Wahlrechtsreform - Was Parteien von Autoverkäufern lernen können

Politische Partikularinteressen bestimmen die Besetzung im Bundestag und an den Parteispitzen. Deshalb ist nicht nur eine Wahlrechtsreform zwingend erforderlich. Die Parteien müssen sich auch fragen, ob die Art der Kandidatenfindung noch zeitgemäß ist.

Der Plenarsaal des Bundestages / dpa
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Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Der gegenwärtige Bundestagswahlkampf zeigt, woran viele Parteien kranken. Die Parteien entwickeln ein Eigenleben, das sie von den Menschen, die sie repräsentieren wollen, immer weiter abkoppelt. Dadurch entsteht eine Personalpolitik, die fatale Folgen für die Parteien hat und letztlich auch für die Demokratie. Wenn Personalentscheidungen in der Wirtschaft nach ähnlichen Kriterien getroffen würden wie in den meisten Parteien, würde eine Pleitewelle über das Land hinwegfegen.

Für die Kunden von Autohäusern sind die Verkäufer das Gesicht des Händlers, das Gesicht der Marke. Es ist eher die Ausnahme, dass sie den Unternehmensvorstand persönlich treffen – und in aller Regel unnötig. Sie erwarten eher vom Verkäufer neben Sachverstand und Problemlösungskompetenz die Gabe, dass er jedem einzelnen aus seiner sozial breiten Zielgruppe vermittelt, genau ihn zu verstehen und für ihn da zu sein.

Habeck verkauft seine Inhalte gut

Der Erfolg eines Autohandels hängt vor allem davon ab, dass die Geschäftsleitung jene Mitarbeiter mit dem Verkauf betraut, die erfolgreich verkaufen. Insofern hat die SPD klug gehandelt. Sie hat nicht den bei Kollegen und Vorgesetzten beliebtesten Kandidaten aufgestellt, sondern den, der am wenigsten Kunden verschreckt. Anders ist es bei den Grünen und der CDU. Viele Beobachter sind sich einig, dass die Grünen mit Robert Habeck an der Spitze weit bessere Chancen bei den kommenden Wahlen haben würden. Dies dürfte weniger an dem Eindruck fröhlicher Unverwundbarkeit liegen, den das Agieren des Wahlkampfteams von Annalena Baerbock immer wieder hervorruft und auch nicht an ihrer wie selbstverständlich wirkenden Nutzung fremden (geistigen) Eigentums zum eigenen (Buch-)Profit.

Robert Habeck hat alles, was ein guter Verkäufer braucht: Er ist charismatisch, hat einiges an Regierungserfahrung und ist ein origineller Denker. Man muss seine Gedanken nicht teilen und seine Bücher nicht mögen – darf ihm aber zugestehen, dass er seine Inhalte professionell und sympathisch verkauft. Doch die Grünen wollten nicht den Kandidaten, der ihre Inhalte am besten verkauft, sondern die Kandidatin, die Proporzen und Quoten entsprach. Mancher Kunde wechselt die Marke, wenn er seinen gewohnten Lieblingsverkäufer nicht vorfindet und sein Ersatz nicht an dessen Qualitäten heranreicht. Keine Geschäftsleitung würde lieber Umsatz verlieren, als auf den besten Verkäufer zu verzichten. Man kann nun – mit aller Berechtigung! – einwenden, dass das Verkaufen von Autos und Wahlkampf kaum miteinander verglichen werden kann. Das ist richtig. Aber das Ergebnis ist dasselbe.

Laschet ist kein begnadeter Verkäufer

Dies zeigt sich auch am Wahlkampf der CDU. Viele Demoskopen sind sich einig, dass die Union mit Markus Söder an der Spitze das Kanzleramt zu erobern in der Lage gewesen wäre. Die Basis und die mittlere Funktionärsebene hatten das wohl auch so gesehen. Doch die wenigen Granden am oberen Ende der Parteihierarchie sahen das anders und hievten Armin Laschet auf den Schild. Er ist das Gegenteil von dem, was sich Max Weber unter einem charismatischen Führer vorstellt. Und wie ein begnadeter Verkäufer von Inhalten wirkt er auch nicht. Gleichwohl ist er der Kanzlerkandidat der Union.

Solche Entscheidungen sind an sich nicht ungewöhnlich, wenn man in die deutsche Geschichte schaut. Unzählige Male wählten die Kurfürsten nicht den stärksten Kandidaten zum König, sondern jenen, der am leichtesten zu lenken war oder aber die eigenen Interessen am wenigsten bedrohen konnte – oder beides zusammen. Doch warum gingen die CDU-Granden das Risiko ein, lieber die Macht zu verlieren, als einen weniger steuerbaren Kandidaten aufzustellen? Denn nicht nur Demoskopen, sondern auch gesunder Menschenverstand hätte ihnen sagen müssen, dass der Wurm dem Fisch schmecken muss und nicht dem Angler. Oder fürchteten sie gar ihre eigene Basis? Vielleicht mit Blick auf das Ergebnis der Vorsitzendenwahl der SPD 2019?

„Dumm gelaufen“

Man könnte ein kopfschüttelndes „Dumm gelaufen“ ausrufen und darauf vertrauen, dass die Verantwortlichen in den Parteien aus der gegenwärtigen Situation lernen. Und man könnte darauf vertrauen, dass es die Demokratie schon richten wird. Doch dieser droht gleich von zwei Seiten Gefahr. Der nächste Bundestag wird fast 1.000 Mitglieder haben. Nur 299 von ihnen werden direkt vom Wähler entsandt. Der Rest zieht über Landeslisten ein, über deren Besetzung Parteigremien in den Ländern entscheiden. Da nun offenkundig wird, dass auch die Spitzenkandidaten nach Partikularinteressen weniger Parteigranden ausgewählt wurden, zieht dies für viele Wähler die Legitimität des demokratischen Systems als solches nach sich. Dies aber nährt die Narrative der Demokratiefeinde am rechten und linken Rand.

Deshalb ist nicht nur eine Wahlrechtsreform in der kommenden Legislaturperiode zwingend erforderlich. Die Parteien müssen sich auch fragen, ob die Art der Kandidatenfindung, wie sie zu dieser Wahl erfolgt ist, noch zeitgemäß ist. Das immer wieder diskutierte Modell der Vorwahlen in den USA könnte Denkanstöße geben – sei es, dass nur die Mitglieder und die Anhänger einer Partei die Kandidaten wählen, die dem Wähler ihre Inhalte und Ziele vermitteln sollen; sei es, dass jeder abstimmen kann. Derartige Debatten werden weitere Vorschläge hervorbringen, die vielleicht noch besser geeignet sind, das gegenwärtige Dilemma zu beenden. Und ist es nicht Wesenskern der Demokratie Diskurse zu führen, unterschiedliche Ansätze zu erwägen und am Ende jenen zu wählen, der der Demokratie und den Bürgern am nutzbringendsten ist?

Was immer das Ergebnis einer Wahlreform und neuer Wege bei der Kandidatenaufstellung ist: Viel schlechter kann es nicht werden.

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