Kritik aus der CDU am Corona-Kurs der Regierung - „Wenn wir jetzt nicht lockern, geht es bis 2022 so weiter“

Die heutige Ministerpräsidentenkonferenz dürfte den Lockdown noch einmal in die Verlängerung schicken. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Mattfeldt erklärt, warum er den Kurs der Bundesregierung für verantwortungslos hält und was er stattdessen von ihr erwartet.

„Da werden Existenzen vernichtet“: Andreas Mattfeldt fordert eine Verhältnismäßigkeit der Corona-Schutzmaßnahmen / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Andreas Mattfeldt ist Unternehmer und seit 2009 CDU-Abgeordneter im Deutschen Bundestag.

Herr Mattfeldt, der zweite Lockdown dauert jetzt schon seit dem 15. November. Was vermissen Sie am meisten?

Vier Monate Lockdown bedeuten für viele: vier Monate keine Einnahmen. Vier Monate Existenzangst. Ich vermisse eine Perspektive, wann das Berufsverbot für viele aufgehoben wird.

Als Bundestagsabgeordneter haben Sie dieses Problem nicht. Was vermissen Sie für sich persönlich?

Ich vermisse es, einfach mal spontan mit Freunden ein Glas Wein trinken oder eine Pizza essen zu können. Ich vermisse Lebensqualität, die einfach zum menschlichen Miteinander gehört. Das findet ja schon fast seit über einem Jahr nicht statt. Die Bundeskanzlerin hat gestern gesagt, wieso, im Sommer sei doch alles normal gewesen. Also, ich fand den Sommer alles andere als normal. Insbesondere junge Leute vermissen, auch mal Party zu machen.

Sprechen Sie da für Ihre beiden Töchter?

Unter anderem. Ich habe im Sport aber auch viel mit jungen Leuten zu tun. Viele sagen: „Wir können nicht mehr.“ Jetzt nehmt Ihr uns schon das zweite Jahr unserer Jugend. Bei uns in der Region sind jetzt schon die Osterfeuer abgesagt, und man spricht davon, die Erntefeste im September abzusagen. 

Der Lockdown wird jetzt wahrscheinlich um vier Wochen verlängert – auch vor dem Hintergrund der Angst vor der britischen Mutation. Die ist jetzt zum ersten Mal auch in Ihrem Wahlkreis aufgetreten. Ist Vorsorge da nicht extrem sinnvoll?

Wir sind ja schon seit einem Jahr vorsichtig. In meinem Wahlkreis in Osterholz liegt die Inzidenz bei 22,6.

Andreas Mattfeldt, CDU / dpa

Das ist eine der niedrigsten bundesweit.

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Genau. Wir haben durch Corona keine überlasteten Krankenhäuser. Die Mutation ist schon mehrere Wochen in Deutschland nachgewiesen. Ein Anstieg des Inzidenzwertes ist aber nicht zu verzeichnen. Im Gegenteil. Ich hab mir mal die Zahlen aus Großbritannien und Irland angesehen. Dort hat es einen schnellen Anstieg der Verbreitung gegeben – aber auch einen ebenso schnellen Rückgang.

Was schließen Sie daraus?

Als Abgeordneter unterhalte ich mich mit Medizinern und Virologen. Dort gibt es Experten, die mir glaubhaft erklären, dass diese Mutation schon massiv durchgeschlagen hätte, wenn sie so gefährlich wäre, wie die Bundeskanzlerin das darlegt – und darauf ja auch Entscheidungen weiterer massiver Einschränkungen der Freiheits- und Grundrechte begründet.

Kennen Sie Menschen, die an Corona erkrankt sind und deshalb auf der Intensivstation künstlich beatmet werden mussten?

Nein, ich kenne nur asymptomatische Fälle, die einen leichten Verlauf genommen haben beziehungsweise gar keine Symptome haben. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hat ja gesagt, irgendwann werden wir alle jemanden kennen, der an Corona gestorben ist. Das ist zum Glück noch nicht eingetreten. Aber diese Tonalität gehört leider zum Angstszenario dazu.

