Carsten Linnemann - Zwischen Anpassung und Auflehnung

Im Kampf um den CDU-Vorsitz gilt Carsten Linnemann neben Jens Spahn und Norbert Röttgen als aussichtsreicher Kandidat. Der Merkel-Kritiker möchte der Partei wieder mehr Profil verschaffen. Doch selbst antreten will er nur, wenn Friedrich Merz zurückzieht.

Carsten Linnemann könnte um den CDU-Vorsitz seinen Hut in den Ring werfen / Julia Steinigeweg
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Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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"Ein Seismograf ist ein Gerät, das Bodenerschütterungen registrieren kann“, so steht es im Lexikon. Der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvize Carsten Linnemann hat so eine Maschine zu Hause, sagt er. Doch der 44-Jährige, seit 2009 im Bundestag, misst nicht die geologische Unruhe, sondern immer wieder die Beben in der CDU. Hunderte Mails habe er nach der Bundestagswahl erhalten, durchgearbeitet und persönlich beantwortet. Sie geben ihm ein klares Bild von den tektonischen Vorgängen im Fundament seiner Partei. Linnemann macht aus dem Lesen der Basiswellen seine Politik, will daraus Autorität gewinnen. 

Vor Jahren schon unternahm Linnemann eine Sommerreise, sammelte unzählige Gespräche ein, kleine und große – und goss sie in ein Buch. „Die machen eh, was sie wollen“ hat er dieses Panorama deutscher Befindlichkeiten genannt. Sowas mutet sich nicht jeder zu.

Generalisten gefragt

Die CDU sucht nach dem Wahldesaster einen neuen Chef. Wieder einmal. Der jungenhaft wirkende Diplom-Kaufmann und promovierte Ökonom Linnemann gilt als neuer Aspirant. Der Paderborner, Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) in der CDU, will aber selbst nur antreten, wenn Friedrich Merz zurückzieht. Ihm galt immer Linnemanns ganze Loyalität, was ihm innerparteilich nicht nur Freunde beschert hat. Im Kampf um die Kanzlerkandidatur unterstützte Linnemann Laschet gegen Markus Söder, das hat ihm Achtung bei seinen innerparteilichen Kritikern eingebracht. Linnemann wirbt nun für einen Mitgliederentscheid in der Union. Der Partei-Seismograf sieht darin seine Chance. 

Er will mehr als ein neuer Merz sein, nennt den früheren Innenpolitiker Wolfgang Bosbach ein Vorbild. Er weiß: Als CDU-Vorsitzender muss er Generalist sein, sich zu vielen Themen äußern. In der Eurokrise und in der Migrationspolitik gehörte er zu den Merkel-Kritikern. „Unter den Flüchtlingen fand sich weniger der erhoffte Arzt als der Analphabet“, schrieb er in einem Buch, deswegen brauche es klarere Maßnahmen und einen Kampf gegen den politischen Islam. Er kann Polemik, von ihm ist auch der Satz: „Die Klimafrage wird nicht an der deutschen Fleischtheke entschieden.“

Linnemann hat sich als sogenannter Konservativer profiliert. Stünde seine Wahl dann für einen – in der Union von manchen ersehnten, von anderen befürchteten – Rechtsruck der Partei? Der Basisflüsterer Linnemann weiß, dass das für die CDU zu wenig ist. 

Der sozialen Marktwirtschaft verschrieben

Die Partei stand schon immer für eine große inhaltliche Bandbreite. Für viele Merkelianer gehört „Abgrenzung nach Rechts“ inzwischen zum Standardvokabular, was zu einer gewissen Spaltung geführt hat. Kann Linnemann Zusammenhalt? „Die CDU braucht wieder mehr Profil“, sagt er. Schlussfolgerung seiner Basisforschung ist: Es braucht mehr klare Kante und Haltung: „Die Menschen schätzen uns mehr, wenn wir zehn deutliche und feste Positionen haben, selbst wenn sie nur die Hälfte teilen, als wenn wir gar keine Positionen zeigen.“

In Paderborn 1977 als Sohn eines Buchhändlers geboren, nach dem Abitur Grundwehrdienst, Praktikum in Papas Laden und Doppelstudium. Seinen ersten Job hatte er bei der Deutschen Bank, beim legendären Chefökonomen Norbert Walter, der dem Finanzgeschäft einen intellektuellen Überbau verpasste. Soziale Marktwirtschaft als Ausdruck des christlichen Menschenbilds, das ist das Credo, welches Linnemann noch immer singt: „Die soziale Marktwirtschaft ist nicht nur eine marktwirtschaftliche Ordnung, sondern vor allem auch eine Gesellschaftsordnung, die auf Werte wie Eigenverantwortung und Solidarität setzt.“ Mit diesem Mantra will er sich der Mitte empfehlen. Doch wird das verstanden? Linnemanns Bodenständigkeit ist da schon leichter verdaulich. Zur Entspannung „kloppe“ er gerne ein paar Skatrunden. 

Soll ich's versuchen?

Außerdem hat er eine Stiftung für benachteiligte Jugendliche gegründet und ist Vizepräsident des SC Paderborn. Wenigstens beim Fußball kann er auf Distanz zum Dortmund-Fan Merz gehen. Zu seinem Familienstand macht er keine Angaben, zu seinem Elternhaus sagt er, vom Vater komme das Selbstvertrauen, von der Mutter das Gottvertrauen. Der Journalist Tim Kummert sieht in Linnemann den Anti-Merz und das Kind der Merkel-Ära: „Weil er stets zwischen Konsens und Krawall schwankt, zwischen Anpassung und Auflehnung.“

Eigentlich ist Linnemann in einem Zustand wie die CDU als Ganzes. Der Kopf spürt, dass der Bauch grummelt und was Neues will, doch der Verstand weiß: So einfach wird das nicht. Die Meldungen des Seismografen sind nicht eindeutig. „Das Wichtigste für mich ist, dass ich mich nicht verbiege“, sagt er. Doch wie bei der Partei ist auch das für jeden Einzelnen einfacher gesagt als getan.

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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