Christian Ude - „Die SPD muss bereit sein, vermeintlich verbotene Themen anzugehen“

Christian Ude war lange das Gesicht der SPD in Bayern. Mit ihm als Spitzenkandidat erreichte die Partei 2013 noch mehr als 20 Prozent. Nun hat sich das Ergebnis halbiert, und der langjährige Oberbürgermeister von München ist entsetzt über den Zustand der Sozialdemokraten. Gibt es einen Weg weg vom Abgrund?

SPD am Boden: „Ich kann mich nicht an einen solchen Erdrutsch erinnern“ / picture alliance
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Herr Ude, wie geht es einem bayerischen Sozialdemokraten nach der Bayernwahl?
Das Ergebnis ist nicht enttäuschend, sondern niederschmetternd. Wobei es in München noch schlimmer ist als im restlichen Bayern. Und das will etwas heißen. In München sind der SPD fast zwei Drittel der Wähler davongelaufen. Ich kann mich nicht an einen solchen Erdrutsch erinnern. Das stellt den Bestand einer uralten Partei in Frage. 

Als Sie 2013 als Spitzenkandidat der SPD in Bayern angetreten sind, erreichten Sie immerhin noch 20 Prozent…
20,6 Prozent!

… der Stimmen. Jetzt hat sich die SPD halbiert. Was ist in den fünf Jahren passiert?
In den ersten zwei, drei Jahren nicht besonders viel. Aber dann fingen die Absonderlichkeiten an. Vor allem nach der Bundestagswahl. Vor der Wahl hatte man sich der totalen Illusion hingegeben, dem Schulz-Hype, der aber nur eine Autosuggestion und eine Medienblase war. Das Ergebnis war natürlich eine große Ernüchterung. Aber dann wurde ein Kasperletheater aufgeführt, vor allem ausgerechnet von der Bayern-SPD. Die leidet und verzweifelt seit 60 Jahren an ihrer Oppositionsrolle. Und dann verkündet sie, eine Regierungsbeteiligung im Bund sei das Schlimmste auf der Welt. Als ob die Jahrzehnte in Bayern gezeigt hätten, dass man nur auf der Oppositionsbank wachsen und gedeihen kann, bis man zum Riesen wird. Das war eine unfassbare Verfehlung der Realität. Und danach ist man auch noch umgefallen und hat den Koalitionsvertrag als große Chance verkauft. Das ist ja nicht falsch, aber es war das Gegenteil von dem, was man noch wenige Tage zuvor als Wahrheit verkauft hatte. 

Was hätte die SPD denn machen sollen? Es haben doch zwei Drittel der Mitglieder für eine Regierungsbeteiligung gestimmt.
Eben! Aber danach hat die SPD nie aufgehört, diese Entscheidung selbst ständig in Frage zu stellen. Das Nörgeln war lauter als von den größten Kritikern von außen. Wenn man täglich verkündet, dass es abwärts geht und die SPD ihre Ideale verrate, dann glaubt das auch irgendwann der Wähler. 

Das heißt, die größten Fehler wurden auf Bundesebene gemacht?
Wie gesagt: Die Bayern-SPD war an diesem fatalen Wackelkurs federführend beteiligt. Es ist also nicht so, dass da eine Lawine aus Berlin auf Bayern zugerollt kam, gegen die man níchts machen konnte. 

Christian Ude / picture alliance

Sie haben München schon angesprochen. Dort waren Sie 20 Jahre Oberbürgermeister der roten Metropole im schwarzen Freistaat. Jetzt haben die Grünen dort der SPD die meisten Stimmen abgejagt. Sind die Grünen die neuen Roten?
Ja, der Verlust an die Grünen ist der Gipfel. Eigentlich berufen sich ja Sozialdemokraten aus ganz Europa, wenn sie Stimmen verlieren, auf einen unabwendbaren Rechtsruck in der Bevölkerung. Aber den gab es in München und Bayern gerade nicht. Der SPD laufen die Menschen in alle Richtungen davon. Aber besonders zu den Grünen. Das kann ich mir in München nur damit erklären, dass die rot-grüne Politik restlos den Grünen überlassen wurde. 

