Gesamtverteidigung - Warten auf den „Operationsplan Deutschland“

Um die Wehrhaftigkeit Deutschlands wiederherzustellen, ist ein neues Konzept für die „Gesamtverteidigung“ notwendig. Die bislang gültige Rahmenrichtlinie stammt von 1989. Die heutigen Heimatschutzkräfte der Bundeswehr sind völlig unzureichend.

Indienststellungsappell des Heimatschutzregiments 2 in Münster, 26.10.2023 / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Hans-Peter Bartels ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war seit 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages 2015–2020.

So erreichen Sie Hans-Peter Bartels:

Anzeige

Autoreninfo

Generalleutnant a.D. Rainer Glatz war Kommandeur der Division Spezielle Operationen und zuletzt Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr.

So erreichen Sie Rainer Glatz:

Anzeige

Mehr als zwei Jahre dauert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine schon an. Ein Ende scheint nicht in Sicht. Noch wäre Zeit, die Ukraine massiv zu stärken und unsere eigene Wehrhaftigkeit mit der von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede geforderten „nationalen Kraftanstrengung“ umfassend wiederherzustellen. Während Russland auf Kriegswirtschaft umschaltet, verharren aber die europäischen Staaten in einem Zustand des erschrockenen Zauderns. Was, wenn Putin den Krieg gewinnt? Was, wenn Trump die US-Wahlen gewinnt? Europa driftet. 

In dieser Lage trägt Deutschland als viertstärkste Volkswirtschaft der Welt und größtes Land in Europa besondere Verantwortung. Dazu müssen nach den großen Kanzler-Ankündigungen nun tatsächlich Fakten geschaffen werden. Für die kollektive Verteidigung des Bündnisgebiets kommt es heute besonders auf deutsche Infrastruktur an – Häfen, Depots, Straßen- und Bahnnetz – als logistische Drehscheibe der gesamten Nato für die Verstärkung der Ostflanke. Bündniskräfte sollen nach Aufruf jetzt schon in 10 beziehungsweise 30 Tagen einsatzbereit vor Ort sein. Unser Land ist also nicht nur als zweitgrößtes Mitglied ein wichtiger Truppensteller in der Nordatlantischen Allianz, sondern muss zusätzlich als Transit- und Gastnation die Rolle des zentralen „Enablers“ erfüllen, der einen reibungslosen Aufmarsch ermöglicht. 

Eine neue Qualität der zivilen Verteidigung

Deutschland muss deshalb alle nationalen Fähigkeiten und Mittel in ein Konzept der kollektiven Verteidigung einbringen. Dazu gehört auch die sogenannte „Gesamtverteidigung“ als wesentliche Staatsaufgabe des Bundes (Art. 73, Nr. 1 GG), das heißt: die Gesamtheit aller bündnisgemeinsamen und nationalen Verteidigungs- und Schutzmaßnahmen. Sie bestehen immer aus einem militärischen sowie aus einem zivilen Anteil. So war es schon im Kalten Krieg vor 1990.

Eine neue Qualität der zivilen Verteidigung heute wird erkennbar im Strategischen Konzept der Nato aus dem Jahr 2022. Hier heißt es in Ziffer 25: „Einzelne beziehungsweise gebündelte böswillige Cyberaktivitäten […] könnten so schwerwiegend wie ein bewaffneter Angriff sein und dazu führen, dass der Nordatlantikrat Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ausruft.“ Ähnliches wird in der Ziffer 27 des Strategischen Konzeptes als Möglichkeit für den Bereich hybrider Operationen gegen Nato-Verbündete festgestellt.

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es für die Aufgaben der Gesamtverteidigung eine ganze Reihe von Playern, die sich eng abstimmen müssen. Der föderalistischen Struktur entsprechend liegen die Zuständigkeiten, was etwa militärische Befugnisse, Gesamtplanung und Teile der zivilen Verteidigung betrifft, beim Bund, während viele andere Befugnisse bei den Bundesländern, den Kreisen und Gemeinden liegen. Oberstes Koordinierungsorgan war und ist der Bundessicherheitsrat unter Vorsitz des Bundeskanzlers.
 

Mehr zum Thema:


Der nationale Teil der Landesverteidigung gliedert sich in einen militärisch-territorialen und einen zivilen Anteil. Der militärisch-territoriale Anteil hat im Wesentlichen die Aufgabe einen Beitrag zur Operationsfreiheit der Nato-Befehlshaber zu leisten, das heißt insbesondere Unterstützung während eines grenzüberschreitenden Aufmarsches durch Deutschland, also etwa: Verkehrslenkung und -führung, logistische Unterstützung sowie Schutz kritischer und verteidigungswichtiger Infrastruktur.

