Meistgelesene Artikel 2021: Oktober - Die schleichende Demontage der Franziska Giffey

Während die Berliner Landeswahlleiterin heute bekanntgab, Einspruch gegen die Wahl einlegen zu wollen, streitet die Berliner SPD um ihr Profil. Mit ihrem Bekenntnis zu bürgerlich-konservativen Werten hat Franziska Giffey die Partei zum Wahlerfolg geführt. Doch ihre Partei mag diesen Weg nicht mitgehen.

Franziska Giffey, Vorsitzende der Berliner SPD und designierte Regierende Bürgermeisterin / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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SPD und Grüne haben sich heute darauf verständigt, in abschließende Sondierungen mit den Linken für das Ziel einer Neuauflage der „rot-rot-grünen“ Koalition einzutreten. Als Grund für diese Entscheidung nannte die SPD-Landesvorsitzende Franziska Giffey, dass die bisherigen Sondierungen ergeben hätten, dass es mit den Linken die meisten Schnittmengen gebe. Die vorab ebenfalls sondierte Option einer Ampelkoalition mit der FDP ist damit vorerst vom Tisch, und eine von der SPD-Spitzenkandidatin ins Auge gefasste „Deutschland-Koalition“ mit CDU und FDP ist in ihrer Partei ohnehin nicht durchsetzbar.

Das Wahlergebnis vom 26. September legt eine Fortsetzung der bisherigen Koalition auf den ersten Blick durchaus nahe. Denn der „rot-rot-grüne Block“ hat seinen Stimmenanteil sogar leicht erhöhen können, von 52,4 auf 54,3 Prozent. Während die SPD ihre Position halten konnte, legten die Grünen deutlich zu. Die Linke musste zwar Einbußen hinnehmen, aber bei weitem nicht so dramatisch wie im Bund.

Der bürgerliche Block aus CDU und FDP hat dagegen nur um 0,9 auf 25,3 Prozent zugelegt. Gegen einen vermeintlichen Rechtsrutsch sprechen ferner die deutlichen Verluste der AfD, die 6,2 Prozent einbüßte und sich somit fast halbierte. Auch der mit knapp 57 Prozent der abgegebenen Stimmen erfolgreiche Volksentscheid der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ deutet auf eine eher linke Grundstimmung in der Stadt hin.

Soziokulturelle Biotope in der Innenstadt

Doch von welcher Stadt reden wir eigentlich? Welche Trennlinien innerhalb dieses Molochs sich rasant verfestigt haben zeigt ein etwas differenzierterer Blick auf die Struktur und die Wahlergebnisse. Als Kern Berlins gelten die innerstädtischen Stadtteile, die sich innerhalb des S-Bahn-Rings befinden. Dort leben rund 1,1 Millionen Menschen. Bekannt sind „angesagte“ Stadtteile wie Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Schöneberg, Nord-Neukölln und natürlich der Bezirk Mitte. Und genau auf die Mehrheit beziehungsweise eloquente Minderheit der Menschen in der Innenstadt war das „rot-rot-grüne Projekt“ zugeschnitten: Zurückdrängung des privaten Pkw-Verkehrs, Ausbau der Fahrradinfrastruktur, Start-up-Projekte, „innovative“ Dienstleistungen, Klub- und andere Kultur, alternative und queere Lebensformen, Bürgerbeteiligung für die Lauten.

Hier wurden Bürgerinitiativen, Mietergruppen, von Verdrängung bedrohte Hausgemeinschaften, Beratungsstellen für und gegen alles Erdenkliche teilweise großzügig alimentiert und in die rot-rot-grüne Blase integriert. Hier ist verabsolutierter Klimaschutz bei vielen eine Frage der Haltung und nicht des Geldbeutels. Hier kann man in vollen Zügen die Prekarisierung des Arbeitsmarktes genießen, denn „Gorilla“ und „Lieferando“ liefern feinste Bio-Lebensmittel und das Menü vom Lieblings-Italiener binnen kürzester Zeit an die Wohnungstür. Und als es dem prekären Heer der in der Innenstadt konzentrierten Soloselbstständigen in der Kultur-, Tourismus-, Dienstleistungs- und „Kreativ“-Branche in den Hochzeiten der Corona-Pandemie an den Kragen ging, wurden flugs ein paar Milliarden Euro ausgepackt und vergleichsweise unbürokratisch mit der Gießkanne verteilt, um dieses Klientel ruhigzustellen.

Ein Blick auf das aktuelle Wahlergebnis zeigt überdeutlich, wer diese Gemengelage am besten repräsentiert. Hier haben die Grünen gewaltig abgeräumt. Innerhalb des S-Bahn-Rings gewann die Partei mehr als drei Viertel aller Direktmandate sowie die Mehrheiten in allen Bezirksparlamenten, in fünf von zwölf Berliner Stadtbezirken wird sie künftig den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin stellen – bisher waren es nur zwei. Auch die Linke konnte sich in der Innenstadt besser behaupten als im Landestrend. Dagegen musste die SPD teilweise herbe Verluste hinnehmen – auf Landesebene blieb sie dagegen stabil. CDU und FDP haben im Innenstadtbereich wenig zu melden und die AfD sowieso nicht.

