Ex-Chef des Bundesnachrichtendienstes - „Vorfälle wie die Messerattacke im ICE sind nur die Spitze des Eisbergs“

Der frühere BND-Chef Gerhard Schindler kritisiert das mangelnde Verständnis für Sicherheitsfragen in Deutschland. Er fordert eine Neujustierung der gesamten Inlands- und Auslandsaufklärung gerade beim Thema Terrorismus. Und spricht über die Gefahren unkontrollierter Migration.

Ein Polizist bewacht den Eingang zum Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Gerhard Schindler war von Dezember 2011 bis Juni 2016 Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND). Schindler ist Unternehmensberater und Autor des Buches „Wer hat Angst vorm BND?“, das 2020 im Econ-Verlag erschienen ist.

Herr Schindler, im zurückliegenden Bundestagswahlkampf waren die Themen Innere und Äußere Sicherheit praktisch kein Thema. Dabei erleben wir jedoch von Tag zu Tag neue Bedrohungen. Sind die Deutschen naiv – oder fürchtet man unangenehme Wahrheiten?

Ich befasse mich schon seit längerem mit der Frage, welchen Stellenwert Sicherheit in unserer Gesellschaft hat – leider mit dem Befund, dass der Stellenwert unterentwickelt ist. Es gibt dafür eine Reihe von Erklärungen, von denen ich zwei hier nennen möchte. Wir haben erstens nicht mehr den Typus Sicherheitspolitiker, den wir früher hatten. Der letzte dieser Art war der damalige Innenminister Otto Schily, der Sicherheit und seine Politik für Sicherheit quasi verkörpert hat. Davor gab es eine Reihe von anderen herausragenden Sicherheitspolitkern in allen Parteien, aber nach Schily hörte es aus meiner Sicht auf. Zweitens: Wenn wir uns einmal mit den USA vergleichen, stellen wir fest, dass wir nur eine geringe Anzahl von sogenannten Nicht-Regierungsorganisationen haben, die sich mit dem Thema Sicherheit befassen. Bei uns gibt es zwar die Stiftung Sicherheit und Politik und noch das eine oder andere Institut, aber nicht in dem qualitativen und quantitativen Umfang wie in den USA. Dort beschäftigen sich proportional mehr NGOs mit den Themen Sicherheitspolitik, Bedrohungslagen und wie man diesen begegnen kann. Und dort gibt es auch einen intensiven Informationsaustausch zwischen der aktiven Politik und der Wissenschaft zu diesem Thema. Das fehlt bei uns in Deutschland und ich glaube, dass Sicherheit auf dem Weg ist, ein „Igitt“-Thema zu werden.

Warum eigentlich „Igitt“?

Meist nur dann, wenn es wieder einen Vorfall gibt, poppt das Thema Sicherheit auf, aber mit einer negativen Konnotation, nach dem Motto: Wie konnte das passieren? Wer hat die Verantwortung? Warum haben die Sicherheitsbehörden versagt? Das ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei. Es gibt kaum Politiker mehr, die sich aktiv und öffentlich für Sicherheit einbringen wollen, weil das Thema negativ besetzt ist. Und das Thema bleibt negativ besetzt, weil es keine herausragenden Fürsprecher mehr dafür gibt. Damit schließt sich immer wieder der Kreis im Negativen; Sicherheit wird ein Thema, das stört, das unangenehm ist, das man wegdrängt und mit dem man eigentlich gar nichts zu tun haben will. Insofern haben wir da eine Entwicklung, die alles andere als gut ist. Dabei  bin ich der Überzeugung, dass das nichts mit unserer Vergangenheit zu tun hat. Die gängige These, das hätte etwas mit den unsäglichen Ereignissen im Dritten Reich oder in der DDR zu tun, teile ich nicht; Geschichtsbewusstsein ist  sicher nicht der ausschlaggebende Grund für diese Entwicklung.

Als Präsident des BND haben Sie die deutsche Sicherheitspolitik aus nächster Nähe miterlebt und auch geprägt. Wie lauten Ihre wichtigsten Lehren und Erkenntnisse aus dieser Zeit?

