Zukunft der CDU - Konservativ ist, was funktioniert – also wenig

Es braucht ein Godesberger Programm für die Union. Klare Kante ist jetzt unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Wiederbelebung der deutschen Konservativen. Erst dann kann die Opposition zu einer echten Regierung im Wartestand werden.

Friedrich Merz / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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NATO-Nachrüstung und deutsche Wiedervereinigung waren die beiden letzten großen konservativen Projekte, die funktionierten. Die Nachrüstung erwies sich als wesentliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Wiedervereinigung machte aus einer moralisch und materiell ruinierten Zone innerhalb weniger Jahre ein ansehnliches Staatengebilde – eine Leistung, für die Deutschland auch 31 Jahre später immer noch in aller Welt bewundert wird. Die Hasstiraden auf Helmut Kohl wegen seines Versprechens blühender Landschaften sollten lediglich ablenken vom peinlichen Versagen von SPD und Grünen im Schicksalsjahr 1990. In der Sache behielt der Kanzler recht, auch wenn es länger dauerte, als er ahnen konnte, nachdem selbst führende Ökonomen den Zustand der DDR-Wirtschaft bis zuletzt grotesk überbewertet hatten.        

Was aber nach der Wiedervereinigung kam an konservativen Reformprojekten, ist entweder bereits gescheitert (Deutsche Bahn, Bundeswehr) oder scheitert gerade vor unseren Augen (Euro, Europäische Union, Asyl und Einwanderung, am Ende gar die Reform der Parteien CDU und CSU selbst). Hartz IV und die Rettung von Umwelt und Natur hierzulande hätten genuin konservative Projekte sein müssen, wurden aber im Wesentlichen von einem SPD-Kanzler und den Grünen durchgesetzt und deshalb auch auf ihr Konto gebucht. 

Friedrich Zimmermann (CSU) verfügte 1984 gegen das Geschrei der Autoindustrie und erbitterten Widerstand von Frankreich und Italien erst bleifreies Benzin und dann den Katalysator, Klaus Töpfer (CDU) schwamm 1988 nach der Sandoz-Schweinerei durch den Rhein und Angela Merkel (der CDU nahestehend) zeigte 2007 zusammen mit Sigmar Gabriel (der SPD nahestehend) ein Herz für Eisbären. Das war es im kollektiven Gedächtnis aber auch schon; der nicht einmal halbwegs zu Ende gedachte Atomausstieg von 2011 innerhalb eines Wochenendes fiel bereits in die Kategorie „Panikreaktionen“. Seine Folgen für Versorgungssicherheit, Preise und neue Abhängigkeiten vom Ausland stehen uns noch bevor. 

Bildungsmisere und Pandemie

Was die Dauer-Misere der Schulen angeht, ist ein ernstzunehmendes Reformkonzept auch nach Jahrzehnten der Diskussion nicht einmal in Umrissen erkennbar, womit die Union ein weiteres originär konservatives Kernthema in erschütternder Weise ignoriert, woran nicht einmal ihre Serie von Demütigungen in Baden-Württemberg etwas zu ändern vermochte. Als die wenigen verbliebenen Konservativen Bernhard Vogel, Kurt Biedenkopf und Edmund Stoiber abdankten, endete die triumphale Ära der Union in Thüringen, Sachsen und sogar in Bayern. Und dass die Regierungschefs der Union ihre Länder überzeugender durch die Pandemie steuerten als jene von SPD, Linken und Grünen, mag, Markus Söder und Michael Kretschmer sei Dank, auch niemand behaupten.        

Soweit die wenig erbauliche Lagebeschreibung Anfang 2022. Was folgt aus ihr? Nicht, was man auf den ersten Blick meinen könnte: Dass mit konservativen Haltungen, Rezepten und Politikern kein Staat mehr zu machen sei. Zutreffend ist das exakte Gegenteil: Wenn immer weniger in Deutschland funktioniert, dann liegt das an einem Mangel an fähigen konservativen Machern und Vordenkern mit einem ausreichenden Maß an Machtwillen und Machtbewusstsein. Inwieweit das - zum Glück eindeutige - Votum für Friedrich Merz hier die Wende bringen kann, ist zur Stunde noch offen. 

Als der 66jährige neulich begann, Liebenswürdigkeiten an die Adresse Merkels zu flöten, und dabei beteuerte, er stehe „für die ganze Breite der Partei“, hielten nicht wenige Unterstützer bereits die Luft an, ob jetzt nicht vielleicht auch er anfangen werde, in Begleitung von Fotografen Bäume zu stalken, und ob bei ihm nun die gleiche „Linksvergrünung“ stattfinde, die bereits das Profil von Markus Söder so gefährlich verschwimmen ließ. Hat er sich, so die bange Frage, nun doch irre machen lassen vom Trommelfeuer, er sei „ein Mann von gestern“, über den „die Zeit hinweggegangen“ sei, der die Probleme und Aufgaben von morgen mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts lösen wolle und damit zwangsläufig scheitern müsse? Zeigen die medialen Dauerohrfeigen für den „alten weißen Mann“, noch dazu einen mit Geld und Gespür fürs Geschäft, ausgerechnet jetzt Wirkung, wo er ein wichtiges Etappenziel erreicht hat?