Die klassische zivile Verteidigung hat demgegenüber die Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen, die Unterstützung der Streitkräfte (unter anderem Mobilmachung von Personal und Material), Zivilschutz (etwa Selbstschutz, Warndienst, Schutzbau, Katastrophenschutz, Gesundheitswesen) und die zivile Versorgung (Nahrungsmittel, Energie und Wasser, Verkehr und Transport, Post und Fernmeldewesen) als Ziele. Alles, was der verbesserten Gefahrenabwehr im Verteidigungsfall zu Gute kommt, dient auch dem Katastrophenschutz im Frieden. Aber es kostet zusätzliches Geld. Mangelhafte Vorkehrungen könnten Zweifel an der Resilienz und dem Verteidigungswillen unseres Staates wecken: Wollen wir uns wirklich mit allen Kräften verteidigen? Entstünde beim Gegner dieser Eindruck, würde das wiederum die Abschreckung schwächen.

Die Verteidigungsrichtline stammt von 1989

Die noch immer gültige „Rahmenrichtlinie für die Gesamtverteidigung“ stammt aus dem Jahr 1989, unterschrieben von dem damaligen Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg und dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble. Sie bildet also den Stand des Kalten Krieges vor der Wiedervereinigung ab. Eine neue Richtlinie befindet sich derzeit in der Ressortabstimmung und sollte eigentlich schon Anfang 2024 vorgelegt werden. Die Federführung hat Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Übermäßiger ministerieller Eifer oder gar eine politische Diskussion zu den heutigen Anforderungen an eine zeitgemäße Gesamtverteidigungs-Architektur ist noch nicht zu erkennen.

Was heute bereits existiert, ist eine „Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)“ des BMI. Sie stammt aus dem Jahr 2016 und stellt die derzeit gültige Grundlage für weitere länder- und ressortübergreifende Planungen dar. Unter anderem geht es um Sirenenförderprogramme für den Warndienst, eine Bestandsaufnahme der noch bestehenden Schutzräume und Bunkeranlagen, Maßnahmen zur Verbesserung und Beschleunigung des militärischen Verkehrs, um den weiteren Ausbau von neuen THW-Logistikzentren sowie um Maßnahmen in den Bereichen IT-Sicherheit und Stabilität elektrischer Versorgungsnetze. Das wäre die zivile Seite. Hier ist noch viel zu tun. 

Was die territoriale Verteidigung angeht, erlaubt vielleicht ein Blick zurück auf die im Kalten Krieg zur Verfügung stehenden Kräfte jenseits des starken Feldheeres eine nüchterne Einschätzung der heute anzunehmenden militärischen Leistungsfähigkeit. Das damalige Territorialheer verfügte auf allen Führungsebenen über eigene Kräfte und Mittel. Es hatte mit 12 Heimatschutzbrigaden, überwiegend gekadert mit jeweils drei oder vier Kampftruppenbataillonen und einem Artilleriebataillon, die zum Gefecht der verbundenen Waffen befähigt waren, echte Kampfverbände, die mobilgemacht weitaus personalstärker gewesen wären als das ganze heutige aktive Heer. Dazu kamen 15 Heimatschutzregimenter (zu je drei Jägerbataillonen mit einer Mörserkompanie), 150 selbständige Heimatschutzkompanien und fast 300 selbständige Sicherungszüge. Darüber hinaus waren Soldaten des Territorialheeres in einer Stärke von 93.000 für die Unterstützung alliierter Streitkräfte im Rahmen des „Wartime Host Nation Support“ vorgesehen. 

Heimatschutzkräfte im Aufbau

Inzwischen befinden sich nach einem Pilotprojekt im Bereich des Landeskommandos Bayern neuerdings wieder flächendeckend Heimatschutzkräfte im Aufbau. Nach derzeitigem Planungsstand sollen es sechs Heimatschutzregimenter mit je 1000 Soldatinnen und Soldaten werden. Folgen diese Regimenter in ihrer Struktur dem Pilotprojekt, so werden sie am Ende über jeweils eine Stabs- und Versorgungskompanie und bis zu je sieben Heimatschutzkompanien verfügen. In der personellen Zusammensetzung müssen sie sich im Wesentlichen auf freiwillige Reservistendienstleistende abstützen. Für alle Regimenter zusammen sind derzeit 6.000 Dienstposten ausgeplant. Auch der Kommandeur oder die Kommandeurin ist ein Oberst der Reserve. Sie werden von je 20 bis 30 Zeit- oder Berufssoldatinnen und -soldaten pro Regiment unterstützt. 