Das Wichtigste vorweg: Ich beanspruche nicht, dass ich die Wahrheit kenne, sondern ich glaube, dass Sicherheit – so wie viele Themen auch – vom Diskurs lebt, und ich bin gerne bereit, darüber zu streiten. Wir haben in Deutschland eine Sicherheitsarchitektur, die optimierungsfähig ist. Niemand käme auf die Idee, wenn er, wie auf der grünen Wiese, eine neue Sicherheitsarchitektur kreieren wollte, beispielsweise 40 Behörden für die Terrorismusabwehr zuständig zu machen. Das ist aber in Deutschland so. Genau 40 Behörden arbeiten in Deutschland Tag für Tag gemeinsam im Terrorismusabwehrzentrum in Treptow. Es soll nun aber nicht die Axt an den Sicherheitsföderalismus gelegt werden, sondern man sollte nach der besten Lösung suchen. Es gilt zunächst die Bedrohungslage zu analysieren und die Folgen, die sich daraus ergeben. Das wäre dann die Basis für eine bestmögliche  Organisation der Sicherheitsbehörden.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich glaube, dass die Trennung von Inlands- und Auslandsaufklärung gerade beim Thema Terrorismus nicht mehr zukunftsweisend ist. Wir haben Terroristen, die aus dem Nahen Osten nach Deutschland eindringen, um hier Anschläge zu begehen. Andererseits haben wir deutsche Staatsbürger, die in Krisengebiete reisen, um sich dort einer terroristischen Gruppierung anzuschließen. Und über das Internet werden aus dem Ausland Anweisungen und Aufträge für Anschläge in Deutschland verbreitet. Die Inlands- und Auslandssachverhalte wachsen also immer mehr zusammen. Deshalb muss die Frage erlaubt sein, ob wir in Deutschland diese beiden Bereiche organisatorisch noch trennen müssen. Im Ausland ist nämlich der Bundesnachrichtendienst zuständig, im Inland dagegen das Bundesamt für Verfassungsschutz. Mir erscheint es vielmehr sinnvoll, die Bekämpfung des Terrorismus auf nachrichtendienstlicher Ebene zu bündeln und nur noch eine Behörde dafür zuständig zu machen. Das kann eigentlich nur das Bundesamt für Verfassungsschutz sein, denn wir werden sicher nicht den Auslandsnachrichtendienst auch fürs Inland zuständig machen wollen.

Und in Sachen Personal?

Da brauchen wir in der Tat anderes Personal. Personal, das einerseits breiter ausgebildet und andererseits besser spezialisiert ist. Wir sollten nicht nur in einer Behördenstruktur denken, sondern – ähnlich wie bei der Polizei – auch im Nachrichtendienst einen Austausch zwischen den Behörden sicherstellen. Bei der Polizei gibt es  einen gemeinsamen Ausbildungsstrang der Führungskräfte; hier wird gemeinsames polizeiliches Denken und Handeln eingeübt. Wir brauchen aber auch bei den Nachrichtendiensten eine einheitliche behördenübergreifende Führungskräfteausbildung. Und wir müssen Übergänge zwischen Polizei und Nachrichtendiensten schaffen, um eine gegenseitige Bereicherung  zu gewährleisten. Das würde unserer Sicherheitspolitik gut tun, wenn wir einen Verbund der Führungskräfte hinbekämen.

Stimmt der Eindruck, dass sich die Bundeskanzlerin für das Thema Innere Sicherheit nie wirklich interessiert hat, dass sie es zumindest eher zweitrangig behandelt hat?

So pauschal kann man das nicht sagen. Die Bundeskanzlerin kann sich sicher nicht persönlich um jeden Vorfall etwa in der Polizei kümmern; dafür hat sie ihre Apparate. Wir im Bundesnachrichtendienst haben uns jedenfalls nicht vernachlässigt gefühlt.

Weil Sie die Defizite ansprechen, fragt man sich, weshalb in den letzten Jahren so wenig bei der Sicherheitspolitik passiert ist. Sind wir denn, was die Nachrichtendienste angeht, überhaupt schlagkräftig genug aufgestellt?