Drohende Fehler

Tatsache ist: Friedrich Merz muss aufpassen, dass die nächsten Wahlergebnisse in den Ländern ihm nicht bereits um die Ohren gehauen werden. Es gilt also, seine Präsenz im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein klug zu dosieren. Macht er zu wenig, war er schuld, macht er zu viel, erst recht. Dass er den in jeder Hinsicht überforderten und vielleicht nicht absichtlich, aber de facto stümpernd-illoyalen Generalsekretär Paul Ziemiak nicht unverzüglich ausgetauscht hat, könnte sich als erster schwerer Fehler nach dem Basis-Votum erweisen. 

Im Machtkampf um Schloss Bellevue hat sich Merz bisher ebenfalls nicht nachvollziehbar positioniert. Eine Reaktion auf den Vorstoß von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, die Union solle eine Frau nominieren und gegen Frank-Walter Steinmeier antreten lassen, blieb bislang ebenfalls aus. Sicher: Er will nicht sehenden Auges in eine Niederlage schlittern. Doch erstens haben Bundesversammlungen ihre eigenen Gesetze, die wiederholt schon zu höchst überraschenden Ergebnissen führten, und zweitens ist das Schweigen der Grünen ein weit geöffnetes window of opportunity, das einen cleveren Schachzug der Union regelrecht herausfordert. Eine solche Chance, gleich jetzt einen schweren Keil in die Ampel-Koalition zu treiben, lässt kein Mann ungenutzt, der gegen alle Widerstände doch noch Kanzler werden will nach dem Motto unverhofft kommt oft Olaf Scholz ist heute gegen jede Wahrscheinlichkeit Bundeskanzler. 

Das alles sollte als Argument für das eine oder andere vertrauliche Gespräch des designierten CDU-Vorsitzenden mit den amtierenden Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock eigentlich ausreichen. Oder finden solche bereits statt? Steinmeier hat als Bundespräsident jedenfalls nicht Qualitäten gezeigt, die Hemmungen von Merz und Söder begründen könnten, hier eine Gegenposition aufzubauen, zumal das Motiv der FDP, kraftmeierisch beweisen zu wollen, was alles mit ihr und ihren zehn Prozent geht und was nicht, nun wirklich ein denkbar schwaches ist.        

Das Scheitern der Anderen

Zurück zum Ausgangspunkt. Konservativ ist, was funktioniert. Dieses Paradigma hat für CDU und CSU einen großen Vorteil – und einen fast ebenso großen Nachteil. 

Der Vorteil: Was Linke und Grüne anpacken, funktioniert mit inzwischen geradezu gesetzmäßiger Sicherheit nicht, wobei die sogenannte Energiewende, die Verschiebung immer neuer Kompetenzen zur EU-Kommission, die Zerstörung der deutschen Automobilindustrie samt Zulieferern, das Scheitern vieler Einwanderer an den Integrationsanforderungen oder der Missbrauch der Europäischen Währungsunion für unbegrenzte und ungedeckte Staatsverschuldung nur die offensichtlichsten Beispiele sind. Was die Details angeht, genügt ein Blick zur miserabelst von Rot-Grün-Rot verwalteten Bundeshauptstadt, die, etwa in der Wohnungspolitik, regelrecht ins Scheitern verliebt ist. 

Eine nagelneu und selbstbewusst auftretende Oppositionspartei mit konservativem Selbstverständnis á la Macrons La République en Marche wüsste gar nicht, wo sie anfangen sollte, der Regierung ihre ideologiegetriebenen, auf haarsträubender Realitätsleugnung basierenden Fehler und Irrtümer um die Ohren zu hauen. 

Der Nachteil: Bei alldem war die Union dabei, mindestens duldend, oft aber sogar fördernd und fordernd. Die Liste ist auch und besonders eine Liste der Fehler und Irrtümer der Ära Merkel. Solange Friedrich Merz sich von dieser nicht klipp und klar distanziert, werden ihm immer die Hände gebunden sein, sobald es programmatisch zur Sache geht, im Bundestag, im Wahlkampf, in der Talkshow. Fast schon komisch: Als an Silvester ohne Sinn und Verstand drei weitere Atomkraftwerke abgeschaltet wurden, kam aus der dritten Reihe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein zaghaftes Lob, das Atomgesetz werde weiterhin brav befolgt, aber dabei dürfe die neue Regierung jetzt nichts falsch machen, um die Versorgungssicherheit nicht zu gefährden. Dabei wäre es konservativ im Sinne von bewahrend, ja rettend gewesen, zu erklären, dass 2021 völlig falsch sein könne, was zehn Jahre zuvor noch als richtig geglaubt wurde. 

