Von guten und schlechten Bausünden - Warum ist das „Alexa“ eine gute Bausünde, Frau Fröbe?

Wenn sie Gebäude wie das Alexa sieht, bekommt Turit Fröbe Gänsehaut. Die Architektur-Historikerin hat sich auf Bausünden spezialisiert, und die Shopping Mall in Berlin zählt sie zu den „guten Bausünden“. Ihre Kritik ist aber kein Selbstzweck. Sie will Euphorie für eine schönere Stadt erzeugen.

Ist das Kunst oder kann das weg? Das Einkaufszentrum „Alexa“ am Alexanderplatz in Berlin. / dpa
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Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe hat gelernt, Bausünden zu schätzen. Sie arbeitet als Baukulturvermittlerin mit Ihrer Stadtdenkerei und zeigt Bürgern, was sie im Alltag in ihrer Stadt übersehen, was sie für nicht betrachtenswert halten. Sie hat zwei Bildbände zu Bausünden veröffentlicht: „Die Kunst der Bausünde“, 2020 wieder aufgelegt, und gerade erscheint „Eigenwillige Eigenheime. Die Bausünden der anderen“. Und es gibt ihre „Abrisskalender“ mit den „Bausünden zum Abreißen“.

Frau Fröbe, was ist eine Bausünde?

Eine Bausünde tanzt aus der Reihe, was allerdings auch auf gute Architektur, insbesondere die sogenannte Spektakelarchitektur der Stararchitekten, zutrifft. Die tanzt auch aus der Reihe. Eine Bausünde hebt sich in Farbe, Form, Kubatur, Material von ihrem Kontext ab. Und sie macht wütend.

Ach, doch?

Nein, nicht mich! Ich unterscheide ganz sorgfältig zwischen guten und schlechten Bausünden. Die guten Bausünden, das sind die, die wütend machen, die auf den allerersten Blick die Frage aufwerfen: Wie konnte das passieren? Wer hat das genehmigt? In welchem Gefängnis sitzt der Architekt? Gute Bausünden sind eindeutig, auf sie können sich die meisten einigen.

Einigen in der Erregung über sie?

Im Innenstadtbereich ja, da funktioniert das so ziemlich überall gleich. Alle denken von gutgemachten Bausünden, dass sie austauschbar seien, dass sich nicht dahin gehören. Aber das stimmt nicht. Die haben vielmehr alle eine Originalität und sind untrennbar mit ihrer Stadt verbunden. Und deshalb können sie auch schon wieder einen Wert für die Stadt haben, weil sie etwas über die Stadt erzählen. Auch da sieht man wieder: Gut gemachte Bausünden ähneln guter Architektur. Genauso wie für die gute Architektur braucht es für die guten Bausünden Ambition, Phantasie und Mut! Das sind fließende Grenzen. Sehr viele heute als gute Bausünden wahrgenommene Architekturen haben ihre Karriere als gute Architektur gestartet, wurden gefeiert und sind dann im Laufe der Zeit aus der Mode gekommen.

Können Sie Beispiele nennen?

Das ist ein ganz häufiger Prozess. Ein Beispiel in Berlin ist der futuristische „Bierpinsel“ in Steglitz. Eigentlich ist es die ganze autogerechte Stadt der Nachkriegszeit, alles, was damit zusammenhängt. Unser Architekturgeschmack ist launisch. Nach 15 bis 25 Jahren kann man meist nicht mehr sehen, dass etwas einmal modern und beliebt war. Das betrifft ganz besonders die Architekturen, die etwas wagen, die etwas riskieren, die sich aus dem Einheitsbrei herausheben und eine eigene Message in den Raum tragen. Eben gut gemachte Bausünden. Die entstehen nur mit einer gewissen Ambition, zeugen von Phantasie und haben eine Bild-Qualität, eine Wiedererkennbarkeit.

Haben Sie noch ein Beispiel?

Ich nehme immer gern das „Alexa“ am Alexanderplatz, diese rosarote Shoppingmall. Wer das einmal gesehen hat, wird nie vergessen, dass das Ding am Alexanderplatz steht. Man kann nicht darüber hinwegsehen, das ist so extrem.

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Ich muss immer wegschauen, wenn ich vorbeifahre.