Man verdient sich mit diesem Thema eben keine Lorbeeren. Welcher Abgeordnete kommt schon gern in seinen Wahlkreis und berichtet, dass er jetzt einen wichtigen Beitrag für die deutsche Sicherheitsarchitektur geleistet hat, während ihn die Bürger in der Sprechstunde fragen, warum sie zehn Euro für ein Arztrezept zahlen müssen? Deshalb rückt das Thema Sicherheit im Alltag auf der Agenda immer wieder nach unten. Ich hoffe dennoch sehr, dass die neue Bundesregierung sich der Revision der Sicherheitsarchitektur annimmt.

Von Ihnen ist das Bonmot „no risk, no fun“ bekannt geworden. Brauchen wir ein bisschen mehr Risikobereitschaft in der Politik, um sicherheitspolitisch voranzukommen?

Ich würde es anders formulieren: Politik muss bereit sein, Neuerungen und Veränderungen anzustoßen und diese gegebenenfalls aber auch zu revidieren. Es darf kein Tabu sein, auf dem wichtigen Feld der Sicherheitspolitik Korrekturen vorzunehmen, wenn man Fehlentwicklungen erkennt. Hierbei wünsche ich mir in der Tat mehr Mut und Risikobereitschaft. Wir brauchen endlich eine Gesamtanalyse, kein punktuelles Herumdoktern. Viel Geld und viel Personal für die Sicherheitsbehörden bereitzustellen, hilft allein nicht.

In Ihrem Buch „Wer hat Angst vorm BND?“ schreiben Sie, dass viele Ihrer Amtskollegen im Ausland regelrecht fassungslos reagiert hätten, als die Bundesregierung 2015 den Migrationsströmen keinen Einhalt gebot. Wie lauteten die Einwände der ausländischen Dienste?

In meinem Buch schreibe ich aber auch, dass es nicht sinnvoll ist, die Fehler der Vergangenheit zum Hauptthema zu machen. Die Menschen sind jetzt bei uns im Land, und wir sollten nicht schauen, was 2015 falsch gelaufen ist. Sondern die große Aufgabe ist es, eine Lösung für das derzeitige Problem zu finden. Die bedingungslöse Öffnung der Grenzen war natürlich problematisch, aber das weitaus größere Problem haben wir jetzt, weil sich nun hunderttausende unbegleiteter muslimischer Jugendlicher und Männer in Deutschland aufhalten. Diese Gruppe birgt ein gewaltiges Reservoir für Frust, Gewaltbereitschaft, Radikalisierung und Rekrutierung. Wenn wir in der Presse von dem einen oder anderen Vorfall lesen, wie beispielsweise jüngst von der Messerattacke im ICE, dann ist das nur die Spitze des Eisbergs. Wir benötigen jetzt eine riesige Kraftanstrengung, um diesen Problemen zu begegnen. Das kann man auf zwei Arten tun: Entweder wir schieben alle, die unberechtigt in Deutschland leben, zügig ab. Oder wir steigern unsere Integrationsmaßnahmen in ganz erheblichem Maße, damit wir diese Menschen in unsere Mehrheitsgesellschaft besser aufnehmen und ihnen eine Perspektive geben können. In beiden Bereichen, Abschiebung und Integration, sehe ich aber mehr Defizite als Fortschritte – und das ist alles andere als gut.

Soeben hat Angela Merkel zur Aufnahme hunderttausender Migranten verkündet: „Ja, wir haben das geschafft.“ Sehen Sie das auch so?

Das ist eine Definitionsfrage; jeder hat sein eigenes Definitions- und Wertesystem. Ich glaube, dass wir in Deutschland noch lange daran arbeiten werden, die Folgen  dieser Welle von 2015/16 zu bewältigen. Letzten Endes setzt sich das ja bis heute fort. Wir hatten vor Corona  pro Jahr rund 160.000 Migranten, die nach Deutschland kamen. Nach Corona wird es nicht anders sein. 160.000 Menschen – das entspricht der Bevölkerung einer Großstadt. Das ist kein Pappenstiel, und das Thema ist noch lange nicht beendet.

An der Grenze von Polen zu Weißrussland ist derzeit zu erleben, wie der weißrussische Diktator Lukaschenko Migranten in einer Art hybrider Kriegsführung als Waffen einsetzt, um die EU zu destabilisieren. Wie müsste eine adäquate Lösung aussehen?