Insgesamt wird sich künftig die zivil-militärische Zusammenarbeit auf ein territoriales Netzwerk aus 16 Landeskommandos am Sitz der jeweiligen Landesregierung, 31 Bezirksverbindungskommandos in allen Regierungsbezirken und 403 Kreisverbindungskommandos in allen Landkreisen und kreisfreien Städten abstützen. Hinzu kommen für den militärischen Heimatschutz dann die sechs Heimatschutzregimenter in Bayern, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Dieses Netzwerk gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge wird vom Territorialen Führungskommando der Bundeswehr in Berlin geführt.

Nach offiziellen Darstellungen kommen auf die Reservistinnen und Reservisten im Heimatschutz folgende Aufgaben zu: Im Frieden sollen sie die aktive Truppe bei Wach- und Sicherungsaufgaben unterstützen. Auch in der Amtshilfe, beispielsweise bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen, können sie aktiviert werden und zivile Behörden und Blaulichtorganisationen verstärken. Zudem sollen sie Aufgaben im Host Nation Support übernehmen, etwa Rastpunkte von Militärtransporten befreundeter Nationen auf ihrem Marsch durch Deutschland bewachen.

Im Spannungs- und Verteidigungsfall wäre von den Heimatschutzkräften neben militärischen Anlagen auch verteidigungswichtige Infrastruktur zu schützen, zum Beispiel bestimmte Hafenterminals, Güterumschlagplätze, Bahnanlagen und Brücken. Dazu kommen eventuell noch digitale Netze und Energienetze, die ebenfalls verteidigungsrelevant sein können.

„Operationsplan Deutschland“

Das Territoriale Führungskommando der Bundeswehr erarbeitet momentan den sogenannten „Operationsplan Deutschland“, in dem es unter anderem darum geht, die Verknüpfung der zivilen mit der militärischen Verteidigung besser abzustimmen. Klar wird dabei sein, dass unsere Streitkräfte zum Schutz kritischer Infrastruktur nur einen eingeschränkten Beitrag leisten können, wenn sie ihren Hauptauftrag nicht gefährden sollen. Deshalb brauchen sie zusätzliche (Reserve-)Kräfte. Ein weit größerer Player als die Bundeswehr für Schutz- und Sicherungsaufgaben im Inland wäre hier die Polizei – mit ihren 330.000 Beamtinnen und Beamten beim Bund und in den 16 Bundesländern.

Man wird nicht erst auf die Fertigstellung des Operationsplans Deutschland warten müssen, um zu erkennen, dass sechs mobilgemachte Heimatschutzregimenter allein in keiner Weise den Schutz kritischer und verteidigungswichtiger Infrastruktur in Krise, Spannungs- und Verteidigungsfall deutschlandweit sicherstellen können. Erschwerend kommt hinzu, dass in Zeiten der reinen Freiwilligenarmee Wehrübungen für Reservisten nicht verpflichtend geregelt sind. Es wird noch einiges geschehen müssen, bis wieder materiell und personell gut aufgestellte territoriale Verbände in ausreichender Quantität und Qualität das Rückgrat der territorialen Verteidigung in Deutschland bilden können.

Bei der jetzt laufenden Neufassung der Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung wäre jedenfalls auch zu prüfen, ob es vor dem Hintergrund hybrider Bedrohungen möglicherweise einer neuen rechtlichen Definition für das „In-between“ zwischen Krieg und Frieden bedarf, oder ob die bereits heute möglichen „Zustimmungsfälle“ gemäß Artikel 80a GG in Verbindung mit Rechtsverordnungen ausreichen, um notwendige Maßnahmen der Gesamtverteidigung ohne Erklärung des Spannungs- oder des Verteidigungsfalles rechtssicher auslösen zu können. Jedenfalls ist es die Pflicht von Regierung und Parlament, konzeptionell mit dem Schlimmsten zu rechnen und, so gut es geht, darauf vorbereitet zu sein. Das Prinzip Hoffnung schützt im Ernstfall nicht.

Dieser Text erscheint in einer längeren Fassung demnächst auch im „Jahrbuch Innere Führung“ im Miles-Verlag.

Anzeige