Was heißt Angstszenario? Solche Fälle gibt es tatsächlich. Und nach allem, was man hört, ist es der Horror.

Die gibt und gab es leider auch bei der Influenza oder bei älteren Vorerkrankten durch das Norovirus. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Das ist ein verdammt fieses Virus. Das ist hochansteckend, keine Frage. Aber als Politiker muss ich schauen, was ich damit auslöse, wenn ich die Entscheidung treffe, den Lockdown über so lange Zeit fortzuführen. Ich muss immer auch Kollateralschäden betrachten, auch gesundheitliche. 

Und welche Folgen hat die Pandemie für Ihren Wahlkreis?

Den Menschen, die einen sicheren Arbeitsplatz haben, weil sie im Öffentlichen Dienst arbeiten, geht es am Mors vorbei, wie wir in Norddeutschland sagen. Aber nehmen Sie die Mitarbeiter in der Gastronomie, die seit November in Kurzarbeit sind. Die können nicht mehr. Oder die Friseure. Auch den Einzelhandel hat es schwer getroffen. Ich kenne den Inhaber eines Geschäfts für Brautmoden. Der hat 2020 nur homöopathische Dosen an Mode verkauft. Da werden Existenzen vernichtet. Über die Verzweiflung der Familien mit Kindern möchte ich gar nicht sprechen.  

Im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie hat Finanzminister Olaf Scholz die sprichwörtliche „Bazooka“ gezückt und Milliardenhilfen in Aussicht gestellt. Kommt das Geld bei den Antragstellern nicht an?

Es kommt zumindest zu spät an. Es ist einfach nicht angebracht, mit Bildern von einer Bazooka oder einem „Wumms“ eine derart rezessive wirtschaftliche Phase auch noch politisch verkaufen zu wollen. Das ist unredlich. 

Wo hakt es bei der Auszahlung?

An administrativen Dingen, da stehen wir uns in Deutschland ein Stück weit selbst im Wege. Ich weiß, dass sich viele wünschen, am liebsten schnell telefonisch, dass die Hilfen schnell aufs Konto überwiesen werden. Das ist natürlich illusorisch. Es muss aber schneller gehen. Wenn es an programmiertechischen Problemen haken sollte, muss man diese innerhalb weniger Tagen lösen. Natürlich muss man die Auszahlungen auch kontrollieren können. Wir haben im ersten Lockdown viele Missbrauchsfälle bei den Soforthilfen gehabt. Deswegen ist jetzt alles mehrfach abgesichert. Vermutlich haben sich auch deshalb die Auszahlungen verzögert.

Wenn man Sie so reden hört, könnte man auf die Idee kommen, Sie seien Oppositionspolitiker. Dabei sitzt Ihre Partei ja mit in der Regierung. Wen klagen Sie da eigentlich an?

Als Unternehmer und direkt gewählter Abgeordneter bin ich wirtschaftlich unabhängig. Ich spreche naturgemäß immer nur für mich selbst. Auch in anderen Fraktionen gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf die Corona-Politik. Ich mahne schon seit März eine Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen an. Ich bin damit in meiner Fraktion nicht alleine. Es geht, wie gesagt, auch über die Fraktionsgrenzen hinweg. Eine ähnliche Einstellung gibt es auch bei Sozialdemokraten, bei Grünen, Linken und Liberalen. Und natürlich schaue ich dabei auch, was in anderen Ländern passiert.

Nach Italien, wo die Geschäfte trotz höherer Inzidenzzahlen wieder geöffnet haben?

Zum Beispiel. Da sind seit dem 18. Januar der Einzelhandel und die Gastronomie wieder geöffnet. Wenn man der Bundeskanzlerin glauben darf, hätte da nach zwei Wochen ein exponentielles Wachstum stattfinden müssen. Das ist aber nicht passiert.

Was macht Italien anders?

Gar nichts. Sie befolgen meines Wissens nach die klassischen Hygieneregeln. Und das scheint zu funktionieren. In Deutschland haben wir sogar erheblich geringere Inzidenzen, und deshalb darf man schon fragen, warum das bei uns nicht funktionieren kann.