Den Sicherheitsverantwortlichen wird ja oft unterstellt, dass sie ausländerfeindlich oder sogar rassistisch seien. Bei diesem Thema möchte ich aber sagen, dass es mir gar nicht um die Frage der Migration geht, sondern um das Sicherheitsproblem, das dahintersteckt. Nicht jeder, der illegal zu uns kommt, ist damit gleich kriminell. Es gibt viele, viele positive Beispiele der Bereicherung durch Migranten. Wenn wir aber warnend darauf hinweisen, dass die Migration auch ein Sicherheitsproblem ist, dann darf man nicht mit der Nazi-Keule kommen, sondern dann muss man aus meiner Sicht vernünftig darüber sprechen können. Wenn jeden Tag Menschen ungeprüft zu uns kommen, stellt das ein Sicherheitsproblem dar; wir erleben das bei der fehlenden Integration und bei den negativen Vorfällen tagtäglich. Wir müssen deswegen viel klarer und konsequenter  werden gegenüber Russland und Weißrussland, denn das ist die Sprache, die Putin und Lukaschenko verstehen. Wir müssen deutlich machen, dass wir uns das nicht gefallen lassen. Beispielsweise könnte man auch das Projekt Nord Stream 2 noch einmal auf den Prüfstand stellen, wenn Putin nicht mäßigend auf Lukaschenko einwirkt.

Sie sehen bei dem Konflikt mit Weißrussland und den Migranten an der Grenze in Wahrheit also Putin dahinter?

Ich sehe Putin nicht als Veranlasser, sondern als Teil der Lösung dahinter. Einfluss auf Lukaschenko nehmen kann nicht der Außenbeauftragte der EU, sondern eben Putin.

Die Präsidentin der europäischen Kommission Ursula von der Leyen weigert sich, Gelder bereitzustellen, um die Grenzbefestigung zwischen Polen und Weißrussland auszubauen. Tenor ist, dass in Europa keine neuen Grenzen aufgebaut werden sollen. Wie sehen Sie das? Müssen wir die Grenzen, die wir faktisch haben, nicht auch verteidigen?

2015/16 war es ja das gleiche Problem. Es ging ja auch damals darum, ein Zeichen zu setzen. Mit einer solchen Grenzschließung sendet man das Signal in die Welt, und damit auch in die Herkunftsgebiete der Migranten, dass dieser Weg versperrt ist. Migranten sollten sich also erst gar nicht auf diesen gefährlichen Weg begeben. Nicht der Deal mit der Türkei war der Faktor, der damals die Massenmigration zu uns gestoppt hat, sondern es waren die Zäune auf dem Balkan, die Zäune von Bulgarien, Mazedonien und von Ungarn. Letztendlich haben wir es diesen Staaten zu verdanken, dass bei uns eine Entspannung eintrat, damit wir den Deal mit der Türkei – über den man sich trefflich streiten kann – aushandeln konnten. Die Zäune auf dem Balkan haben gezeigt, dass sie  ein adäquates Mittel sind, um illegale Migration zu stoppen. Insofern kann ich gut nachvollziehen, dass Polen einen Grenzzaun errichten will. Weniger gut nachvollziehen kann ich, warum wir Polen dabei finanziell nicht unterstützen.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem BND für seine Nachrichtenbeschaffung im Ausland vergangenes Jahr enge Grenzen gesetzt, indem es praktisch den Wirkungsbereich des Grundgesetzes auch auf ausländisches Territorium ausgedehnt hat. Sind die Folgen dieses An-die-Leine-Legens schon spürbar?

Dieses Urteil wird noch lange nachhallen, und ich befürchte, es wird die Informationsbeschaffung des Bundesnachrichtendienstes auch beeinträchtigen. Es ist ein Gesetz der Logik: Je mehr Voraussetzungen man fordert, um Kommunikation aufklären zu können, umso weniger wird man quantitativ Kommunikation erfassen können. Und umso weniger man erfasst, desto weniger qualitative Inhalte wird man erhalten. Weniger erfassen bedeutet im Ergebnis also weniger Informationen. Und es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass Nachrichtendienste im Vorfeld arbeiten.