Ein Godesberg für die CDU

Es hilft nichts: Die Union braucht ein eigenes Godesberg, um politisch-inhaltlich wieder frei und vor allem richtig arbeiten können, um nachhaltig – hier ist das Wort einmal am Platze – funktionierende Politik hervorzubringen. Anstelle von respektvollem Gesäusel gegenüber der Altkanzlerin ist klare Kante gefragt, damit Wählerinnen und Wähler endlich wieder erkennen können, woran sie sind bei diesen beiden Parteien. Falls Merz es nicht von alleine bemerkt, sei es ihm hiermit noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt: Die klare Mehrheit für ihn ist ein Mandat auch und erst recht für diesen überfälligen Schnitt. 

Angela Merkel hat es Weihnachten 1999 mit Helmut Kohl nicht anders gemacht, und Kohl ist, siehe oben, bei allen persönlichen Schwächen eine historische Figur. Als es darauf ankam, hat er funktioniert. Sie sagte zu ihm „Danke“, sie sagte aber auch, nun sei es genug; die CDU müsse „wieder laufen lernen“, denn Kohl habe der Partei „Schaden zugefügt“. 18,9 Prozent CDU-Zweitstimmenanteil am 26. September 2021 – das sollte im Vergleich mit Kohl allemal ausreichen, um ebenfalls als „Schaden“ durchzugehen. Wahrscheinlich wundert sich niemand mehr über das Ausbleiben eines solchen harten Schnittes als Merkel selbst. 

Wieder laufen lernen

Außerdem: Angela Merkel war damals lediglich Generalsekretärin von Schäubles Gnaden, während sich Merz bei einem solchen Schritt auf eine valide Legitimation durch die Parteibasis berufen könnte. Was bedeutet: Der Text für eine solche unvermeidliche Zäsur schriebe sich von selbst. Unvermeidlich, weil sie unabdingbare Voraussetzung ist für jede erfolgreiche Wiederbelebung der deutschen Konservativen. Solange sie sich nicht von Merkel emanzipieren, werden sie stets für die Folgen ihrer Politik in Mithaftung genommen werden und machtlos bleiben. Das wissen ihre Gegner – und nutzen das nach Kräften aus.

Zuletzt muss Friedrich Merz noch auf eine ganz praktische Weise schnell funktionieren. Seine Arbeitsthese, nun sei erst einmal in aller Ruhe in den kommenden zwei Jahren Neuorganisation in der Opposition angesagt, könnte schon morgen von der Realität widerlegt werden. Was, wenn die Abschaltung der vorletzten drei Atomkraftwerke das Strom-Domino ins Kippen bringt, wofür lediglich fünf, sechs ungünstige Faktoren zusammenkommen müssen? 

Was, wenn eine furchtlose Kölner Staatsanwältin in den von ihr in Hamburg beschlagnahmten Unterlagen morgen jene E-Mail findet, die ihr noch fehlte, um nach Scholz-Spezi Johannes Kahrs nun auch gegen Olaf Scholz selbst zu ermitteln? Glaubt jemand im Ernst, der Mann könnte dann im Amt bleiben? Da ist jede Hoffnung verfehlt, spätestens, seit führende Sozialdemokraten und Grüne vor zehn Jahren einen Bundespräsidenten aus dem Amt mobbten, dessen vermeintliche Verfehlungen später vor Gericht nicht einmal zu einem 20-Euro-Strafzettel reichten, weil er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.    

Wer etwas will, muss es zeigen

Nein: Der Satz, die Opposition sei eine Regierung im Wartestand und müsse notfalls morgen die Amtsgeschäfte übernehmen können, war nie so richtig wie heute. Schade nur, dass ausgerechnet ein Friedrich Merz keinerlei Anstalten macht, ihn zu beherzigen. Und ja, er wird auch Ralph Brinkhaus nicht durch gutes Zureden zum Verzicht bewegen können, sondern im Ernstfall durch eine Kampfkandidatur um den Fraktionsvorsitz. Na und? Jener hat es doch vor drei Jahren gegen Merkels Liebling Volker Kauder genauso gemacht – und kam dabei überraschend aus der Deckung. Es gibt also auch hier keinerlei Anlass, den Großmütigen zu mimen. Wer in der Politik etwas will, muss das auch zeigen und notfalls beweisen. Geschenkt wird da nichts. Die Leute wollen wissen, ob es einer ernst meint. In der Opposition noch mehr als in der Regierung.

Friedrich Merz muss funktionieren, die CDU muss funktionieren, die Union insgesamt muss funktionieren, wenn sie wieder die Richtlinien der Politik bestimmen will. Gut möglich, dass Merz viel weniger Zeit für seine Pläne hat, als er glaubt. Und mit diesen Plänen hat er nur dann eine Chance, wenn er zuvor glaubwürdig mit den Fehlern der Vergangenheit aufräumt, wozu er sie erst einmal benennen muss. Diesen Job nimmt ihm keiner ab. 

Keine andere als Merkel hat ihm gleich mehrfach gezeigt, wie das geht: Freundlich, aber bestimmt und notfalls auch, als es 2002 gegen ihn ging, gnadenlos. Das ist der Lauf der Welt und im Übrigen in der Kanzlerpension eingepreist. Denkmalschutz ist in der deutschen Politik nicht vorgesehen. 
 

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