Bundestag debattiert übers Infektionsschutzgesetz - Mit Vollgas auf die Notbremse

Künftig sollen bundesweit einheitliche Corona-Regeln gelten, wenn ein bestimmter Grenzwert überschritten wird. Im Parlament lieferten sich Regierungsparteien und Opposition einen Schlagabtausch über das neue Infektionsschutzgesetz. Die Debatte driftete ins absurde Theater ab. Dabei stehen die Zeiger der Uhr auf zehn nach zwölf.

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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Die Bundesregierung tritt auf die Bremse. Es ist nicht irgendeine Bremse. Bundesnotbremse, so nennt sie das, was sie plant, um abzuwenden, was kaum noch abzuwenden ist. Den Notstand auf den Intensivstationen. Übersteigt die Zahl der Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen den Wert von 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen, sollen automatisch einheitliche Corona-Regeln greifen. Geschäfte sollen dann zum Beispiel geschlossen werden. Ab 21 Uhr soll eine nächtliche Ausgangssperre beginnen. So sieht es der Entwurf des novellierten Bundesinfektionsschutzgesetzes vor, über das gestern in erster Lesung im Bundestag debattiert wurde.

Es war großes Kino, das der Bundestag da bot. Ein Schlagabtausch zwischen den Regierungsparteien und der Opposition. Hier die Kanzlerin, die auf die ihr eigene, stoische Art um Verständnis für eine nächtliche Ausgangssperre warb. „Ist es eine verhältnismäßige und erforderliche Maßnahme? Ich komme zu dem Ergebnis: Ja!“ Dort der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch, der völlig eskalierte. „Ich hätte erwartet, dass Sie nach dem Osterruhen-Desaster nach der Ministerpräsidentenkonferenz  mit Vorschlägen in den Bundestag kommen. Bei Anne Will haben sie ja gesagt: ‚Viel Zeit haben wir nicht mehr.‘ Das ist aber drei Wochen her. Und passiert ist: NICHTS!“

Der Anschein von Aktionismus

Und das war auch schon das Beste, was man über diese Sitzung sagen kann. Das Parlament müffelt zwar schon ein bisschen, seit es die Entscheidungsgewalt in der Corona-Frage an eine MPK delegiert hat, deren Mitglieder ihre  Beschlüsse immer gleich wieder in den Papierkorb warfen, kaum hatten sie diese der Presse vorgestellt. Aber es lebt noch. Seine Reflexe funktionieren jedenfalls einwandfrei. Und wenn wir uns später daran erinnern, wie müde, desillusioniert und zermürbt wir am Ende dieses zweiten Lockdowns waren, dann werden wir uns vielleicht wieder an dieses Wort erinnern: Bundesnotbremse.

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Die Bundesregierung versuchte damit, den Anschein zu erwecken, als tue sie endlich was. Und das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn auf die Notbremse kann man ja nur treten, wenn man mit hoher Geschwindigkeit von A nach B unterwegs ist. Und davon kann gerade keine Rede sein. Die Regierung steht schon jetzt auf der Bremse. Seit 13 Monaten eiert sie mehr oder weniger unentschlossen von Halblockdown zu Halblockdown.

Die Ausgangssperre als Ultima Ratio

Das Ziel liegt noch in weiter Ferne. Bis September sollte eigentlich jeder ein „Impfangebot“ bekommen – auch wieder so ein schönes Wort aus der Kiste mit den Nebelkerzen, die die Regierung in dieser Krise gerne strapaziert. Aber dass das klappt, glaubt inzwischen kaum noch einer. Die Quote der Erstgeimpften liegt mit 16 Prozent noch unter dem EU-Schnitt. Der Impfturbo, den CDU-Vize-Fraktionschef Thorsten Frei im Bundestag jetzt genauso theatralisch beschwor wie die erforderlichen „Begleitmaßnahmen“, er ist ein reines Phantasieprodukt.   

FDP-Chef Christian Lindner wies die Regierung darauf hin: „Wir müssen das Tempo erhöhen.“ Dass der Regierung stattdessen nichts Besseres einfalle, als die Länder aus dem, nun ja, Rennen zu werfen und als Ultima ratio eine nächtliche Ausgangssperre zu verhängen, brachte Lindner für einen Moment völlig aus dem Konzept. „Im Kern steht die Ausgangsbremse – ähem, die Ausgangsperre dieser Notbremse.“

Lindner droht mit dem Bundesverfassungsgericht

Die, sagt der FDP-Chef mit Blick auf eine Studie des französischen Wissenschaftsrates, habe nicht nur nichts gebracht, weil sich die Menschen kurz vor Ladenschluss noch einmal in die Läden stürzten. Sie sei auch verfassungswidrig. Wenn die Regierung diese Bedenken nicht berücksichtige, werde seine Fraktion dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe klagen.

Es ist ein Argument, das die Regierung nicht ignorieren kann, wenn sie ihren Entwurf für die Bundesnotbremse noch einmal überarbeitet, um ihn dem Parlament am nächsten Mittwoch zur endgültigen Abstimmung vorzulegen. Juristen räumen einer Verfassungsbeschwerde gute Chancen ein. Bei den Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion ist diese Warnung schon angekommen. „Es wäre Gift, wenn Gerichte die Maßnahmen wieder kippen würden“, räumt der baden-württembergische SPD-Abgeordnete Johannes Fechner ein. Er schlägt vor, Ausnahmen von der Ausgangssperre zuzulassen.„Spazierengehen abends ist okay.“

„Besser nie als spät“ 

Die Bundesnotbremse, gibt er zu, sei ihrerseits aus der Not geboren. Nur weil die MPK gescheitert sei, müsse der Bund die Corona-Regeln vorgeben. Wäre es nach seiner Fraktion gegangen, hätte der schon im November die Regie übernommen, erklärte der SPD-Mann. Um dann rutschte ihm ein Versprecher heraus, der gut als Titel zu dieser absurden Farce rund ums Bremsen passen würde: „Besser nie als spät.“

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