Was heißt das konkret?

Man hat nachrichtendienstlich bei Beginn von Operationen oft nur vage Anhaltspunkte, da man ja im Vorfeld die Nadel im Heuhaufen sucht. Wenn das Verfassungsgericht jetzt festlegt, dass  jeder Mensch auf der Welt ein Grundrechtsträger ist, dann darf der BND, so das Gericht, nicht mehr mit diesen vagen Anhaltspunkten arbeiten, sondern muss Tatsachen beibringen. Diese Tatsachen haben Sie bei einem Frühwarnsystem aber in aller Regel nicht. Sie haben zunächst nur Vermutungen und vage Indizien. Sie haben bei Beginn einer technischen Aufklärungsmaßnahme eben nicht die konkrete Mobilfunknummer des Terroristen, sondern die wollen sie ja gerade erst im Heuhaufen finden. Es fallen somit eine Menge von Aufklärungsmaßnahmen weg, weil die Voraussetzungen, die das Gericht  fordert, nicht beigebracht werden können.

Im Endeffekt macht man sich damit ein Stück weit abhängiger von ausländischen Diensten?

Ganz klar, wir machen uns damit von ausländischen Diensten abhängig. Nämlich von regionalen Diensten oder anderen großen, die in der jeweiligen Region arbeiten.

Aber diese Dienste teilen ihre Informationen ja nicht nur aus Freundlichkeit oder Hilfsbereitschaft, sondern sie erwarten im Austausch dafür auch etwas. Was kann man denen denn bieten?

Dieses Problem hat das Verfassungsgericht in dem gleichen Urteil leider noch verstärkt, indem es gesagt hat, dass man bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten eine sogenannte rechtsstaatliche Vergewisserung herbeiführen muss. Das bedeutet, dass wir künftig nicht mit jedem Dienst zusammenarbeiten können, sondern es muss vorab geprüft werden, ob dieser Dienst unseren rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht. Da kann man die Hälfte der Dienste im Nahen und Mittleren Osten als Partner vergessen. Wenn die eigene Informationsbeschaffung auf Grund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes geringer wird, wäre die internationale Zusammenarbeit umso wichtiger. Diese wird aber vom Gericht durch die Auflage der rechtsstaatlichen Vergewisserung begrenzt. Welche Blüten das treibt, sieht man am Beispiel Mali. In Mali arbeiten der Bundesnachrichtendienst und die Bundeswehr in zwei Missionen. In Mali hat die Armee geputscht, und so stellt sich die Frage, ob der Bundesnachrichtendienst dort überhaupt noch mit ortsansässigen Organisationen zum Schutze unserer Soldatinnen und Soldaten zusammenarbeiten kann. Denn Militärs, die durch einen Putsch an die Macht gekommen sind, entsprechen ganz sicher nicht unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Ich glaube, dass die hohen Voraussetzungen, die jetzt an die Tätigkeit des Bundesnachrichtendienstes gestellt werden, nicht praxistauglich sind. 

Das heißt, es liegt eine klare und nachhaltige Schwächung der deutschen Informationsbeschaffung vor?

Ich befürchte, dass es eine Schwächung der Informationsbeschaffung des Bundesnachrichtendienstes ist. Man muss die Entwicklung abwarten, aber sollten sich die Befürchtungen bestätigen, müsste man eine andere Rechtslage herbeiführen.

Glauben Sie, dass eine künftige Ampel-Koalition das Thema Innere und Äußere Sicherheit ernster nehmen wird? Gerade die Grünen stehen ja nicht gerade im Verdacht, bei diesem Thema besonders sensibel zu sein.

Ich habe keine Zweifel daran, dass Menschen, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, sich guten Argumenten gegenüber offen zeigen. In den Ausschüssen, die ich als Präsident mit bedient habe – das war das Parlamentarische Kontrollgremium, die G-10-Kommission, aber auch der NSA-Untersuchungsausschuss –, hatte ich nicht den Eindruck, dass das Verständnis für die Belange des Bundesnachrichtendienstes von der Parteirichtung abhängt. Da kam es immer auf den einzelnen Abgeordneten an. Ich glaube nicht, dass eine neue Regierung weniger für die Belange der Sicherheitsbehörden zugängig ist als die bisherige.

