Cicero Foyergespräch - „Unzufrieden mit dem, was man konkret als Politik erlebt“

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Künftig wird es ein drittes Geschlecht im Geburtenregister geben. Im Cicero-Foyergespräch sprach Präsident Andreas Voßkuhle über die pluralistische Gesellschaft, Spannungen zwischen Richtern und Politikern und die Bedrohung des europäischen Wertefundaments

Andreas Voßkuhle im Cicero-Foyergespräch: „Ich glaube, wir tun alle gut daran, das Wahlergebnis ernst zu nehmen.“ / Bernd Hentschel
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Belgische Verhältnisse? Andreas Voßkuhle greift in die rechte Innentasche und zieht ein schwarzrot-goldenes Büchlein von der Größe einer Streichholzschachtel aus seinem Jackett. Wie ist das geregelt, wenn sich über Monate keine neue Regierung bildet? Voßkuhle blättert im Grundgesetz, dem Text, dessen oberster Hüter er ist. Die einschlägigen Artikel geben nichts Eindeutiges her, die Sache ist demnach in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags geregelt, die aber auch ein Andreas Voßkuhle weder in der Jacke noch im Kopf haben muss. Wir werden die Frage also gleich weglassen.

Das 24. Cicero-Foyergespräch, einmal mehr ein Auswärtsspiel in Karlsruhe: Zu Gast ist der vierte Mann im Staate, Präsident des ortsansässigen Bundesverfassungsgerichts – und zwar nur drei Tage nach der Bundestagswahl, die diffuse Mehrheitsverhältnisse hervorgebracht hat. „Politik ohne Volk – die Legitimationskrise des politischen Systems“ lautet das Thema, das angesichts des Einzugs der Wut- und Protestpartei AfD mit 12,6 Prozent und einer gleichzeitig auf fast 76 Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung nach aktueller Diskussion förmlich schreit.

Andreas Voßkuhle ist dabei ein reizvoller Gesprächspartner, zugleich einer in Zwängen. In den zurückliegenden Jahren ist der oberste Verfassungshüter des Landes zweimal von der Kanzlerin gefragt worden, ob er bei der Wahl zum Bundespräsidenten kandidieren wolle. Denn in Berlin wissen alle, dass Voßkuhle nicht nur ein erstklassiger Jurist ist, sondern auch ein durch und durch politischer Mensch, ohne über die Maßen parteipolitisch festgelegt zu sein. Zweimal hat Voßkuhle dankend abgelehnt – wohl, weil er wusste, dass seine Macht als Präsident des Verfassungsgerichts am Ende größer ist als die des Bundespräsidenten. Von Macht versteht er also auch etwas.

Keine Zurückhaltung zu spüren

Voßkuhle ist aufgeräumter Stimmung, seine etwas schlaksige Körperhaltung und sein jugendliches Gesicht verleihen ihm neben der Gravitas des Amtes, neben einem imposanten Selbstbewusstsein eine jungenhaft-schelmische Wirkung. Im Aufzug auf dem Weg zum Podium plaudert er davon, dass die berühmten roten Roben des Richterkollegiums erst die zweite Garnitur seit Bestehen des Gerichts seien. Er selbst trage die von Ernst-Wolfgang Böckenförde, auch ein Hüne. Demnächst sei aber eine dritte Garnitur fällig; die Roben würden etwas mürbe. Er bitte noch um Verständnis, dass er sich aufgrund seines Amtes nicht über Gebühr politisch zum Ausgang der Wahl äußern könne.

Heimspiel für Voßkuhle: Das 24. Cicero-Foyergespräch fand in Karlsruhe statt

Ob er das eher zu sich selbst oder zu seinen Gesprächspartnern gesagt hat? Denn von allzu großer Zurückhaltung ist auf dem Podium nichts zu spüren. „Ich glaube, wir tun alle gut daran, das Wahlergebnis ernst zu nehmen“, sagt Voßkuhle auf die Frage nach dem starken Abschneiden der AfD. Es gebe „offensichtlich eine größere Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land, die sich durch die etablierten Parteien nicht vertreten fühlen“. Das könne, führt er an die Adresse dieser etablierten Parteien weiter aus, „damit zu tun haben, dass man unzufrieden ist mit dem, was man konkret an Politik erlebt“. Mit einem Ohnmachtsgefühl angesichts komplexer und fern von der eigenen Erlebniswelt getroffenen Entscheidungen, damit, „dass man den Eindruck hat, die da oben interessieren sich nicht für mich, und ich kann ja sowieso nichts ändern“.

