Chaos in der Koalition - Kanzler ohne Mehrheit

Ist Olaf Scholz ein Irrtum der Geschichte? Tatenlos schaut der Bundeskanzler dieser Tage zu, wie sein Kabinett in existentiellen Fragen strauchelt und scheitert. Sollte der Kanzler nicht schnell das Kabinett umbilden, ist er für unseren Kolumnisten Jens Peter Paul der falsche Mann am falschen Ort.

Olaf Scholz / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Wes Geistes Kind ist dieser Bundeskanzler? Was sagt es über die Prioritäten, über den Charakter eines Regierungschefs, wenn dieser seine Außenministerin von einer NATO-Tagung zurückruft, in der es um nichts weniger geht als um die Rettung der Ukraine, damit diese an einer ohnehin verlorenen Abstimmung im Bundestag teilnimmt? Was sind die großen Sätze von Olaf Scholz in seiner gefeierten Zeitenwende-Erklärung vom 27. Februar noch wert, wenn er sie seither Stück für Stück dementiert, ja sogar selbst sabotiert?

Wie kann der Inhaber der Richtlinienkompetenz wochenlang tatenlos zusehen, wie in der aktuellen Lage existentiell wichtige Ministerien ganz offen gegen ihn arbeiten, mit äußerst schrägen Motiven, die alles mögliche sind, nur nicht geeignet, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden? 

Was ist hier eigentlich los? 

Scholz hat sich innerhalb von 120 Tagen so gründlich in alle zur Verfügung stehenden Nesseln gesetzt, wie das noch keinem Bundeskanzler vor ihm gelungen ist. Inhalt, Stil und Ergebnisse seiner Arbeit sind Murks aus allen denkbaren Perspektiven. Dabei muss man gar nicht in den Chor derer einstimmen, die ihn seit diesem Donnerstag flächendeckend zur Minna machen, weil er in Sachen Impfungen nicht einmal eine Minimallösung zustande gebracht hat. Der Bundestag hat vielmehr mit holprigen Methoden die richtige Lösung gefunden, was allemal besser ist als umgekehrt. Es gibt nun einmal für eine wie auch immer geartete Impfpflicht aktuell keine auch nur halbwegs solide wissenschaftliche Grundlage. Diese Tatsache, spätestens mit Aufkommen der Omikron-Variante und deren Wirkungen offensichtlich, zerlegte alle anderslautenden Darstellungen und Argumente. 

Sobald sich die Corona-Sachlage erneut durchgreifend ändert mit neuen Virus-Varianten, neuen Impfstoffen, neuen und dann vielleicht endlich zutreffenden Statistiken und Zahlen, kann sich daraus sehr schnell auch neuer Handlungsbedarf für Regierung und Parlament ergeben. Im Moment ist das aber nicht der Fall. Wenn keine einzige Vorlage am Donnerstag mehrheitsfähig war, dann ist das also kein Unglück und auch nicht zwingend eine Pleite für den Kanzler, sondern schlicht sachgerecht und vernünftig. Eine Zwangsverimpfung mit einem Mittel, von dem niemand sagen kann, ob und wie es gegen künftige Viren im Herbst oder wann auch immer helfen kann, wäre in jeder Hinsicht verfehlt und im übrigen so grob grundgesetzwidrig, das es wahrscheinlich nicht einmal vor einem sehr einseitig besetzten Bundesverfassungsgericht Bestand hätte.

Weil sie es können

Nein: Viel schwerer wiegt, dass Olaf Scholz in den existentiellen Fragen, die in diesen Wochen anstehen, keine Mehrheiten hat. Maßgebliche Akteure in den Fraktionen und im eigenen Kabinett arbeiten schamlos gegen seine Zeitenwende. Weil sie es wollen, weil sie es können und weil ihnen niemand in den Arm fällt, schon gar nicht der Kanzler selbst. Dachte man anfangs noch, Christine Lambrecht sei als Verteidigungsministerin halt ein Missgriff, wie er jedem Vorgesetzten passieren kann, so ist seit dem Überfall auf die Ukraine klar, dass diese Frau sich mit ihrer Torpedierung echter militärischer Hilfe auf den Mainstream in SPD-Fraktion und -Partei stützt. Abgesehen von Robert Habeck und an manchen Tagen Annalena Baerbock gilt dies erst recht für die Grünen. Lambrechts 5000-Schutzhelme-Nummer war nicht etwa ein Anfänger-Fehler, sondern erster Akt eines ganzen Konzepts, das besagt: Bundeswehr ja, aber bitte nicht in militarisierter Form, am Ende gar abwehrbereit gegen einen jahrzehntelang von der SPD verhätschelten Nachbarn", womit nicht etwa Polen gemeint war und ist oder die Ukraine, sondern Russland. 

Damit befindet sich die Verteidigungsministerin perfekt auf einer Linie mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der von einer funktionierenden Armee ebenfalls noch nie etwas gehalten hat, erst recht nicht, seitdem ein Krieg mitten in Europa sein ganz persönliches Weltbild grundsätzlich in Frage stellt. Mützenich und Lambrecht sind auf dem Stand von 1972 stehengeblieben. Schon Helmut Schmidts Nachrüstung haben sie, wie übrigens auch Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier, nie unterstützt, nie wenigstens als notwendiges Übel akzeptiert, sondern als schweren Irrtum bekämpft. 

