Bund-Länder-Runde zu Covid - Was wir alles nicht wissen wollen

Wenn heute neue Verschärfungen der Corona-Maßnahmen beschlossen werden, kann es nicht schaden, sich noch einmal die Folgen der bisherigen Pandemie-Politik ins Gedächtnis zu rufen: wirtschaftlichen Abstieg, psychische Probleme bei Kindern und vermehrte Armut im globalen Süden.

Hauptsache Infektionsschutz: die Innenstadt von Oldenburg vor einem Jahr / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Was wir alles wissen. Wir wissen, dass am 3. Dezember noch keine Spuren der erstmals in Afrika aufgetretenen Omikron-Variante in Abwasserproben der bayerischen Landeshauptstadt München nachgewiesen wurden, und wir wissen, dass das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, von Bahnmitarbeitern mit Kundenkontakt genauso hoch ist wie das von Bahnmitarbeitern ohne Kundenkontakt. Ferner wissen wir aber auch, dass im Mai 2020 insgesamt 33 Doppeldecker-Busfahrer in London im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind, dass eine Kombination von Moderna und Astrazeneca den größten Schutz beim Boostern liefert und das sich Katzen eher mit Coronaviren infizieren als Hunde.

Vor dem Hintergrund, dass uns das Sars-Cov-2-Virus gerade einmal zwei Jahre beschäftigt, ist das eigentlich eine immense Fülle an Wissen. Bis in die kleinsten Verästelungen hinein haben wir das neuartige Virus beobachtet, vermessen und ausspioniert. Mit jedem neuen Tag, den Gott werden ließ, wussten wir mehr über den kleinen Erreger mit seiner Genomgröße zwischen 29.825 und 29.903 nt. Bis heute füllen wir täglich ganze Zeitungsseiten mit neuen Studien, und politische Debatten heizen wir mit aktualisierten Handlungsanweisungen an.

Empörung in Wellen

Das Ergebnis: ein Konvolut an neuen Theorien und aktualisierten Kenntnisständen, welches dazu geführt hat, dass die Ministerpräsidenten am heutigen letzten Dienstag vor Weihnachten noch einmal mit dem Bundeskanzler zusammenkommen, um in einem weiteren Bund-Länder-Treffen das zu tun, was nicht nur die deutsche Politik seit nunmehr 21 langwierigen Monaten tut: schließen, beschränken, reduzieren, reglementieren. Und das alles, weil angeblich „der Ruf nach weiteren Maßnahmen lauter“ wird, wie in der Zwischenzeit meinungsstarke Galeerentrommler in den Zeitungsredaktionen und Rundfunkanstalten nicht müde werden zu berichten.

Und es stimmt ja auch: Laut einer Befragung für den Deutschlandtrend vom 3. Dezember gingen bereits vor gut zwei Wochen 60 Prozent der befragten Wahlberechtigten die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht weit genug. Und nur noch 17 Prozent waren der Meinung, dass die Maßnahmen übertrieben seien. Parallel zur vierten Infektionswelle also schien Empörung in synchronen Wellen zu verlaufen, schließlich waren noch im November lediglich 29 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Maßnahmen verschärft gehörten.

Lockdown-Kollateralschäden

Haben Kanzler und Ministerpräsidenten somit nicht recht, wenn sie heute aller Voraussicht nach schärfere Kontaktbeschränkungen für Geimpfte und Ungeimpfte spätestens ab dem 28. Dezember beschließen, Klubs und Diskotheken in die Winterpause schicken und überregionale Großveranstaltungen von Zuschauern ausschließen werden?
Über die Wirkung derartiger Maßnahmen streiten sich bis heute die Geister. Während eine Studie der Covid-19 Data Analysis Group von der LMU München noch im Sommer darauf verwies, dass kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Lockdown-Maßnahmen und Infektionsgeschehen nachweisbar ist und andere Studien sogar von erheblichen Kollateralschäden durch die sogenannten Non-Medical-Interventions berichten, scheint die öffentliche Debatte von berechtigten Zweifeln unbeeindruckt zu bleiben. Kaum dass – wie aktuell mit der Omikron-Variante – die Zukunft wieder ein Stück undurchsichtiger wird, wächst der Ruf nach mehr Schutz und Sicherheit, und die politisch Handelnden folgen ihm besonders in diesen Tagen wie der Pawlow'sche Hunde den Weihnachtsglocken.