Die AfD nicht stigmatisieren

In seinen Aussagen ist das Bemühen zu spüren, einen weiteren Riss zwischen Regierenden und Wahlvolk zu vermeiden. „Wir sollten alles tun“, mahnt Voß­kuhle, um den Gründen für den Wahlerfolg der AfD nachzuspüren, „weil sie unser politisches System betreffen und weil wir nicht einfach diejenigen, die eine Partei gewählt haben, die vielleicht der Mehrheit nicht gefällt, aus dem politischen Diskurs verbannen können. Das wäre vollkommen falsch, und man würde insofern dann dem Populismusvorwurf gerecht, der nämlich genau das tut: andere, die anders denken, aus dem politischen Prozess zu verbannen.“

Von bloßer Stigmatisierung der AfD hält Voßkuhle erkennbar nichts. Man müsse vielmehr „politische Akteure auf politischem Feld schlagen“. Und das funktioniere ja: „Wenn Sie sich etwa an die Auseinandersetzung der Politik mit der NPD erinnern – das ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine Partei, die eine Zeit lang durchaus erfolgreich in vielen Landtagen war, dann durch Auseinandersetzungen in der Politik letztendlich vom politischen Feld verschwunden ist.“

Für einen amtierenden Bundesverfassungsrichter spricht Andreas Voß­kuhle in diesen Momenten bemerkenswert offen, der Saal hört ihm aufmerksam zu. Erst wenn es konkreter wird, wenn das Gericht und das Grundgesetz ins Spiel kommen, wird er wortkarg. Der noch amtierende Justizminister Heiko Maas von der SPD hatte im Laufe des Wahlkampfs gesagt, Teile des AfD-Programms seien verfassungswidrig – und bezog sich dabei unter anderem auf das geforderte Minarettverbot. Voßkuhle lächelt wissend schon während der Frage. Man werde ihn jetzt nicht dazu bringen, irgendetwas dazu zu sagen, aber „wenn wir einen Antrag auf ein Parteiverbotsverfahren bekommen, dann werden wir das prüfen müssen“. Nur rechne er derzeit nicht damit.

Spielerischer Wechsel zwischen Schalk und Ernst

Auffällig ist, dass sich Voßkuhle viel vorsichtiger äußert als Maas. Generell sei ein Parteiverbot aber eine schwierige Frage; das Verfassungsgericht habe das unlängst in einem großen Verfahren am Beispiel der NPD durchexerziert, das bekanntlich gescheitert ist. Man müsse also schon genau hinschauen, „und man darf eben auch gerade mit dem Verdikt ,verfassungswidrig‘ nicht vorschnell umgehen, insofern will ich das mal dahingestellt sein lassen, was der Bundesjustizminister gesagt hat.“ An der Stelle raunt es ein wenig im Publikum, und manche werfen sich wissende Blicke zu. Denn das kann man durchaus ohne große Zuspitzung als höchstinstanzlichen Tadel an der Äußerung des zuständigen Verfassungsministers interpretieren.

Zwischen Frotzeln und Philosophieren: Andreas Voßkuhle ist ein beredter Gesprächspartner

Voßkuhle ist ein beredter Gesprächspartner. Er wechselt spielerisch zwischen Frotzeln und Philosophieren, Schalk und Ernst, hat Freude am Wortspiel und an Sprache. Das Wort „Arschlöcher“ geht auch einem Gerichtspräsidenten wie ihm über die Lippen, selbstverständlich nur als Zitat: Herbert Wehner hatte die Richter am Bundesverfassungsgericht einst so tituliert. Als die Rede auf die zum Teil hohen und manchmal fragwürdigen Nebeneinkünfte der Bundesrichter kommt, kontert er vor der rechtfertigenden Antwort mit einem kleinen Seitenhieb auf etwaige Neidgefühle des Fragenstellers. Voßkuhle spielt mit dem Publikum, der öffentliche Auftritt und die Aufmerksamkeit für seine Person sind ihm ersichtlich nicht unangenehm.

Demokratie und Populismus

Das Thema, um das seine Gedanken gewiss nicht nur an diesem Nachmittag kreisen, handelt von Demokratie und Populismus. Es sei durchaus sinnvoll, sich Gedanken über deren Wechselwirkung zu machen und über das daraus erwachsende Gefährdungspotenzial: „Meiner Ansicht nach besteht es darin, dass die Populisten für sich in Anspruch nehmen zu wissen, was das Volk will, und dass diejenigen, die sich gegen dieses anmaßende Wissen stellen, Volksverräter sind.“ Das sei in mehrfacher Hinsicht „mit unserem Demokratiemodell nicht vereinbar“. Denn so werde die pluralistische Gesellschaft im Grundsatz infrage gestellt.

Entscheidend sei es, zwischen normaler politischer Auseinandersetzung und antidemokratischem Populismus zu unterscheiden. Zugespitzte Aussagen seien nicht das Problem in der politischen Debatte, die manchmal eben etwas heftiger werden könne. „Das Problem ist, wenn ich den anderen nicht mehr als politischen Gegner, sondern als politischen Feind, als Vaterlandsverräter begreife.“

Eine solche Einstellung setze außer Kraft, was die Demokratie antreibe. „Und Demokratie wird angetrieben von der Idee, dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann. Und alles, was wir haben an Gewährleistung von Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, was wir an Gewaltenteilung etabliert haben, dient alles diesem einen Ziel – zu gewährleisten, dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann.“

Rechtspopulismus in Europa

An dem Punkt des Gesprächs lohnt ein Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus. In Polen und anderen osteuropäischen Ländern sind Rechtspopulisten nicht mehr nur im Parlament, sondern an der Regierung. Die polnische Regierung etwa hat oberste Bundesrichter ausgetauscht und möchte ihre Zugriffsmöglichkeiten in den Justizapparat erweitern. Sie rechtfertigt dieses Vorgehen mit dem Argument: Man sei gewählt, also seien entsprechende Maßnahmen auch demokratisch legitimiert. Andreas Voß­kuhle erkennt in derlei Begründungsmustern eine gefährliche Tendenz. Sie liefen nämlich darauf hinaus, das Demokratieprinzip auf eine schlichte Mehrheitsregel zurückzuführen.