Aber wenn Hygieneregeln reichen würden, wären doch die Zahlen im Herbst nicht angestiegen.

In der kalten Jahreszeit steigen naturgemäß Erkrankungen durch Erkältungsviren, und da macht Corona keine Ausnahme. Jetzt erleben wir einen massiven Rückgang. Auch das ist üblich, hat aber natürlich jetzt auch mit den Hygieneregeln zu tun. Der Mensch ist immer durch Viren belastet. Das liegt in unserer Natur. Sie können uns aber nicht in ein Ganzkörperkondom stecken. Es wird immer Ansteckungen geben. Deshalb betone ich noch einmal: Die Infektionslage in Deutschland war nie so, dass unser Gesundheitssystem dieser in der Gesamtheit nicht standgehalten hat.

Das sagen Querdenker auch. Wollen Sie der Kanzlerin unterstellen, sie habe die Wirtschaft für die Gesundheitsvorsorge über die Klinge springen lassen?

Nein, ich glaube, dass es die Kanzlerin wirklich gut meint. Sie lässt sich aber immer noch von denselben Experten beraten. Ich hätte mir in ihrem Beraterkreis mehr unterschiedliche Auffassungen gewünscht. Als Virologe oder Mediziner müssen Sie immer den besten Schutz fordern. Als Politiker müssen Sie aber auch an den Kollateralschaden denken.

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) befürwortet einen längeren Lockdown. Die SPD hat gerade für den Bundestagswahlkampf ihren Kandidaten für Ihren Wahlkreis nominiert. Laufen Sie sich mit diesem Interview schon mal für den Wahlkampf warm?

Nein, die Pandemie ist überhaupt kein Wahlkampfthema. Wie gesagt, so wie ich denken auch Politiker in anderen Parteien. Wenn wir jetzt nicht verantwortungsvoll lockern, könnte das weitere Drehbuch feststehen: Dann werden wir bis 2022 nicht lockern können, weil es immer wieder neue Mutationen gibt, die gegebenenfalls gegen die Impfstoffe resistent sind. Das können wir nicht wollen. Daran kann ganz Europa kaputtgehen. Wer soll denn das alles bezahlen? Wo bleibt die Perspektive für eine Lösung? 

Den Kurs in der Corona-Politik steuert die Exekutive – die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder. Würde er anders aussehen, wenn die Parlamente dafür zuständig wären?

Das könnte ich mir vorstellen. Das Parlament diskutiert zwar in den betroffenen Gremien darüber, aber in den entscheidenden Fragen hat sich der Bundestag durch das Infektionsschutzgesetz selbst außer Kraft gesetzt. Die Parlamentarier entscheiden nicht über die Aussetzung der Grundrechte über so einen langen Zeitraum.

Aber dafür haben sie ja im November 2020 mit der Reform des Infektionsschutzgesetzes selbst die Weichen gestellt.

Ich habe gegen dieses Gesetz gestimmt. Das Infektionsschutzgesetz entmachtet das Parlament für einen viel zu langen Zeitraum. Die derzeitige Regierung steht zwar auf dem Boden des Gesetzes. Aber es können ja auch andere Mehrheiten entstehen. Und ich möchte nicht, dass dann auch eine Partei darüber entscheidet, die ich zutiefst ablehne.

Sie meinen die AfD?

Genau.

Ist das ein Plädoyer für den Förderalismus in der Krise?

Wenn Sie so wollen. Ich kann es den Bürgerinnen und Bürgern in meinem Wahlkreis kaum noch vermitteln, warum sie ständig weiter Einschränkungen hinnehmen sollen, obwohl sie sich corona-konform verhalten. Im Norden hält man sich an die Regeln. Ich frage mich immer, ob Herr Söder auch die Solidarität einfordern würde, wenn wir umgekehrte Verhältnisse hätten: im Norden hohe Inzidenzen und im Süden niedrige.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt.

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