Die CDU/CSU und die Impfpflicht - Einmal hin, einmal her

Unionspolitiker wie Markus Söder und Friedrich Merz wollen auf einmal die einrichtungsbezogene Impfpflicht für Pflegeberufe stoppen, sich von der allgemeinen Impfpflicht aber noch lange nicht verabschieden - wenn’s sein muss, auch nur für Über-50-Jährige. Irgendjemandem muss der Staat schließlich seine Fürsorge angedeihen lassen.

Daumen hoch für die allgemeine Impfpflicht: Markus Söder und Freidrich Merz / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Fürsorge ist eine schwere Haltung. Generationen von Philosophen haben sich über diesen ambivalenten Begriff schon den Kopf zerbrochen. Bei Rumi, dem größten Mystiker des Morgenlandes, heißt es an einer Stelle einmal, ihm sei die Feder zerbrochen und das Papier zerrissen, als er über Sorge und Liebe nachdachte. Wen wundert’s: An der Grenze zwischen Du und Ich lauern eben Fallstricke und große Gefahren.

Richtig problematisch wird es indes erst, wenn der Riss, von dem Rumi da einst fabulierte, nicht nur durch ein Blatt Papier, sondern am Ende durch das Denken, Reden und Handeln einer vormals mit sich selbst identischen Person geht. Eine solch schier unhaltbare, weil zerrissene Situation lässt sich derzeit bei Markus Söder (CSU) beobachten. Seit der bayerische Ministerpräsident in jedweden Fürsorge-Fragen rund um Corona nämlich dem sogenannten „Team Vorsicht“, aber auch dem „Team Augenmaß“ zugleich angehört, scheint er mehr und mehr mit gespaltener Zunge zu reden.

Dem zermürbten Pflegepersonal drohen

Gestern etwa schlug Söders Selbstentfremdung vollends zu. Im Anschluss an eine Sitzung des CSU-Vorstands in München sagte der einstige Corona-Hardliner vor versammelter Presse, er wolle den Vollzug der eigentlich schon im Dezember beschlossenen und für März angesetzten einrichtungsbezogenen Impfpflicht zunächst noch einmal aussetzen. Zwar sei er generell für eine Impfpflicht, eine partielle Lösung sei in der Omikron-Welle aber wenig hilfreich. Andernfalls nämlich stünde zu befürchten, dass es in Pflegeeinrichtungen zu Schwierigkeiten bei der Versorgung des Personals kommen könne.

Einen Fuß vor, einen zurück, dann seitwärts und wieder ran! Der Eiertanz, den die Union seit Wochen in der Causa „Impfpflichten jeglicher Art“ aufführt, ist an Wankelmut nicht mehr zu überbieten. Generelle Impfpflicht: ja! Partielle Verfügungen: nein! Als wäre das Ganze nicht auch die Summe der einzelnen Teile, scheint Markus Söders Impfstrategie von der Hoffnung getragen zu sein, dass es am Ende schon nicht so schlimm mit dem Pflegenotstand würde, wenn nur jenseits der Hospitäler und Heime genügend Injektionsnadeln parat lägen, mit denen man den ohnehin zermürbten Pflegerinnen und Pflegern auch abseits einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht drohen kann.

Unüberwindliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung

Und als wäre das wirklich eine zukunftsweisende Corona-Strategie, springt ihm jetzt auch noch der Vorsitzende der Schwesterpartei CDU in seiner reaktionsträgen Zerrissenheit bei: Am Rande eines Treffens mit den Fraktionsvorsitzenden von CDU und CSU in Saarbrücken forderte Friedrich Merz gestern die Ampel-Regierung dazu auf, den für Mitte März geplanten Vollzug der einrichtungsbezogenen Impfpflicht in ganz Deutschland zu stoppen, da es bei der Umsetzung unüberwindliche Schwierigkeiten und einen massiven Personalabzug gebe. Zwar habe auch die CDU dem Vorhaben ursprünglich einmal zugestimmt, dies aber nur, weil man davon ausgegangen sei, dass die Probleme bei der Umsetzung gelöst werden könnten. Offensichtlich sei das nicht so: Die Regierung ließe die Einrichtungen und die Beschäftigten bei den Folgen der Impfpflicht vollkommen allein.

Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer! Wer jetzt aber glaubt, mit den Interventionen der Union-Chefs sei endlich auch die allgemeine Impfpflicht vom Tisch, der sollte sich nicht vorschnell falschen Hoffnungen hingeben: Ein „Nein“ ist bei einer Opposition im Selbstfindungsmodus eben noch kein „Nein“, ebenso wie ein „Ja“ auch kein „Ja“ ist. Aus Kreisen der CDU-Fraktion jedenfalls hieß es gestern, dass der Vorstoss von Söder und Merz nicht abgestimmt gewesen sei und dass es in der kommenden Woche eine intensive Debatte um die generelle Impfpflicht geben werde, an deren Ende dann ein eigener Antrag der Fraktion stünde. Auch wenn der natürlich inhaltlich noch nicht klar umrissen ist, so dürfte er zumindest auf eine allgemeine Impfpflicht in einem abgespeckten Modus hinauslaufen – vermutlich eine Impfpflicht ab 50. Irgendjemand muss halt am Ende da sein, dem Sorge und Fürsorge des Staates vollumfänglich gelten kann.

Gesellschaften in Geiselhaft für apokalyptische Hypothesen

Denn dass auch die Impfpflicht ab 50 juristisch wie medizinisch zweifelhaft ist – weder weiß man ja heute schon um die Gefährlichkeit einer im Herbst 2022 auftauchenden Mutante, noch um die dann nötigen Impfstoffe, deren Anwendung oder Wirksamkeit –, spielt bei allen Überlegungen keine Rolle. Auch dass immer mehr Experten Abstand von der Idee einer allgemeinen Impfpflicht nehmen – zuletzt etwa der Virologe Hendrik Streeck, der in einem Focus-Interview davor warnte, Gesellschaften in Geiselhaft für apokalyptische Hypothesen zu nehmen –, scheint die parlamentarischen Sphären nicht mehr zu erreichen.

Das Virus ist in Deutschland eben längst politisch geworden. Und ein wenig erinnern die hiesigen Debatten über den Sinn und Unsinn von Impfpflichten an jene bizarren Kuraufenthalte, über deren Nutzen nicht mehr der behandelnde Badearzt, sondern der Betreiber des örtlichen Kurhotels entscheidet. Wenn das der Stand der Impfpflichtdebatte in Kreisen der Union ist, dann findet das immer lauter werdende Opponieren in der Bevölkerung leider kaum noch einen Widerhall im Parlament. Für die CDU/CSU kann das eigentlich nur eines bedeuten: Reden wir endlich mal über Oppositionspflicht. Das wäre ein wirklicher Dienst an der Debatte sowie an der Sorge um das Wohl der Menschen im Land.

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