Inwiefern?
Projekte wie das Einfrieren der Bodenpreise (Anm: städtebauliche Entwicklungsmaßnahme, ESM) wurden komplett den Grünen überlassen. Dafür wurde mit der CSU eine höchst fragwürdige, konzernfreundliche Politik eingeschlagen, am ärgerlichsten im Fall Microsoft gegen Open Source. Dadurch sind ganze Wählergruppen zu den Grünen übergelaufen. 

Ist die SPD nicht mehr die Partei der kleinen Leute in Bayern?
Sie unternimmt jetzt durchaus viele Bemühungen für soziale Verbesserungen. Aber die sind alle nur wenige Monate alt. Und das hat die Bevölkerung als Wahlkampfpanik in letzter Minute wahrgenommen. 

Nun hatte es die SPD immer schwer in Bayern. Aber bei einem Ergebnis von unter zehn Prozent kann man von einer Volkspartei wahrlich nicht mehr sprechen. Ist eine linke Volkspartei nicht mehr möglich?
Die Frage kann ich noch nicht beantworten, weil ich sie mir selbst stelle. Aber eigentlich ist eine sozialdemokratische Politik nach dem Scheitern des Kommunismus und auch des Turbokapitalismus während der Finanzkrise notwendiger denn je. Nach meiner Beobachtung lechzt die Bevölkerung auch geradezu danach. Dass die SPD da nicht der Schrittmacher von grundlegenden Reformen ist, sondern ziemlich orientierunglos in der Landschaft herumsteht und tränenreich zuschaut, wie ihr der Boden wegsackt, ist für mich eigentlich nicht erklärlich. 

Dabei ist Parteichefin Andrea Nahles angetreten mit dem Vorsatz, den Menschen wieder Vertrauen zurückzugeben. Warum klappt das nicht?
Natürlich ist eine Große Koalition mit einem Partner, der sich verhält wie Horst Seehofer, äußerst strapaziös. Aber die SPD schafft es nicht, zu vermitteln, was sie selbst leistet. Sie will pausenlos in eine neue Rolle schlüpfen, und das nehmen ihr die Menschen nicht ab. Der große Fehler wurde gemacht nach der Agenda 2010 unter Gerhard Schröder. Für diese Agenda gab es auf Parteitagen sehr große Mehrheiten. Warum die Reform nötig war, hätte man den Menschen geduldig erklären müssen. Und man hätte sie anpassen können, wo sie in der Tat zu weit ging. Stattdessen spielt man sich permanent als Chefankläger der eigenen Politik auf und prangert sie an, als hätte man nichts damit zu tun. 

Nach der Wahl in Bayern hat Andrea Nahles gesagt, fest stehe, dass sich was ändern müsse. Was wäre das konkret?
Zuallererst muss man offen zugeben, dass man über den erdrutschartigen Totalschaden entsetzt ist. Da darf nichts verharmlost werden. Die SPD muss alles auf den Prüfstand stellen, muss bereit sein, bisher „verbotene“ Themen anzugehen, wo bisher nur Schönfärberei erlaubt war. Stattdessen wird bisher auf offener Bühne ein trickreiches „Weiter so“ versucht. 

Bei welchen Themen sehen Sie denn Potenzial für die SPD?
Es gibt Themen, die auch benannt wurden, aber viel zu spät und ohne Tiefgang. Gebührenfreie Bildung, Ausbau der Kitas, vor allem aber mehr Wohnbau und besseren Mieterschutz. Das war ja alles richtig. Aber es reicht  nicht, im Wahlkampffinale neue Forderungen zu stellen, die man bislang vernachlässigt hatte. Natürlich ist das schwierig, aber über die Probleme muss offen gesprochen werden. Man müsste zum Beispiel ein soziales Bodenrecht entwerfen. 

Aber mit welchen Mehrheiten soll das denn umgesetzt werden?
Momentan ist das nicht möglich, klar. Aber für die Ostpolitik gab es in den frühen sechziger Jahren auch keine Mehrheiten. Doch Willy Brandt hat, übrigens als Vizekanzler einer Großen Koalition und als loyaler Außenminister, offen gesagt, was er anders machen würde, wenn er könnte. Das war eine Aufwertung der Demokratie, denn statt um Parteifragen ging es um echte Sachfragen, die der Bevölkerung vor Augen geführt wurden. Aber jetzt weiß der Bürger kaum, wofür die SPD steht. Es gibt einen rasanten Wechsel von Themen, man probiert mal dieses, mal jenes. Die Probleme der SPD sind in ihr selbst, nicht in der Großen Koalition begründet. 

