Cicero Jugend-Serie „Contra Woke” - Die hypersensible Gesellschaft

Ob am Arbeitsplatz oder an der Universität: Das persönliche Wohlbefinden ist längst der Heilige Gral unserer Gesellschaft. Doch wo das subjektive Gefühl zum neuen Maßstab gesellschaftlichen Handelns wird, ist der Willkür der Weg bereitet.

Die eigene kleine, heile Traumwelt: Eine junge Frau schaut auf ihr Smartphone / picture alliance
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Autoreninfo

Veronika Wetzel studiert Internationale Beziehungen in Regensburg und ist Stipendiatin der Hanns-Seidel-Stiftung. Zuvor machte sie ein Volontariat bei der katholischen Zeitung Die Tagespost

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Die Medien sind in den vergangenen Jahren daran gescheitert, ein Bild der jungen Generation zu zeichnen, das mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Wir möchten die Debatte über die Generation Z daher nicht länger identitätspolitisch motivierten Redaktionen überlassen. Denn junge Menschen bewegt mehr als Fridays for Future, Body Shaming und Black Lives Matter.

Die Cicero Jugend-Serie „Contra Woke“ möchte all jenen jungen Menschen eine Stimme geben, die dem vorherrschenden woken Zeitgeist nicht entsprechen, aber gehört werden müssen, um die echte Lebensrealität und die wahren Sorgen der jungen Generation zu verstehen. Sie möchten selbst einen Artikel einreichen? Gerne, schreiben Sie uns hierfür eine Mail an: redaktion@cicero.de.

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Da hatte ich als Frau eben keine Chance“, sagte eine Kollegin neulich zu mir, als sie mir erzählte, dass sie eine Anstellung nicht bekommen hat. Ich fragte mich innerlich direkt, woher sie denn bitte wusste, dass es daran lag, dass sie eine Frau ist. Vielleicht hat sie sich im Bewerbungsgespräch nicht so gut präsentiert wie ihre Mitbewerber? Vielleicht ist sie nicht so gut qualifiziert wie die anderen? Vielleicht hat sie nicht ausreichend Erfahrung mitgebracht? Vielleicht lag es auch tatsächlich daran, dass sie eine Frau ist. Aber da ihr das nicht gesagt wurde, werden wir es wohl nie erfahren.

Trotzdem bekomme ich immer wieder gerade bei Frauen und bei Leuten mit ausländischen Wurzeln mit, wie sie in Aussagen und im Verhalten anderer Personen bewusst und fast schon besessen nach Diskriminierung suchen. Dabei geht es in erster Linie nicht darum, ob der andere tatsächlich eine böse Absicht hatte, sondern man interpretiert das Verhalten des anderen grundsätzlich negativ und fühlt sich dadurch gekränkt.

Man wird als Ausländer auf dem Amt geduzt? Struktureller Rassismus! Ein Mann hält einem die Türe auf? Hilfe, das böse Patriarchat! Es ist ein bisschen so, als würden manche nach dem Motto leben „Geh vom Schlechtmöglichsten aus“. Dabei spielt es keine Rolle, ob die andere Person sich vielleicht grundsätzlich so verhält, ob vielleicht das persönliche Verhalten auch ein Auslöser für die vermeintlich diskriminierende Handlung war – alles wird auf die eigene Identität bezogen.

Jede Ablehnung wird auf eigene Identität bezogen

Einmal habe ich an einem Seminar zum Thema „interkulturelle Handlungskompetenz“ teilgenommen. Dort wurde von einer afrikanischstämmigen Frau erzählt. Sie hatte sich darüber beklagt, dass ihr Kind von anderen Kindern rassistisch behandelt werde. Das machte sie daran fest, dass ihr Kind immer von den anderen Kindern weggeschubst wird, wenn es deren Spielzeug nehmen möchte. Dass bei uns generell ein starker Besitzinstinkt vorhanden ist und jedes Kind nur sein Spielzeug verwendet, schien die Frau nicht zu verstehen, sondern das Verhalten direkt auf sich und ihre Herkunft zu beziehen.

 

Zuletzt in der Jugend-Serie „Contra Woke“ erschienen:

 

Jede Ablehnung, jede maßregelnde Handlung, jedes unfreundliche Wort – oder als unfreundlich empfundene Wort – auf die eigene Identität zu beziehen, statt sich selbst und sein persönliches Handeln zu hinterfragen, ist bequem. Schließlich befreit das von persönlicher Verantwortung. Wenn immer die anderen schuld sind, kann man es nicht selbst sein.

In Watte gepackter Autoritarismus

Der Heilige Gral unserer Gesellschaft ist inzwischen das persönliche Gefühl, das zum Maßstab allen Reden und Handelns geworden ist. Dass ich mich angegriffen fühle, reicht, um anderen den Mund zu verbieten, reicht, um jemanden den Job zu kosten, reicht, um jemandem den gesellschaftlichen Tod zu bescheren. Solange man selbst seinen Stolz als gerettet ansieht, scheint es dann auch relativ egal zu sein, wie es den anderen mit diesen Konsequenzen ergehen mag.