Andere Lebenswelten außerhalb des S-Bahn-Rings

Doch es gibt ein Problem. Denn in diesem Bereich leben zwar 1,1 Millionen Menschen, und rechnet man die engere Nachbarschaft jenseits des S-Bahn-Rings dazu, vielleicht 1,3 Millionen Menschen. Aber rund 2,4 Millionen Berliner leben dort nicht. Und die interessieren sich in ihrer übergroßen Mehrheit weder für wöchentliche Ökomärkte, Pop-Up-Radwege an den Hauptstraßen, ein ausgebautes Netz an Bioläden, veganen Restaurants, Yoga-Studios und Privatschulen nebst gendergerechter Sprache in der Behördenkommunikation. Fern der Innenstadt gibt es keine Klub- und keine multikulturelle Kiezkultur, keine „alternativen Freiräume“, die es zu verteidigen und zu fördern gilt. In den Außenbezirken marodiert auch keine selbsternannte, eloquente „diverse Stadtgesellschaft“, die bei ihrem Bestreben, sich möglichst viele Pfründe zu sichern, gehätschelt und gepäppelt werden muss. Eine große Mehrheit der Nicht-Innenstadtbewohner hat sich daher nachvollziehbar gefragt: Was hat mir dieser rot-rot-grüne Senat eigentlich gebracht?

Giffey gewinnt mit konservativer Ausrichtung

In den meisten Außenbezirken ist die Antwort auf diese Frage negativ ausgefallen. Die AfD, ein zerstrittener Haufen, deren Premiumthema Flüchtlinge zudem an stadtpolitischer Brisanz verloren hat, konnte von dieser Stimmung nicht profitieren, im Gegenteil. Zulegen konnte aber nicht nur die oppositionelle CDU, deren erstmaliger Sieg im stark von alten DDR-Plattenbausiedlungen geprägten Bezirk Marzahn-Hellersdorf durchaus als Sensation gewertet werden kann. Doch wem der rot-rot-grüne Kurs nicht passt, der hatte diesmal auch eine weitere Möglichkeit, dem auf dem Stimmzettel Rechnung zu tragen. Er konnte die SPD wählen, da deren neue Landeschefin Giffey recht überzeugend versprochen hatte, als Regierende Bürgermeisterin zu den konservativen Wurzeln der schon immer recht speziellen Berliner Sozialdemokratie zurückzukehren.

Giffey stellte Werte wie Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit ins Zentrum ihrer Wahlaussagen. Sie kühlte auch die Wunden der aufgebrachten Autofahrer und sicherte ihnen gleichberechtigte Teilnahme am Stadtverkehr und auch den Weiterbau der innerstädtischen Autobahn A100 zu. Sie kultivierte ihr Image als gleichermaßen zupackende wie empathische „Kümmerin“, das sie bereits in ihrer früheren Zeit als Bezirksbürgermeisterin von Neukölln erfolgreich gepflegt hatte. Eine Aura, der ihre Kontrahenten – außer in den hippen Innenstadtbezirken – nichts entgegenzusetzen hatten. Ein urbaner Kultur-Citoyen wie der linke Spitzenkandidat Klaus Lederer passt genauso wenig in dieses Mehrheits-Berlin wie die grüne Lastenfahrrad-Prophetin Bettina Jarrasch. Auch die in fünf Jahren Opposition recht blasse CDU konnte Giffey nicht wirklich gefährlich werden, zumal deren Spitzenkandidat Kai Wegner den meisten Berlinern schlicht unbekannt war.

SPD setzt weiter auf Rot-Rot-Grün

Durch den Giffey-Move hatte das einige Jahre fast marginalisiert wirkende bürgerlich-konservative Mehrheits-Berlin wieder ein Gesicht und eine Stimme. Ihre Partei hat das stillschweigend mitgetragen, Kritik an dieser Neuausrichtung gab es kaum. Giffey war vor fünf Monaten mit dem Versprechen als Spitzenkandidatin angetreten, die seinerzeit in den Umfragen bei 15 Prozent dümpelnde SPD wieder an die Spitze zu bringen. Das ist ihr gelungen. Doch die Wahl ist Schnee von gestern, und die Parteimehrheit hat ihrer Spitzenfrau sehr schnell unmissverständlich klargemacht, dass sie keinesfalls bereit ist, eine neue Regierungskoalition mitzutragen. Und auch die bei den Wahlen deutlich gestärkten Grünen haben aus ihrer eindeutigen Präferenz für die Fortsetzung der rot-rot-grünen Landesregierung nie einen Hehl gemacht.

Keine Spur von Aufbruchstimmung

In den nun folgenden Koalitionsverhandlungen wird sich zeigen, was von Giffeys Ankündigungen noch übrig bleibt. Vor allem in der Wohnungs- und Verkehrspolitik werden Grüne und Linke deutliche Stoppschilder aufstellen. Die Linke wird allerdings die Beerdigung des von ihnen unterstützten, erfolgreichen Volksentscheids für die Enteignung großer Wohnungskonzerne schlucken müssen. Für alle Beteiligten wird es Schmerzgrenzen geben, nicht zuletzt für Giffey selbst. Wobei ihr klar sein wird, dass die Partei notfalls auch auf sie verzichten könnte. Noch kann sie alles weglächeln und wegmoderieren. Doch in verschwiegenen SPD-Kreisen wird längst über einen „Plan B“ geredet – eine Regierung ohne Giffey an der Spitze. Nach „Neustart“ und „Aufbruch“ hört sich das nicht an, eher nach „Weiter so“. Für die marode, in großen Teilen dysfunktionale Stadt verheißt das jedenfalls nichts Gutes.

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