Was aber wäre, wenn wir Medien - vielleicht nur mal versuchsweise für eine Woche – Tag für Tag ganz andere Zahlen auf die Titelseiten brächten? Denn was wir auch wissen ist ja dieses: Im Warenkorb des Statistischen Bundesamts stiegen die Preise im letzten Monat um 5,2 Prozent, in den USA sogar um fast 7 Prozent; und nicht wenige Wirtschaftswissenschaftler gehen längst davon aus, dass es sich hierbei nicht nur um Kompensationseffekte handelt. Derweil hat die Zahl der Insolvenzen 2021 um 60 Prozent zugenommen. Eine Studie der Wirtschaftsauskunftei Creditreform begründet diesen steilen Anstieg mit einem deutlichen Plus an Verbraucherinsolvenzen von 80,9 Prozent sowie von Insolvenzen bei Kleinstunternehmen (70,2 Prozent).

Kinderpsychiatrien am Limit

Weiterhin wissen wir, dass Kinderpsychiatrien am Limit sind und der Missbrauch der Schwächsten im Schutze der Kontaktverringerungen immens zugenommen hat. Exemplarisch eine Schilderung aus der Heckscher-Klinik in München: Von hier berichtete der Bayerische Rundfunk jüngst, dass innerhalb von 24 Stunden 15 Notfälle mit suizidgefährdeten Kindern vorstellig geworden seien. Eine gerade erschienene Studie der Universität Krems weist darauf hin, dass 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Jungen im Nachbarland Österreich lockdownbedingt schwere psychische Störungen davongetragen haben. Ein Fünftel der Mädchen sowie 14 Prozent der Jungen litten demnach sogar unter wiederkehrenden suizidalen Gedanken.

Wir wissen, dass die gut gemeinten Prognosen zur wirtschaftlichen Erholung im Jahr 2021 nicht eingetreten sind und dass das ifo-Institut jüngst einen erneuten Anstieg der Kurzarbeit aufgrund von Lieferengpässen verzeichnen musste. Und wir wissen, dass die Staatsverschuldung in nahezu allen westlichen Ländern durch die Decke geht. Laut IWF stehen die größten westlichen Staaten durchschnittlich mit rund 140 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in der Kreide. Und in den Entwicklungsländern sieht es wahrlich nicht besser aus: So wies die Welthungerhilfe in ihrem „Welthunger-Index 2021“ jüngst darauf hin, dass die Weltgemeinschaft mit ihrem Ziel, den Hunger bis 2030 abzuschaffen, „dramatisch“ vom Kurs abgekommen sei. Nicht zuletzt die Maßnahmen gegen die Pandemie hätten dazu geführt, dass sich weltweit 155 Millionen Menschen in einer akuten Ernährungskrise befänden und die Zahl der akut unterernährten Menschen 2020 um fast 20 Millionen Menschen gestiegen sei.

23 Millionen Kinder nicht gegen Polio, Keuchhusten oder Masern geimpft

Und während der globale Norden noch von der weltweiten Herdenimmunität träumt, sind im Süden sogar Impfprogramme gegen Polio, Keuchhusten oder Masern auf dem Rückzug. So sollen im ersten Jahr der Covid-19-Pandemie 23 Millionen Kinder aufgrund von Lockdowns und sonstigen Einschränkungen nicht gegen andere lebensbedrohliche Krankheiten geimpft worden sein.

Das alles also sind Dinge, die wir ebenfalls wissen. Sie stehen nicht jeden Tag auf den Titelseiten, und sie eröffnen nicht den Nachrichtenblock von Tagesschau oder Deutschlandfunk. Doch wenn in der Bund-Länder-Konferenz heute erneut Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 beschlossen werden, wenn wieder reduziert und reglementiert wird, dann sollten wir uns auch diese Zahlen endlich mal genauer anschauen. Denn die Welt ist weit mehr als ein R-Wert – zumal noch immer nicht klar ist, ob die höhere Infektiosität von Omikron nicht zulasten der Gefährlichkeit geht. Und die Welt ist auch mehr als das Ergebnis einer Abwasserprobe aus München. In der fanden Wissenschaftler jüngst übrigens tatsächlich Spuren von Omikron – in fünf Proben nach dem 7. Dezember. Wir wissen eben wirklich unglaublich viel. Jetzt müssen wir wohl nur noch herausfinden, was wir nicht wissen – oder was wir vielleicht auch gar nicht en détail wissen wollen.

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