Wählerwanderung unter Migranten - „Auch Sarrazin hat die Deutschtürken von der SPD entfremdet“

690.000 Deutschtürken sind bei der Bundestagswahl eine wichtige Gruppe. Nach einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung sind sie in Scharen von der SPD zur CDU gewandert. Das Essener Zentrum für Türkeistudien bezweifelt die Zahlen, bestätigt aber den Trend. Was hat die SPD falsch gemacht?

Die Gastarbeiter sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen – das spiegelt sich auch im Wahlverhalten wieder / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Caner Aver ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Türkeistudien und Migrationsforschung in Essen. Er sitzt für die SPD im Rat der Stadt. 

Herr Aver, die Regel, dass die meisten türkischstämmigen Bürger die SPD wählen, gilt offenbar nicht mehr. Nach einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung haben 2015 noch 50 Prozent von ihnen die SPD gewählt, 2019 waren es nur noch 13 Prozent. Die CDU wählten danach jetzt 53 Prozent, 2015 waren es erst 17 Prozent. Sind die alle abgewandert? 

Ich habe mir die Studie mal angesehen. Ihre Aussagekraft ist nicht sehr stark, was das Wahlverhalten der türkischstämmigen Deutschen betrifft. Befragt wurden von insgesamt 3.000 nur knapp 250 Türkeistämmige. Aber diesen Trend, dass sich speziell türkische Gastarbeiter, beziehungsweise ihre Nachkommen von der SPD abwenden, beobachten wir auch schon seit mehreren Jahren – wenn auch nicht in diesem Ausmaß. Nach unseren Studien wählen rund zwei Drittel der türkischstämmigen Bürger die Mitte-Links-Parteien – Linke, Grüne und SPD. 

Die Konrad-Adenauer-Stiftung steht der CDU nahe. Unterstellen Sie ihr, dass sie mit der Studie vor der Bundestagswahl Stimmung für die Partei machen will?

Ich will das auch gar nicht bewerten. Ich verweise nur auf andere Studien, die diesen Trend zur CDU zwar belegen, aber eben nicht in dieser Deutlichkeit. Nach unserer eigenen Studie von 2017 unter 1.527 türkischstämmigen Haushalten kam die SPD bei der Parteipräferenz auf 44  Prozent und bei der CDU nur auf 12 Prozent. Nach einer Studie der Uni Duisburg-Essen von 2017 wählten 35 Prozent die SPD und 20 Prozent die CDU. In der zweiten Generation haben 40 Prozent der SPD die Stimme gegeben und 14 Prozent der CDU. 

In beiden Studien schneidet die CDU deutlich schlechter als in der Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung ab. Trotzdem bröckeln die Bindungen zur SPD. Liegt es daran, dass es immer weniger Arbeiter gibt? Oder fühlen sich die Menschen nicht mehr von der Partei vertreten?

Beides trifft zu. Ein Großteil der ersten Gastarbeitergeneration ist entweder verstorben, im Ruhestand oder in die Türkei zurückgekehrt. Ihre Nachkommen  – und dazu zähle ich mich auch – haben einen sozialen und bildungsökonomischen Aufstieg geschafft. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und setzen andere Prioritäten. 

Inwiefern ändern sich dadurch Parteipräferenzen?

Es kommen stärker Werte zum Tragen, die mit den zum Teil konservativen Werten der CDU übereinstimmen – zum Beispiel die Einstellung zur Religion, zur Familie und zur Homosexualität. Unternehmer wählen eher die FDP wegen der Wirtschaftsliberalität. Migranten, die eher eine Affinität zum Klimaschutz haben, nähern sich eher den Grünen an.

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Eigentlich eine ganz normale Entwicklung, oder?

Ja, das sagt die Studie ja auch. Und auch unsere eigenen Umfragen zeigen, dass sich das parteipolitische Portfolio in den vergangenen 30 Jahren aufgefächert hat.

Aber woher rührt die Entfremdung von der SPD?

Unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder wurde die Einwanderungsrealität erstmals debattiert, mit einer Integrationspolitik begonnen und die EU-Annäherung der Türkei forciert, das hat viele Sympathiepunkte für die SPD gebracht. Sowohl die Arbeitsmarktreform Hartz IV als auch der Bruch des Versprechens 2013, keine Koalition mit der CDU ohne die Doppelte Staatsbürgerschaft einzugehen, hat Vertrauen gekostet. Am Ende gab es die Koalition doch. Die Enttäuschung in der türkisch-stämmigen Community darüber war riesig. Der Anteil der Nichtwähler ist auf 32 Prozent angestiegen, und Nationalkonservative haben sich stärker der CDU zugewandt.

 

Caner Aver / dpa 

Dabei hat die CDU doch diese doppelte Staatsbürgerschaft verhindert.

Ja, das ist ein Paradoxon. Der SPD haben diese Protestwähler vorgeworfen, sie habe ihr Versprechen nicht gehalten und ihr Unglaubwürdigkeit vorgeworfen.

Die CDU gilt auch nicht als besonders moslem-freundlich. Es gibt Christdemokraten, die der Ansicht sind, dass Muslime keine Mitglieder werden dürfen. Was finden türkischstämmige Wähler dort, was sie nicht bei der SPD finden?

Die CDU ist eben eine Volkspartei mit verschiedenen Flügeln. Damit haben sich türkisch-stämmige CDU-Wähler abgefunden. Durch Angela Merkel ist die CDU in die Mitte aufgerückt und verfolgt eine eher liberale Integrationspolitik. Das erste Integrationsministerium ist in NRW unter der CDU-Herrschaft entstanden. Armin Laschet ist eine wichtige Personalie ... 

... möglicherweise der neue Kanzler. Ist die CDU durch den neuen CDU-Parteichef wählbarer geworden für Migranten? 

Ja, und das, obwohl er ja andererseits nicht für das kommunale Wahlrecht für Ausländer steht. Ein wichtiger Punkt ist aber auch: In der CDU werden türkischstämmige Politiker und Politikerinnen gezielt gefördert.

Sie spielen auf Serap Güler an, die Staatssekretärin für Integration in NRW?

Zum Beispiel. Aber auch auf Aygül Özkan, die von 2010 bis 2013 Ministerin für Frauen, Soziales und Integration in Niedersachsen war. Diese gezielte Förderung gibt es in der SPD nicht. Für die Betroffenen ist das aber ganz wichtig, denn politische Repräsentanten in den Parlamenten sind wichtige Vorbilder. Viele Migranten fordern eine Migranten-Quote, um die gesellschaftliche Realität abzubilden. Ein Blick in die Parlamente zeigt aber, dass besonders türkischstämmige Deutsche deutlich unterrepräsentiert sind im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung. Man findet sie eher bei den Grünen, Linken oder in der SPD.

Von den sieben Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund sind 2,8 Millionen türkischstämmig. 690.000 sind wahlberechtigt. Für die bevorstehende Bundestagswahl ein wichtiger Faktor. Was weiß man über die politischen Einstellungen dieser Gruppe?

Was viele verbindet, sind Probleme mit Rassismus, Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Bildungsbenachteiligung oder Jugendgewalt. Etwa zwei Drittel sind eher konservativ und religiös. Eine andere Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat ja auch gezeigt, dass gut jeder zweite von ihnen regelmäßig betet. Das rückt Teile von ihnen in die Nähe einer konservativen Partei wie der CDU.

250.000 von ihnen besitzen die doppelte Staatsbürgerschaft, viele von ihnen sind Erdogan-Anhänger. Einen Diktator zu wählen und die CDU, wie passt das zusammen?

Die Anhänger Erdogans betrachten ihn nicht als Diktator, sondern als starken politischen Anführer in politisch unruhigen Zeiten. Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn seine Anhänger in einem nationalistischen, konservativen und religiösen Lager verortet sind. In der Türkei sind das die AKP und die MHP – und hierzulande die CDU. 

Aber man kann doch nicht beide Parteien in einem Atemzug erwähnen.

Es ist ein bisschen paradox, das stimmt. Aber diese Klientel findet sich am ehesten in der CDU wieder, auch wenn die natürlich ein anderes Verständnis von Demokratie und Rechtstaatlichkeit hat als die AKP und die MHP.  Ihre Anhänger sind in diesem Punkt pragmatisch.