Was oftmals als ein „sensibler Umgang“ schöngeredet wird, ist letztlich in Watte gepackter Autoritarismus. Denn wo das subjektive Wohlbefinden zum neuen Maßstab gesellschaftlichen Handelns wird, ist der Willkür der Weg bereitet. Und auch einer Kultur der Einschüchterung. Denn wo ein falsches Wort die komplette eigene Existenz kosten kann, überlegt man sich sehr gut, was man noch ausspricht – und was nicht.

Dadurch verkommen wir zusehends zu einer unfreien und humorlosen Gesellschaft. Denn auch Witze und Satire werden ja immer mehr dem politisch korrekten, also woken Fachjargon angepasst, um zu vermeiden, dass sich jemand in seinen Gefühlen verletzt sehen könnte. Aussagen, die als unzumutbar gesehen werden, werden daher von der Sprachpolizei mit Warnhinweisen versehen oder gleich ganz gecancelt.

„Hauptsache ich fühl mich gut“-Kultur

Diese „Hauptsache ich fühl mich gut“-Kultur ist zumindest in Teilen auch eine Ursache dafür, dass sich jeder immer mehr in seine eigene Bubble flüchtet und tunlichst den Kontakt mit Andersdenkenden wie eine ansteckende Krankheit meidet. Denn die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden erschüttert die eigene kleine, heile Traumwelt.

Eine Auseinandersetzung ist hart, weil das eigene Wertegerüst, das einem so viel Sicherheit und Geborgenheit gibt, plötzlich ins Wanken gerät. Das ist alles mögliche, aber kein schönes Gefühl. Diese Denke von „Komm mir mit deiner anderen Mentalität nicht zu nahe, das verletzt meine Gefühle“ habe ich exemplarisch bei den Vorbereitungsseminaren für meinen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst erlebt. Einmal ging es (mal wieder) um das Thema „struktureller Rassismus“ – anscheinend das Lieblingsthema unserer Seminarleitung –, und ich habe mich erdreistet, die These des strukturellen Rassismus generell in Frage zu stellen.

Damit habe ich das Weltbild unserer Seminarleitung und ihrer halb-afrikanischen Tochter leider dermaßen erschüttert, dass beide letztlich in Tränen ausgebrochen sind. Die Tochter hat all ihre (scheinbaren) Erfahrungen von Diskriminierung durch meine Aussage in Frage gestellt gesehen. Mit dem Hinweis auf „verletzte Gefühle“ wurde daher von da an die Diskussion verboten, wir durften uns nur noch die Sichtweise unserer Leiterinnen anhören. Die Leitung meinte letztlich im Einzelgespräch fassungslos zu mir: „Man würde ja meinen, dass man bei einer solchen Organisation Gleichdenkende trifft.“

Dass ich mit meinem Hinterfragen in ihre Bubble eingedrungen bin, war für sie wohl unerträglich, und ich sollte die Bubble schnellstmöglich wieder verlassen. Das eigene, persönliche Glücksgefühl ist das Maß aller Dinge geworden. Und was sich dem eigenen Wohlbefinden in den Weg stellt, muss beseitigt werden.

Dabei könnten wir auch wieder frei sein

Die Annahme, dass jede Interaktion mit der eigenen Identität zusammenhängt, ist letztlich aber eine maßlose Selbstüberschätzung und zeugt davon, dass man um sich selbst kreist. Wir denken viel mehr darüber nach, was andere wohl von uns denken, als sie das tatsächlich tun. Natürlich gibt es Leute, die andere ausgrenzen und diskriminieren aufgrund ihrer Identität. Doch der zunehmende Generalverdacht der Diskriminierung verharmlost tatsächliche Ausgrenzung und hilft den Leuten nicht – im Gegenteil: Er presst sie in eine zu bevormundende Opferrolle, die die Leute gerade auf ihre Identität reduziert.

Das zeigt sich auch an der Einführung von Quoten für angeblich diskriminierte Gruppen: Es gewährt den Leuten den Zugang zu Positionen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts und erweckt dadurch den Eindruck, dass sie es aus eigener Leistung wohl nicht geschafft hätten. So erzählte mir neulich ein Kollege, dass den Managern bei seinem öffentlich-rechtlichen Sender aufgefallen sei, dass sie zu wenig divers seien. Deswegen musste schnellstmöglich eine Frau mit Kopftuch eingestellt werden, obwohl sie tatsächlich weniger qualifiziert war als ihre Mitbewerber und ihr deswegen auch kurz darauf wieder gekündigt wurde. Ob sie sich wohl bald beschwert, dass ihren Job verloren habe, weil sie Muslimin ist?

Es täte uns als Gesellschaft wohl gut, nicht mehr alles persönlich zu nehmen und nicht jedem grundsätzlich böswillige Absichten zu unterstellen. Und selbst wenn jemand sich mal ungerecht verhalten hat, darüber hinwegzusehen oder ihn wenigstens direkt persönlich zu konfrontieren – wir wären überrascht, wie frei wir auf einmal wieder leben würden. 

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