„Meine Damen und Herren“, hebt Voßkuhle an dieser Stelle an und klingt, als ob er im Gerichtssaal ein Urteil verlesen würde: „Wenn das so wäre, dann wäre die Demokratie der Anfang eines totalitären Systems.“ Es sei kein Zufall, dass diejenigen, die die Demokratie zerstören wollten, „zunächst das Verfassungsgericht aus dem Weg räumen und sich dann über die freie Presse hermachen“. Andersherum würde das Verfassungsgericht nämlich die Pressefreiheit schützen, wenn es jemand wagte, diese anzutasten. „Insofern ist es kein Zufall, dass in den Ländern, in denen es diesen Politikwechsel gegeben hat, innerhalb von wenigen Wochen versucht wird, den Hüter der Verfassung lahmzulegen.“

Kein böses Blut zwischen Voßkuhle und Lammert

Aber was bedeutet dies wiederum umgekehrt für die notwendige und schwer zu gewährleistende Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts? Der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte einst mit Blick auf die Bestellung der acht obersten Verfassungshüter sogar von „Parteipatro­nage und personeller Machtausdehnung der Parteien“ gesprochen. Voßkuhle erläutert das Prinzip der Richterauswahl, bei der bisher letztlich immer CDU und SPD das Sagen hatten – allerdings unter Rücksichtnahme auf die übrigen im Bundestag vertretenen Parteien. Vorschläge seien stets „mit Bedacht“ gewählt gewesen; im Übrigen käme ein zweites hinzu, sagt Voßkuhle und schildert dabei aus seiner persönlichen Erfahrung: Sobald man gewählt sei und gleichzeitig wisse, dass man das Richteramt von nun an zwölf Jahre ohne Chance auf eine Wiederwahl innehabe, da „durchfließt Sie so ein Gefühl von großer Freiheit“. Und dieses Gefühl bliebe bestehen bis zum Ende der Amtszeit.

Seine gelegentlichen Scharmützel mit dem ausgeschiedenen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, etwa über die Abgrenzung der Kompetenzen von Gesetzgeber und Verfassungsgericht, sieht Voßkuhle als „natürliche Spannungslage“ zwischen zwei Verfassungsorganen. „Es wird Sie insofern nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, dass Herr Lammert und ich uns persönlich gut verstehen, wir uns auch nicht gram sind, wenn wir mal jeweils aus unserer Rolle heraus beschreiben, wie dieses Verhältnis im Augenblick ist.“ Außerdem habe er ja Verständnis für gelegentlichen Unmut, wenn Politiker ein Gesetz nächtelang entwickelt und in die Praxis überführt hätten – „und dann kommen die Damen und Herren vom Bundesverfassungsgericht und sagen: Das ist verfassungswidrig. Also, dass sie das nicht freut, das ist doch verständlich, oder?“

Spielräume in der Juristerei

Bei den Fragen aus dem Publikum dominiert das Thema der Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns während der Flüchtlingskrise. Vor wenigen Wochen hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) dazu ein salomonisches Urteil gesprochen, das einerseits von Rechtsbruch sprach („illegale Grenzüberschreitung“) und zugleich der deutschen Regierung eine Art Ausnahmeregelung zubilligte, entlang einer sogenannten Eintrittsklausel. Ob er froh sei, von diesem politischen Streitthema der vergangenen zwei Jahre verschont geblieben zu sein, wurde Voßkuhle gefragt. „Froh“, so seine Antwort, sei keine Kategorie, in der Richterinnen und Richter dächten. Dieses Verfahren sei vom EuGH zu entscheiden gewesen, und der EuGH habe das auch getan. Sein Urteil über das Urteil bleibt vage und klingt reserviert: „Ich weiß nicht, ob wir das auch so entschieden hätten, aber es ist auf jeden Fall nachvollziehbar, und insofern muss man das akzeptieren.“

Bei den Publikumsfragen ging es meist um die Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns während der Flüchtlingskrise

Juristerei sei am Ende eben eine Wissenschaft, in der Wertungsfragen und Spielräume eine Rolle spielten: ein schwieriges Geschäft, bei dem sich die Weisheit des Urteils manchmal erst im Laufe der Zeit zeige. Voßkuhle erläuterte dies an einem durchaus lebenspraktischen Beispiel: „Wenn Sie zum Zahnarzt gehen, wissen Sie auch nicht, ob der das richtig gut gemacht hat oder ob man das nicht auch anders hätte machen können.“

Das Gespräch in voller Länge können Sie hier ansehen.

Dies ist ein Artikel aus der Novemberausgabe des Cicero, die Sie in unserem Onlineshop erhalten.











 

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