Was sollte für die nächste Bundesregierung absolute Priorität haben bei sicherheitspolitischen Aspekten?

Ich glaube, man braucht diese von mir skizzierte Gesamtreform der deutschen Sicherheitsarchitektur. Die FDP hat im Grundsatz eine solche Gesamtrevision 2019 bereits parlamentarisch vorgeschlagen; damals hat der Antrag leider keine Mehrheit erhalten.  Vorstellbar wäre, dass jetzt ein zweiter Anlauf genommen und innerhalb der neuen Regierungskoalition eine solche Gesamtrevision vereinbart wird. Das wäre jedenfalls ein wichtiger Schritt. Wichtig wäre auch, dass wir in Deutschland einen Nationalen Sicherheitsrat auf Ministerebene etablieren. Das könnte auch der um diese neuen Aufgaben erweiterte Bundessicherheitsrat sein, der momentan faktisch nur für die Ausfuhrkontrolle zuständig ist. Der Nationale Sicherheitsrat benötigte dann einen eigenen Unterbau, quasi ein eigenes Ministerium. Dort müssten Lagevorbereitungen, Bedrohungsanalysen in Auftrag gegeben und die Koordinierung der Sicherheitsbehörden vorangebracht werden. Dort wäre auch eine Gesamtrevision unserer deutschen Sicherheitsarchitektur richtig angesiedelt, ebenso die Verlinkung zur Wissenschaft und damit zu den Nicht-Regierungsorganisationen. Ich erwarte mir von einem Nationalen Sicherheitsrat auch eine bessere Vorbereitung von Auslandsmissionen sowie einen echten Diskurs über den Stellenwert der Sicherheit im nationalen und internationalen Kontext. Das wäre ein Modul zur Entwicklung einer Sicherheitskultur, wie sie bisher in Deutschland fehlt.

Ex-BND-Chef Gerhard Schindler / dpa

Sie haben stets auch vor chinesischer Datenspionage gewarnt. „China Telecom“ musste sich soeben wegen Sicherheitsbedenken aus dem US-Markt zurückziehen. Was bedeutet das für die chinesische Firma Huawei und ihre mögliche Beteiligung am Ausbau des 5-G-Netzes in Deutschland?

Ich habe mich mehrfach gegen die Beteiligung von Huawei am Ausbau unseres 5-G-Netzes ausgesprochen. Nicht, weil ich davon ausgehe, dass diese Firma eine Spionage-Organisation sei. Sondern weil eine chinesische Firma wie Huawei gar nicht anders kann als mit den dortigen Sicherheitsbehörden zusammenzuarbeiten, weil es chinesischer Rechtslage entspricht und die Tech-Konzerne an die Leine gelegt werden. Dass wir dieses Risiko sehenden Auges eingehen, halte ich für falsch. Ich habe großes Verständnis dafür, dass die USA und auch andere Länder Huawei beim Ausbau des 5-G-Netzes ausgeschlossen haben.

Nun könnte man auch sagen, dass wir damit die guten Wirtschaftsbeziehungen zu China gefährden.

China versteht – im Gegensatz zu uns – Sicherheitspolitik. Bei der Luftfahrt haben wir die letzten Reste der europäischen Luftfahrtindustrie zusammengelegt und daraus den Airbus-Konzern geschmiedet, der ein echter Erfolgskonkurrent zu Boeing geworden ist. Und wenn wir die IT-Firmenlandschaft in Europa betrachten, hätte dieses Modell auch hier eine gute Zukunft gehabt.  Den Technologie-Vorsprung, den Huawei eindeutig hat, hätten wir dann in absehbarer Zeit wettgemacht. Jetzt ist es so, dass wir technologisch abhängig bleiben; das vergleiche ich gerne mit einem Ingenieur für Verbrennungsmotoren und einem Dampfmaschineningenieur. Wir stehen auf dem Niveau des Dampfmaschineningenieurs und können in aller Regel gar nicht beurteilen, welche Komponenten mit welchen Funktionen eingebaut werden. Das Risiko, dies nicht zu wissen, das wäre mir zu groß.

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

 

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