Ja, das hätte ich früher auch gemacht. Ich habe ja meine Karriere als Bausünden-Expertin auch als Bausünden-Hasserin gestartet, vor 20 Jahren. Ich war eine bornierte Architekturhistorikerin. Ich habe dann diese Abriss-Kalender gemacht. Als Rache an den Architekten. Aber dadurch, dass ich hingesehen habe, hat sich meine Wahrnehmung auf den Kopf gestellt. Ich sah auf einmal eine interessante Architekturgattung. Und Chancen für die Städte, weil sie sich mit solchen Bauten aus dem Einheitsbrei abheben. Denn das eigentliche Problem sind ja die schlechten Bausünden.

Was ist eine schlechte Bausünde?

Das sind diese lieblosen Investoren-Architekturen, die wir überall in allen Städten finden. Die sehen überall gleich aus und machen unsere Städte ununterscheidbar. Und sind so banal und langweilig, dass man sich noch nicht einmal darüber aufregen kann. Weil diese schlechten Bausünden so allgegenwärtig sind, braucht es die guten Bausünden. Noch besser wäre es natürlich, wenn wir gute Architektur hätten.

Also die Investoren mit ihren Maximierungsvorgaben bei Flächenausnutzung und Rentabilität sind hier tatsächlich das Hauptproblem?

Ja. Und natürlich wird so schlecht gebaut, weil die Investoren selber selten unter dem leiden, was sie irgendwo hingebaut haben, dorthin, wo sie ja nicht leben. Ich rufe dazu auf, die guten Bausünden zu schützen, weil sie wenigstens für Unterscheidbarkeit sorgen. Und meist, ich kenne wirklich nur eine Ausnahme, wenn eine gute Bausünde dann leider doch abgerissen wird, entsteht an der Stelle eine schlechte Bausünde.

Haben Sie schon mal Bauten weltberühmter Architekten als Bausünden eingeordnet?

Mein absoluter Lieblingsarchitekt in der Hinsicht ist Gottfried Böhm. Ich finde ihn grandios. Der hat immer dem Einheitsbrei den Kampf angesagt und ist immer Risiken eingegangen. Auch das Risiko, dass die Sachen aus der Mode kommen. Ich habe Ärger bekommen, dass ich seine Bauten in meine Bausünden-Bücher und- Kalender aufgenommen habe. Aber ich mache das auch, um zu zeigen, dass die Grenze zur guten Architektur fließend ist.

Sehen Sie Anzeichen dafür, dass die guten Bausünden aus den 60er und 70er Jahren nach und nach wieder mehr Gnade finden?

Ja. Da hat es zuletzt spektakulär gute Projekte gegeben, wie das „SOS Brutalismus“, das Ausstellungsprojekt von Deutschem Architekturmuseum und Wüstenrot-Stiftung, und in Nordrhein-Westfalen das Projekt „Big Beautiful Buildings“. Das hat wirklich dazu geführt, dass der Brutalismus rehabilitiert und schon wieder als cool empfunden wird. Und die ersten Architekten entwerfen ja schon wieder brutalistisch. Wenn Bausünden zu solchen deshalb geworden sind, weil sie aus der Mode gekommen sind, lohnt es sich einfach, diesen Gebäuden Zeit zu geben, damit sie wieder in Mode kommen können. Den Brutalismus werden wir bald alle wieder lieben. Im Moment haben alle Schwierigkeiten mit der Postmoderne der 80er Jahre, aber auch das wird wieder kommen. Da muss man die Ruhe bewahren. Der Eiffel-Turm ist als Bausünde auf die Welt gekommen. Die Gründerzeit-Architektur, in der wir heute alle wohnen wollen, auch.

Turit Fröbe / Philip Birau

Welche Art Bausünde ist das Berliner Stadtschloss?

Eine schlechte! Gebaut an der Stelle einer guten Bausünde! Der Palast der Republik war eine extrem gute Bausünde, markant, hatte Bild-Qualität, erfüllte alle Kriterien. So viele Menschen hatten eine Beziehung zu dem Bau. Er hatte Erinnerungswert. Und jetzt haben wir da eine Hülle ohne Denkmalwert, und diese eine moderne Seite verschlimmert das Ganze nur noch. Ich finde diesen Rekonstruktionswahn furchtbar. Es ist ein Armutszeugnis. Baukultur ist ja immer ein Spiegel der Gesellschaft. Wir sind noch so traumatisiert von der Nachkriegsmoderne, der autogerechten Stadt, den Kaufhausklötzen in den Innenstädten – dass wir nichts mehr wagen. Es gibt in Deutschland leider kein Bekenntnis zur modernen Architektur. Wir machen am liebsten Rekonstruktion, und wenn das nicht geht, Pseudohistorismus.