Annäherung ohne Wandel

Mützenich und Lambrecht glauben bis heute, nicht etwa die Mittelstreckenraketen Pershing II hätten die Sowjetunion und den Warschauer Pakt zerlegt, sondern ihr Verständnis von Wandel durch Annäherung, also die SPD. Deswegen unternehmen sie alles, um eine Instandsetzung der Bundeswehr zu verhindern, wenigstens aber so lange hinauszuzögern, bis sich Wladimir Putin ausgetobt hat und mit einer Teilung der Ukraine zufriedengibt. So ganz falsch fanden sie den SED-Spruch vom Antifaschistischen Schutzwall" ja eigentlich nie. Was Jusos und Linke unverändert offen aussprechen, dass es sich gehöre, endlich auch Rußlands vermeintlich legitime Interessen im Ukraine-Konflikt" angemessen zu würdigen, lebt in der linkesten SPD-Bundestagsfraktion aller Zeiten munter fort, und zwar in Jung wie Alt. Kein Wunder, dass sich Die Linke täglich verzweifelter fragt, wofür sie eigentlich noch gut sein soll. 

Die Folgen sind jetzt schon erschreckend. Die von Scholz neulich versprochene Erhöhung des Verteidigungsetats auf mindestens oder sogar mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts findet im Bundeshaushalt 2022 und folgende nach jetzigem Stand gar nicht statt. Anstelle der dafür notwendigen 72 Milliarden Euro soll es bei jenen 50 Milliarden bleiben, die schon im vergangenen Jahr vorgesehen waren, was 1,4 Prozent vom BIP entspräche. Darauf angesprochen, behaupten Politiker der Ampel neuerdings, die 100 Milliarden Sondervermögen" müssten in diese Rechnung einbezogen werden. Das hatten aber Beobachter und Medien nach jener Sondersitzung des Bundestages vom 27. Februar ganz anders verstanden; niemand aus der Koalition widersprach, auch nicht der Kanzler und die Außenministerin. Beide sonnten sich vielmehr anschließend im ungewohnten Lob der NATO-Partner.  

Der Wackelkurs hatte am Freitag bereits Folgen im Bundesrat, den die Regierung braucht für die von ihr angestrebte Änderung des Grundgesetzes in beiden Häusern. Für letztere gibt es in der Länderkammer im Moment offensichtlich nicht einmal eine einfache Mehrheit. CDU, CSU und Linke in den Landesregierungen denken mit unterschiedlichen Motiven, aber einstweilen identischem Ergebnis nicht daran, einer Bundesregierung zur Hilfe zu eilen, die in der Frage der Zukunft der Bundeswehr nicht weiß, was sie will, und aus Sicht des Auslands ein jämmerliches Bild abgibt bei der militärischen Unterstützung der in ihrer Existenz bedrohten Ukraine. Von der zuständigen Ministerin ist aber nach wie vor täglich nur zu hören, was ihrer Meinung nach alles nicht geht.

Olaf Scholz selbst verhält sich in der Frage eines Weiterbetriebs der verbliebenen drei Atomkraftwerke, um einen Blackout im kommenden Winter abzuwenden, übrigens ganz ähnlich. In der Fragestunde des Bundestages wies er Forderungen zurück, die niemand aufgestellt hatte, etwa, dass hier eine sofortige und einfache Lösung auf der Hand liege. Der Kanzler sagte im Plenum: Wenn man die Kernkraftwerke dauerhaft oder jetzt länger laufen lassen will, braucht man neuen Kernbrennstoff, der nicht einfach verfügbar ist, der auch an technische Voraussetzungen gebunden ist, die nicht über Nacht erfüllt werden können."

Verliebt ins Scheitern

Olaf Scholz hat sich aus rätselhaften Gründen, die in verqueren Quotenerfordernissen nur zum Teil zu finden sind, ein destruktives Kabinett zusammengestellt, das ins Scheitern verliebt ist, weil jedes Gelingen den jeweils eigenen Ideologien der Ministerinnen und Minister diametral widerspräche  Thema egal. 

Seine Innenministerin ist insofern aus menschlicher Sicht die Krönung, als sie die freundliche Aufnahme von Alten, Müttern und Kindern aus dem europäischen Kriegsgebiet nicht etwa begrüßt und nach Kräften unterstützt, sondern sogar offen hintertreibt und die Fluchtwelle als historische Gelegenheit zu nutzen versucht, ihr Konzept einer grenzen- und bedingungslosen Aufnahme von Zuwanderern und Flüchtlingen aus aller Welt zu verwirklichen. 

Kompatibel mit der eigenen Herkunft

Kontrollverlust ist aus ihrer Sicht nicht etwa ein Mangel, sondern im Gegenteil Grundvoraussetzung für die Durchsetzung ihrer Vorstellung unbegrenzter Einwanderung ohne Ansehen der Person, mögen sich Innenpolitiker und Bundespolizisten auch den Mund fusselig reden angesichts der besonders für Frauen und Mädchen gefährlichen Folgen dieser Ignoranz. Nicht einmal eine systematische Registrierung und Verteilung ist gegen Nancy Faeser durchzusetzen, weil ihr die ganze Linie einer Ungleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte nicht passt. Doch der Bundeskanzler lässt auch sie gewähren, was inzwischen den Schluss nahelegt, dass ihm das Amtsverständnis der Ministerinnen Lambrecht und Faeser insgeheim ganz recht ist, weil es so schön mit seiner Stamokap-Antifa-Sozialisation kompatibel ist. 

Was uns zur Frage zurückführt, wes Geistes Kind dieser Herr Scholz ist. Überforderung und Orientierungslosigkeit oder Absicht und Agenda? In Zeiten einer akuten Bedrohung westlicher Grundwerte, eines freiheitlichen Lebens handelt es sich um eine existentielle Frage mit einer Bedeutung, die weit über das eigene Land hinausgeht. 

Sollte dieser Bundeskanzler nicht ganz schnell das Ruder herumreißen mit einer durchgreifenden Kabinettsumbildung als unabdingbarer Notmaßnahme, wird die Antwort noch vor dem Sommer lauten: Dieser Mann ist der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort. Ein Irrtum. 
 

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