Gerichte kippen Beherbergungsverbote - Vor Gericht und auf hoher See

In Baden-Württemberg und Niedersachsen haben Gerichte das Beherbergungsverbot gekippt, in Schleswig-Holstein hat die Maßnahme vorerst Bestand. Wie kann das sein? Misst die Justiz mit zweierlei Maß? Der Verfassungsrechtler Alexander Thiele erklärt die Gerichtsurteile.

Iwan Aiwasowski (1817-1900): Die neunte Woge, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg / cc / Hermitage Torrent
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Autoreninfo

Prof. Dr. Alexander Thiele hat  eine Lehrstuhlvertretung für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der LMU in München inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Staatsrecht und der Demokratietheorie.

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Die Corona-Maßnahmen bewegen weiterhin – oder besser erneut – die Gemüter. Die „zweite Welle“ scheint da, die medialen Sondersendungen nehmen zu. Dass damit gerichtliche Entscheidungen wieder in den Fokus geraten, kann insofern ebensowenig überraschend wie der Umstand, dass einzelne Maßnahmen tatsächlich aufgehoben werden. Dass es zu solchen Aufhebungen kommt, sollte dabei nicht als Zeichen versagender Politik, sondern als Beleg für die Funktionsfähigkeit des demokratischen Verfassungsstaates gewertet werden. Eine demokratische Ordnung ist nicht fehlerlos, im Unterschied zu autoritären Regimen werden solche Fehler aber entweder korrigiert oder gerichtlich sanktioniert. 

Überraschend wirkt in der Öffentlichkeit demgegenüber immer wieder der Umstand, dass scheinbar gleichlautende staatliche Maßnahmen gerichtlich gänzlich unterschiedlich bewertet werden. So wurde das umstrittene Beherbergungsverbot zuletzt sowohl vom OVG Lüneburg als auch vom VGH Mannheim aufgehoben, während es in Schleswig-Holstein die gerichtliche Prüfung (vorerst) überstehen konnte. Wie kann das sein? Ist das Recht tatsächlich so beliebig? Hängt es damit mehr oder weniger vom Zufall ab, wie ein Gericht entscheiden wird? 

Unterschiedlich ausgestaltete Maßnahmen

Diese scheinbar fehlende Determinationskraft des Rechts stößt in der Öffentlichkeit jedenfalls immer wieder auf Unverständnis. Wie ein Gericht einen Fall bewerten wird, ist denn auch (selbst für Experten) nicht immer leicht vorherzusagen. Dennoch: Aus rechtlicher Sicht lassen sich die gefundenen Ergebnisse durchaus rational erklären. Dass man sich vor Gericht allein in Gottes Hand befände, lässt sich rechtswissenschaftlich also nicht halten. Im Allgemeinen sind es drei Gründe, die zu solch abweichenden Entscheidungen führen können; sie vermögen das Rätsel der uneinheitlichen Entscheidungen auch im vorliegenden Fall zu lösen.

Der erste Grund ist allerdings ebenso banal, wie er schnell übersehen wird: Wenngleich stets und sehr allgemein von bestimmten Maßnahmen gesprochen wird, heißt das nicht, dass diese auch rechtlich im Detail identisch ausgestaltet sind. Für unseren Fall heißt das: Beherbergungsverbot ist nicht gleich Beherbergungsverbot. Die Berichterstattung nimmt eventuell bestehende Unterschiede in der Ausgestaltung insofern – nachvollziehbarerweise – nicht ausreichend zur Kenntnis. Für die normative Bewertung können diese allerdings entscheidend sein, was unterschiedliche gerichtliche Ausgänge zu erklären vermag. Zuzugeben ist allerdings, dass dieser Aspekt bei den Beherbergungsverboten eher eine kleinere Rolle gespielt haben dürfte. Das führt zum zweiten Grund.

Kein wertfreier Vorgang 

Normative Entscheidungen hängen häufig von Wertungen ab. Ob eine staatliche Maßnahme noch als zumutbar oder schon als unzumutbar angesehen wird, lässt sich abstrakt nicht bestimmen, muss dementsprechend im konkreten Einzelfall entschieden werden. Das Recht versucht zwar auch für diese Fälle methodische Vorgaben zu machen, um zu verhindern, dass gerichtliche Entscheidungen völlig unberechenbar werden. Gänzlich vermeiden lässt sich ein gewisser Entscheidungsspielraum im Hinblick auf diese Wertungen methodisch gleichwohl nicht – und das wäre auch nicht gewollt. Gesetzesanwendung ist kein rein technischer und wertfreier Vorgang; wenn das so wäre, könnte man Gerichte einfach durch Maschinen ersetzen. Für den in der Corona-Pandemie so bedeutsamen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat sich insofern zwar eine komplexe Dogmatik entwickelt.