Ist das ein deutsches Phänomen heute?

Ich habe gerade ein Forschungsprojekt in Finnland gemacht, da wäre so etwas undenkbar. Da gibt es ein ganz klares Bekenntnis zur Moderne. Da würde niemand etwas Pseudohistoristisches bauen.

Wer wären die Akteure, die die Lage bessern könnten aus Ihrer Sicht?

Die Bundesregierung arbeitet gerade an baukulturellen Leitlinien, was ich sehr begrüße. Aber meine Forderung ist vor allem, dass endlich eine baukulturelle Bildung an den Start gebracht wird. Die gibt es nur in Ausnahmefällen an den Schulen. Dort muss sie hin. Ich arbeite gerade an einer Studie zu dieser Frage. Aber schon die Städte selbst müssten an diesem neuen Bewusstsein arbeiten. Es gibt nur zwei Städte in Deutschland, die sich eine Vermittlungsabteilung für ihre eigene Architektur, für die Baukultur in ihrer Stadt leisten. Es gibt kein baukulturelles Bewusstsein in Deutschland. Und selbst Architekten halten Investoren-Architektur, Alltagsarchitektur, oft nicht für Architektur. Da müssen wir hinkommen – dass diese Alltagsarchitektur besser wird. Und solange gute Architektur so massenhaft fehlt, können die guten Bausünden wertvolle Dienste leisten!

In Ihrem neuen Buch haben Sie jetzt Ihren Ansatz auf die Eigenheim-Architektur ausgeweitet: „Eigenwillige Eigenheime“.

Meine wirklich erschütternde Bilanz nach 20 Jahren Bausünden-Sammelei bei Eigenheimen: Ich würde kein Buch zusammen bekommen über positive Fundstücke. Auf meinen Streifzügen mit dem Fahrrad durch diese Eigenheimsiedlungen und Einfamilienhaus-Gebiete finde ich keine gute Architektur. Vielleicht 10 bis 15 gute Häuser habe ich gefunden in der ganzen Zeit, meistens aus den 50er Jahren, manche aus den 60ern. Und solange auch hier die gute Architektur fehlt, leisten die gutgemachten Bausünden wertvolle Dienste. Wieder: Es gibt eben keine baukulturelle Bildung. Die Bürger verlassen sich auf die Bauindustrie, die Bausünden von der Stange anbietet und dabei Individualität vorgaukelt. Es sind eben auch keine Architekten mehr involviert.

Wie bekommt man die wieder mehr hinein?

Das müsste man wirklich wollen. Das müsste auch die Politik wollen. Etwa in Dänemark: Da gibt es eine Baukulturpolitik, die ganz gezielt junge Architekten fördert. Oder Holland: Ich habe vor einigen Jahren eine Zeitlang in Amsterdam gearbeitet. Wenn man in Holland eine Ausstellung sieht über junge Architektur, dann sind die Architekten maximal 26 Jahre alt. Wenn man in Deutschland eine Ausstellung macht mit jungen Architekten, sind die im Schnitt 49. Die dürfen erst bauen, wenn sie im Prinzip schon gebrochen sind, wenn sie durch jahrzehntelange Arbeit in den Büros alle Kreativität verloren haben.

Das Interview führte Jens Nordalm

Noch eine Frage an unsere Leser: Gibt es in der Nähe Ihres Wohnorts ein Gebäude, über das Sie sich schon immer geärgert haben, weil es einfach Ihren Sinn für Ästhetik beleidigt? Dann machen Sie doch mit Ihrem Handy ein Foto davon und schicken Sie es an redaktion@cicero.de, versehen mit ein paar kurzen Erklärungen, was Ihnen an dem Bauwerk missfällt (bitte nur selbstgemachte Fotos ohne Copyright) und wo es sich befindet. Wir sammeln Ihre Beiträge und werden sie demnächst auf www.cicero.de veröffentlichen. Echte oder vermeintliche Bausünden gibt es ja zur Genüge.

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