Als ein Grund, warum türkischstämmige Deutsche der SPD den Rücken gekehrt haben, wird immer wieder der Buchautor Thilo Sarrazin genannt, der nach jahrelangem Hin- und Her aus der Partei ausgeschlossen wurde.

Die Causa Sarrazin hat gezeigt, dass sich die SPD damals  – auch wenn sie eine Volkspartei ist – nicht klar und deutlich genug vom Rassismus von Sarrazin positioniert hat. Sie hat sich von Anfang an nicht genug dafür eingesetzt, ihn nach der Veröffentlichung seines unrühmlichen Buches „Deutschland schafft sich ab“ aus der Partei zu entfernen.

Muss eine Volkspartei so eine Stimme in ihren Reihen nicht auch akzeptieren?

Könnte man meinen. Die SPD ist aber eine antifaschistische Partei, und deshalb hätte das Parteiausschlussverfahren viel früher und geschlossener beginnen müssen.

Aber macht man es sich nicht zu einfach, wenn man Sarrazin zum Buhmann macht?

Nein, die Person Sarrazin steht exemplarisch für eine bestimmte Haltung. Seine Aussagen in seinen Büchern sind menschenverachtend und rassistisch. Und vor dem Hintergrund der Reihe von rassistischen Anschlägen, die von Mölln bis Hanau reichen, haben Migranten von der SPD erwartet, dass sie dieser Ideologie einen Riegel vorschiebt.

Aber das kann doch nicht der einzige Grund sein.

Nein, auch der Protest gegen die Einführung von Hartz IV hat eine wichtige Rolle gespielt. Von dieser Reform waren viele türkischstämmige Deutsche betroffen. Die Reform hat den Eindruck vermittelt, dass die SPD eben nicht mehr die Stammpartei der Arbeiter ist. Nach den Studien, die mir vorliegen, ist sie gleichwohl immer noch die wichtigste Partei für Türkischstämmige. 

Unter ihren neuen Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist sie nach links gerückt und reitet jetzt auch auf der Welle der Identitätspolitik mit. Müsste das den Kindeskindern der Gastarbeiter nicht entgegenkommen?

Jein. Das sind keine politischen Felder, die eine große Wählermasse unter Migranten dazu bringen könnte, umzudenken und doch wieder die SPD zu wählen. Der Vorstoß von Saskia Esken, Rassismus in den Sicherheitsbehörden zu prüfen, war aber richtig und wichtig für Migranten.

Was wäre denn ein Thema, mit dem die SPD Deutsch-Türken ansprechen könnte? 

Neben der Bekämfpung von Rassismus und Bildungsbenachteiligung ist die doppelte Staatsbürgerschaft immer noch so ein großes Thema. Die SPD-Fraktion im NRW-Landtag will es dieses Jahr in den Landtag einbringen, später soll darüber im Bundesrat entschieden werden. Aber dagegen gibt es jetzt Vorbehalte.

Weil die SPD dieses Versprechen schon einmal nicht eingelöst hat?

Genau. Es heißt, das sei ein Wahlkampfmanöver. Die Partei würde es auch diesmal nicht schaffen. Sie lüge sowieso. Dabei wird verkannt, dass die SPD das ja nicht allein entscheiden kann und auf die Bereitschaft anderer Parteien angewiesen ist. 

Wie lange wird es noch dauern, bis Deutschland den ersten türkischstämmigen Bundeskanzler oder die erste türkischstämmige Bundeskanzlerin bekommt?

(lacht) Das wird noch sehr lange dauern. Dafür müssten zwei Voraussetzungen gegeben sein. Erstens müssten sich viel mehr Migranten in den Parteien engagieren und in Spitzenpositionen verankert sein, um aus dieser Gruppe jemanden zu gewinnen, der, beziehungsweise die kompetent genug ist. Und zweitens müssen auch noch die Partei und die Gesellschaft dafür bereit sein. Und ich glaube nicht, dass sie das in den nächsten zehn, 15 Jahren tatsächlich schon sind. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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