Buschmanns „Verantwortungsgemeinschaft“ - Der übergriffige Leviathan

Das geplante Gesetz zur Verantwortungsgemeinschaft ist nicht nur überflüssig, sondern auch gefährlich. Warum wird diese Gesetzesinitiative trotzdem gestartet? Sie passt zum Zeitgeist – und zum Selbstverständnis eines übergriffigen Staates.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Solange es Menschen gibt, unterstützen sie sich und übernehmen Verantwortung füreinander. Das ist wichtig. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) weiß das, und er will das jetzt rechtlich regeln. Sein Ministerium will eine sogenannte Verantwortungsgemeinschaft einführen. Ist  diese Initiative eine gute rechtspolitische Idee? Vielleicht sogar dringend nötig? Oder ist es nicht vielmehr ein weiteres Beispiel für den übergriffigen Staat, der mit sinnlosen Regelungen den Alltag erschwert?

Im Alltag unterstützen sich Menschen jeden Tag – millionenfach. Zum Glück, denn davon lebt eine Gesellschaft. In den meisten Fällen ist (natürlich) nicht geregelt, welche Rechte und Pflichten dabei im Einzelnen bestehen. Das klärt sich völlig unjuristisch im kurzen Alltagsgespräch unter Nachbarn, Kollegen, Freunden. Aus der Sicht von Juristen ist das ein Problem. Das Justizministerium will deshalb eine Verantwortungsgemeinschaft als neues Rechtsinstitut einführen, an das rechtliche Konsequenzen geknüpft sind. Eine „Familie light“ soll es aber nicht sein.  

Die Gretchenfrage der Gesetzgebung

Der Grundgedanke des Gesetzesvorschlags ist einfach: Menschen, die sich nahestehen und im Alltag Verantwortung füreinander übernehmen, sollen das rechtlich absichern können. Wenn Sie einen notariell beurkundeten Vertrag abschließen, wird aus dem sozialen Näheverhältnis eine rechtliche Verantwortungsgemeinschaft mit juristischen Folgen. Nachbarn, die sich regelmäßig unterstützen, können zu Vertragspartnern in einer Verantwortungsgemeinschaft werden. Oder Freunde, die in einer Wohngemeinschaft zusammenleben, können sich als Verantwortungsgemeinschaft rechtlich organisieren. Aber ist das sinnvoll? Oder ist das eine Schnapsidee regelungswütiger Juristen?  

Grundsätzlich ist ein neues Gesetz nur sinnvoll, wenn es überhaupt notwendig ist. Überflüssige Gesetze sind per se schädlich und sinnlos. Mehr Gesetze führen nicht zuletzt auch zu mehr Prozessen und belasten die Gerichte immer weiter. Und das in einer Zeit, in der die Justiz überlastet ist und am Rande des Chaos operiert. Alles, was das geplante Gesetz regeln will, lässt sich schon jetzt mit dem bestehenden Recht erreichen. Das deutsche Privatrecht ist freiheitlich. Alle Bürger können ihre Beziehungen völlig frei durch einen Vertrag rechtlich gestalten. Das nennt man Vertragsfreiheit. 

Das ist kein Fortschritt

Es gibt nur eine einzige Grenze: Die Verträge dürfen nicht gegen Gesetze verstoßen oder sittenwidrig sein. Zwei Menschen etwa, die sich nahestehen, können sich gegenseitig Vollmachten erteilen. Sie können rechtlich wasserdicht festlegen, dass sie sich in medizinischen Notfällen vertreten dürfen. Das nennt man im bestehenden Recht eine Vorsorgevollmacht oder eine Betreuungsverfügung. Dazu braucht man keine Verantwortungsgemeinschaft. 

Ob es das geplante Gesetz wirklich braucht, scheint auch dem Justizministerium nicht wirklich klar zu sein. Das Ministerium kann jedenfalls keine Fallgestaltung nennen, in der eine Verantwortungsgemeinschaft eine wichtige Lücke schließen könnte. Man braucht sie schlicht und einfach nicht. Sie macht aus sozialen Beziehungen Rechtsbeziehungen und aus zwischenmenschlichen Konflikten Rechtsfälle, die von Gerichten geklärt werden müssen. Das ist kein Fortschritt. Das avisierte Gesetz ist überflüssig – und damit sinnlos.

