospitalisierungsrate, Letalitätsrate und Mortalität – all das kennen selbst Laien zu Genüge. Auch mit den unterschiedlichen Formen der Pandemiebekämpfung hat unsere Gesellschaft ausreichend Erfahrung gemacht.

In einer solchen Situation müssen Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger zunehmend besser begründet werden. Doch statt realistische Ziele bei der Einhegung von Corona zu formulieren, präsentieren die Verantwortlichen im Monatsrhythmus neue Grenzwerte und Parameter. Dieses Vorgehen erweckt bei vielen Bürgern nicht nur den Eindruck der Willkürlichkeit. Es zeugt auch von einem leichthändigen Umgang mit der Grundlage unseres politischen Systems: der Freiheit. Das Wahlvolk wählt sich Repräsentanten, keine Gouvernanten.

„Flatten the curve“, R-Wert und Inzidenz

Rekapitulieren wir: Ziel des Lockdowns im März 2020 war es, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Das Schlagwort hieß „flatten the curve“. Angestrebt wurde eine Verdoppelung der Infektionszahlen erst nach zehn, besser nach elf oder zwölf Tagen.

Da dieses Ziel quasi im Moment seiner Verkündung schon erreicht war, besserte man nach. In den Schlagzeilen der Medien erschein der berühmte R-Wert, also jene Zahl, die beschreibt wie viele andere Personen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Als Ziel wurde ein R-Wert von unter 1 ausgegeben, doch auch diese Marke wurde schnell erreicht.

Im Mai letzten Jahres wurde den Bürgern dann die neuste Kenngröße präsentiert: die 7-Tage-Inzidenz. Also die Anzahl der positiven Getesteten pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche. Sie dürfe 50 nicht überschreiten, beschloss man auf Länder- und Bundesebene. Für eine Stadt wie München sind das im Schnitt knapp 110 Menschen am Tag – bei 1,5 Millionen Einwohnern.

Die Angst vor der Mutation

Es kam der Winter und ein neuer Lockdown. Auch diesen kann man mit guten Gründen vertreten. Wer jedoch gedacht hat, dass angesichts des absehbaren Erreichens der ominösen 50er-Grenze nun ein Ende der Einschränkungen erreicht ist, sah sich getäuscht. Unversehens wurde ein neuer Grenzwert ausgegeben: die 35. Andere gingen noch weiter und forderten einen Inzidenzwert von 10. Und inzwischen wird ernsthaft über die Null-Covid-Strategie diskutiert. Flankierend hierzu präsentiert man immer neue Mutationen des Virus: erst aus England, dann aus Südafrika und nun aus Brasilien.

Da Viren aber andauernd mutieren, ist absehbar, dass wir bald auch eine finnische Variante bekommen werden, eine hessische oder was auch immer. Es wird kein Ende der Mutationen geben. Manche davon werden infektiöser sein und manche letaler. Und gegen einige werden die vorhandenen Impfstoffe nur eingeschränkt wirken. Das Virus wird die Menschheit, wie andere vergleichbare Viren, bis ans Ende aller Tage begleiten. Die Einsicht mag manche schockieren, ändern wird das nichts.

Der Realität ins Auge blicken

Da das aber so ist, wir jedoch nicht unser Wirtschafts- und Gesellschaftsleben unbegrenzt blockieren können, wären die politisch Handelnden gut beraten, nicht immer neue Grenzwerte und Bedrohungsszenarien in die Diskussion zu werfen. Doch die Politik scheint in einem Tunnelblick gefangen, der sie nur noch auf Infektionszahlen, Inzidenzwerte, Mutationsvarianten und Modellrechnungen schauen lässt, aber zunehmend die Realität aus dem Blick verliert.

Denn zu dieser gehören nicht nur Hunderttausende wirtschaftlich bedrohte Existenzen, sondern eben auch die einfache Wahrheit, dass wir das Virus nicht aus der Welt bekommen werden. Eine Gesundheitspolitik, die sich das zum Ziel setzt, wird scheitern. Wir brauchen vielmehr realistische Ziele, Optimismus und den politischen Mut, klar zu sagen, dass eine verantwortungsvolle und freiheitliche Politik nicht versuchen darf, das Unerreichbare zu erreichen.

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