Eine Frage epidemiologischer Bewertungen

Ob sich eine staatliche Maßnahme aber noch als geeignet ansehen lässt oder – wie es das OVG Lüneburg und der VGH Mannheim in unserem Fall entschieden haben – schon als ungeeignet (und damit rechtswidrig) anzusehen ist, ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. Gerade die Eignung einer Maßnahme zur Verhinderung der Ausbreitung des Corona-Virus hängt auch von epidemiologischen Bewertungen ab, die ihrerseits nicht völlig einheitlich sind. Auch damit lassen sich unterschiedliche gerichtliche Entscheidungen erklären. Erneut dürfte dieser Aspekt allerdings im konkreten Fall der Beherbergungsverbote nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die fehlende Eignung der Maßnahme war dann doch beim Großteil der Rechtswissenschaft unumstritten. Wie aber konnte das OVG Schleswig dann zu einer anderen Bewertung kommen?

Entscheidung im Eilverfahren 

Tatsächlich hängt dieser letzte Grund mit dem Verfahren zusammen, in dem das OVG Schleswig die Angelegenheit entscheiden musste. Es handelte sich um ein sogenanntes Eilverfahren, bei dem das Gericht die Möglichkeit hat, eine strittige Rechtsfrage schnell, dafür allerdings auch nur vorläufig zu entscheiden. Aufgrund der zeitlichen Begrenzungen und kurzen Fristen gelten dabei zwangsläufig Besonderheiten – eine umfassende Prüfung der Rechtslage ist nicht möglich. Die Gerichte haben dabei zwei Optionen, mit dieser Fristverkürzung umzugehen: Entweder bewerten sie vorläufig die Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Das Gericht entscheidet also so, wie es mit den vorhandenen Informationen voraussichtlich auch endgültig entscheiden würde. So sind sowohl das OVG Lüneburg als auch der VGH Mannheim vorgegangen und sie kamen dabei – aufgrund der fehlenden Eignung der Maßnahme – zum Ergebnis, dass das Beherbergungsverbot (vorläufig) aufzuheben ist. Auch hier steht aber eine endgültige Entscheidung noch aus. 

Eine Frage der Abwägung

Für den anderen Weg hat sich jedoch das OVG Schleswig entschieden. Es hat festgestellt, dass es gegenwärtig noch nicht sagen kann, ob sich das Beherbergungsverbot als (un)verhältnismäßig erweist. Es war sich, mit anderen Worten, bei der Frage der Eignung nicht ganz so sicher, hielt den endgültigen Ausgang des Verfahrens daher für offen. Um auch in einer solchen Situation kurzfristig entscheiden zu können, greifen Gerichte auf eine sogenannte „Doppelhypothese“ zurück, in der zwei denkbare Ausgänge und ihre möglichen Folgen miteinander verglichen werden: Erstens die Folgen, die einträten, wenn das Gericht die Maßnahme kurzfristig bestehen ließ, sie sich im Hauptverfahren aber als rechtswidrig darstellen sollte. Zweitens die Folgen die einträten, wenn das Gericht die Maßnahme kurzfristig aufheben, sie sich im Hauptverfahren aber als rechtmäßig darstellen würde. Im Rahmen dieser reinen Folgenabwägung spielt die tatsächliche Rechtslage damit überhaupt keine Rolle.

Deutscher Rechtstaat in guter Verfassung 

So verhält es sich mithin auch bei der Entscheidung des OVG Schleswig: Ob das Beherbergungsverbot langfristig bestehend bleibt und ob es rechtmäßig ist, lässt sich dieser also gerade nicht entnehmen. Das Gericht hielt die möglichen Folgen einer Aufhebung angesichts der steigenden Fallzahlen schlicht für gravierender als diejenigen der Aufrechterhaltung. Im Ergebnis hat das Gericht damit nicht anders, sondern schlicht etwas anderes als die beiden anderen Gerichte entschieden. 
Letztlich ist es vor diesem (komplexen) Hintergrund gut nachvollziehbar, dass die unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen in der Öffentlichkeit verwirren. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive sind sie hingegen keine Überraschung, lassen sich vielmehr gut erklären. Es steht insofern nicht trotz, sondern wegen solcher Entscheidungen außerordentlich gut um den deutschen Rechtsstaat.
 

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