Sinnlos – und gefährlich? 

Die Buschmann-Idee greift ohne Not in tiefe Strukturen des menschlichen Miteinanders ein, die im Lauf der menschlichen Evolution über hunderttausende von Jahren gewachsen sind. Erst ihre ausgeprägten Fähigkeiten zur sozialen Kooperation haben die Menschen in ihrer Evolutionsgeschichte zu dem gemacht, was sie heute sind. Das Gegenseitigkeitsprinzip – „ich helfe dir, und du hilfst mir“ – ist tief im Menschen verwurzelt. Dass Menschen nicht mehr in überschaubaren Jäger- und Sammlergesellschaften die Savannen durchstreifen, liegt auch an der überragenden Kooperationsfähigkeit unserer Spezies. Weil Menschen effektiv kooperieren, können sie in hoch differenzierten modernen Gesellschaften und Metropolen zusammenleben. Das ist der evolutionäre Hintergrund der gegenseitigen Hilfen im Alltag.
 

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Diese selbstverständliche Hilfe, die immer wieder spontan, ohne großes Nachdenken geleistet wird, wird – wenn es nach den Plänen von Marco Buschmann geht – plötzlich zum Rechtsproblem. Kann ich spontan helfen oder Hilfe annehmen? Oder braucht es vorher einen notariell beurkundeten Vertrag über eine Verantwortungsgemeinschaft? Wenn solche Fragen normal werden, wird der Zusammenhalt der Gesellschaft zerstört. Denn dann funktioniert die permanente, spontane, auf Gegenseitigkeit beruhende Kooperation zwischen den Menschen nicht mehr (reibungslos). Das ist fatal. Genau diese alltägliche Kooperation in allen Bereichen ist es nämlich, die menschliche Gesellschaften zusammenhält und voranbringt.

Verrechtlichung ohne Grenzen

Das geplante Gesetz zur Verantwortungsgemeinschaft ist also überflüssig und gefährlich. Warum wird diese Gesetzesinitiative dann trotzdem gestartet? Sie passt zum Zeitgeist. Seit Jahrzehnten lässt sich eine zunehmende Verrechtlichung aller Bereiche der Gesellschaft beobachten. Immer mehr und immer kleinteiligere Normen regeln immer größere Teile von Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Kultur, Wissenschaft. Welche Gründe hat das? 

Moderne Gesellschaften sind komplex und risikoreich. Sie brauchen rechtliche Regeln, die Risiken senken können und die Konflikte lösen, sogar vermeiden. Eine kluge Rechtsetzung ist sinnvoll, sogar oft bitter nötig. Aber Verrechtlichung hat auch eine dunkle Seite. Seit Jahrzehnten zieht der Staat immer mehr Aufgaben und Kompetenzen an sich. Das führt zwangsläufig zu einer ansteigenden Normenflut, der eine Prozesswelle folgt. Denn wenn der Staat eine Aufgabe übernimmt, muss sie durch rechtliche Normen geregelt und von Gerichten überprüft werden. Im Rechtsstaat ist das so. Die schlimme Folge: Die Freiräume für die individuelle Gestaltung des Alltags und des Lebens werden immer kleiner. Die Freiheit stirbt zentimeterweise. Der Leviathan ist nicht bescheiden und zurückhaltend. Er ist immer übergriffig. 

Das lässt sich hier wie unter einem Brennglas beobachten. Der Staat mischt sich mit einem Gesetz in funktionierende zwischenmenschliche Beziehungen ein. Das verunsichert die Betroffenen, stört eingespielte Abläufe, macht aus sozialen Beziehungen rechtliche Beziehungen, die potenziell in Gerichtsverfahren enden können. Und das passiert, ohne dass es eine Notwendigkeit dafür gäbe. Dieses Gesetz wäre ein Bilderbuchbeispiel für sinnlose Verrechtlichung, die nur schadet. Ein Hoffnungsschimmer bleibt: Ob aus diesen Plänen ein Gesetz wird, entscheidet nicht Marco Buschmann, sondern der Bundestag. Hoffentlich gibt es eine kritische öffentliche Debatte und kluge Beratungen im Parlament. Nicht jeder Gesetzesvorschlag muss ein echtes Gesetz werden. Er kann auch im Orkus verschwinden.
 

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