Die SPD sollte also weiter in der Großen Koalition bleiben und die Seehofer-Kröten weiterhin schlucken, wie im Fall Maaßen?
Das ist gerade das falsche Beispiel. 

Warum? 
Das Problem Maaßen war ein Problem der politischen Klasse, nicht der Bevölkerung. Unbestreitbar war das Verhalten von Horst Seehofer unmöglich. Aber es ist doch nicht die größte Sorge der unteren Einkommensschichten oder der Menschen, die Angst vor Ausgrenzung aus wirtschaftlichen oder kulturellen Gründen haben, ob eine Personalentscheidung richtig oder falsch ist. Dass die SPD nun darüber fast die Große Koalition platzen lässt, ist doch wieder bezeichnend dafür, wie weit sie sich von den wirklichen Problemen der Menschen entfernt hat. 

Trotzdem ist es ein Beispiel dafür, dass die SPD in der Großen Koalition am kürzeren Hebel sitzt. 
Noch einmal: Zwei Drittel der Partei haben für die Große Koalition gestimmt. Ich sehe als alter Basisdemokrat gar keine Möglichkeit, diese Koalition ohne wirklich umwerfenden Grund zu verlassen. 

Ist denn das Spitzenpersonal der SPD derzeit überhaupt in der Lage, den Erneuerungsprozess anzugehen?
Auch da muss sich viel ändern, natürlich. Es ist doch absurd, dass die Partei mit Sigmar Gabriel ihren populärsten Repräsentanten in die Wüste geschickt hat. Jetzt weitere Spitzenkräfte abzusägen, würde auch nicht helfen. Die Situation am Abgrund ist so ernst, dass sich da Personalspielchen verbieten. Es muss der dringende Ruf „zur Sache, bitte!“ erfolgen. Sonst wird die SPD bei den nächsten Bundestagswahlen, die möglichersweise außerplanmäßig schnell stattfinden werden, ähnlich abschneiden wie jetzt in Bayern. 

Sigmar Gabriel hat schon 2009 gesagt, die SPD müsse „auch dorthin gehen, wo es brodelt, wo es gelegentlich auch stinkt“. Hat die SPD Themen vernachlässigt, die für sie ein bisschen „bäh“ waren? Sie haben von „verbotenen“ Themen gesprochen.
Selbstverständlich. Das entscheidende Beispiel ist die Flüchtlingspolitik. Man hat sich in einer Art Trancezustand an der Willkommenskultur geradezu berauscht. Grundsätzlich ist es natürlich richtig, die humanitäre Pflicht zur Hilfe wahrzunehmen. Aber wenn Hunderttausende kommen und der Staat nicht einmal weiß, wer das genau ist, gibt es eben auch Sicherheitsprobleme. Da einfach zu bestreiten, dass es unter den Flüchtlingen auch Islamisten gibt, und die Integrationsprobleme zu leugnen, weil das alles nicht ins Konzept der Verklärung passt, war und bleibt ein Fehler. Das geht gegen das ursozialdemokratische Prinzip von Ferdinand Lassale: „Gute Politik beginnt damit, zu sagen, was ist.“

Nun haben Sozialdemokraten überall in Europa Schwierigkeiten. Es gibt aber durchaus erfolgreiche linke Sammlungsbewegungen. In Deutschland haben Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine eine Bewegung gestartet. Wäre das nicht eine Möglichkeit, wieder in die Erfolgsspur zu kommen?
Also, ich schätze Frau Wagenknecht als Buchautorin. Aber die Idee, dass sich Linke, SPD und Grüne einer Bewegung anschließen sollten, die gegründet wurde von einer, die sogar den kleinsten linken Laden auch noch spaltet, und einem, der die SPD tatsächlich schon gespalten hat, das ist doch absurdes Theater. 

Woher soll denn Hoffnung für die SPD kommen?
Eine Partei, die den sozialen Ausgleich anstrebt ohne haltlose Versprechungen zu machen und die mit ihrer ganzen Erfahrung für die internationale Friedenssicherung eintritt, bleibt unentbehrlich, da bin ich mir sicher. Aber es wird eine Zeit dauern, bis die SPD wieder in eine solche Rolle hineinwächst. 

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