Asylpolitik - Der Elefant im Raum

Europa war auch immer das Projekt zur Einhegung Deutschlands, zu seiner Einbindung in den Westen. Gegen die deutschen Anmaßungen. Nun muss Brüssel erneut Berlin in die Schranken weisen.

In Deutschland ist eine ehrliche Debatte über Migration und Asylpolitik kaum möglich / dpa
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Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Europa will nicht, wie Deutschland möchte. Annalena Baerbock, Tag und Nacht in deutschem Auftrag durch die Welt unterwegs, bleibt nur ein müder Seufzer: „Könnten wir am Reißbrett ein ideales Asylsystem für Europa konzipieren, es sähe für mich, für uns, anders aus als das Ergebnis, das wir heute erzielt haben.“ Für mich, für uns – für Europa? Baerbocks Reißbrett steht in Berlin, nicht in Brüssel. 

Nach dem Willen der Europäischen Union soll die drohende afrikanisch-asiatische Völkerwanderung gestoppt werden. Deshalb möchte man Schutz suchende Flüchtlinge schon an den EU-Außengrenzen identifizieren – und Sozialmigranten in die Länder zurückschicken, deren Armutsökonomie sie zu entkommen suchen. 

Der „Elefant im Raum“

Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung (SZ), urteilt über die ablehnende Haltung gegenüber den Einwanderern aus wirtschaftlichen Gründen: „Sie werden betrachtet wie Einbrecher, weil sie einbrechen wollen in das Paradies Europa.“ 
Ganz im Sinne ihres moralischen Mentors plädiert die SZ: „Lasst die Flüchtlinge rein!“ und lobt den „Widerstand“ dagegen, „dass sich Europa noch stärker abschottet“.

Die Guten in Berlin, die Bösen in Brüssel. Deutschland wieder einmal selbstgewiss. Allzu selbstgewiss?

Überall in Europa marschieren Rechte und Extremrechte von Wahlerfolg zu Wahlsieg zu Wahltriumph: in Athen, in Madrid, in Rom – demnächst in Paris? Der Teppich, der ihren Tritt dämpft, als gingen sie auf Samtpfoten, ist das Thema Migration: fremde Menschen, fremde Kulturen, fremde Religionen, fremde Sprachen – Zuwanderung und Einwanderung, wie sie seit Jahrtausenden immer wieder zu Abwehrreaktionen geführt haben, zum Zusammenprall mit denen, „die schon da sind“, mit Ansässigen, mit Indigenen. Das gemeine Volk, von bürgerlich-gemäßigt bis sozialdemokratisch-links, wehrt sich durch Wählerstimmen für die äußere Rechte.

 

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Das menschliche Urkonfliktthema erschüttert die moderne demokratische Gesellschaft. In Deutschland möchte man darüber nicht reden. Wer es trotzdem wagt, raunt vorsichtig vom „Elefanten im Raum“. 

Der Sinn der EU ist, Deutschland einzugliedern

Ganz Europa weiß, weshalb sich Deutschland vor diesem Thema fürchtet. Der geschichtliche Hintergrund muss nicht einmal ausgesprochen werden. Und Verständnis dafür gibt’s zuhauf: Die Nation des Bösen ist zum Reich des Guten geworden, ja, es ist gerade dabei, sich als Reich des Allerbesten zu zeigen – um dem Kontinent die deutsche Willkommenskultur beizubringen. Führung durch Deutschland.

Das neue Asylgesetz ist die europäische Antwort. Sie lautet: Nein. Das aktuelle Nein entspricht dem europäischen Gründungs-Nein: dem Nein zum deutschen Sonderweg. Diese Leitidee begleitete die Entstehung der europäischen Gemeinschaft, von der Montanunion über EWG und EG bis zur heutigen EU – Deutschland für alle Zeit einzubinden in europäische, in westliche Maßstäbe, politisch aufgeklärt und der pragmatischen Vernunft verpflichtet, also nie mehr anmaßend, nie mehr seiner selbst übergewiss. 

Es war eine Revolution von oben, angeführt von Köpfen katholischer Prägung wie Schuman, de Gasperi und Adenauer, die Deutschland demokratische Bescheidenheit beibrachte. „Einhegung Deutschlands“ nannte man dieses Unterfangen. Es fand das Wohlgefallen der Nachbarvölker. Doch seit Mauerfall und Wiedervereinigung erwachen in der ersten funktionierenden deutschen Demokratie mit ihrem westlich inspirierten Grundgesetz plötzlich neue Kräfte des grandios Guten. Die Grünen. 

„Gute“ Verbote

Nicht mehr rot, nicht mehr kommunistisch, nicht mehr spartakistisch, weder mit Rosa Luxemburg im Blick zurück, noch mit Sahra Wagenknecht im Blick nach vorn – ohne altlinken Ballast schlagen die neuen tonangebenden Kreise die so lange brave Bundesrepublik in Bann.

Ein grünschwärmerisches Akademikermilieu samt aktivistischen Organisationen, mächtig im Funktionärsapparat und in den Medienhäusern, bestimmt die Tagesthemen der bundesdeutschen Gesellschaft, und zwar weit über die praktische Politik hinaus und tief hinein ins Alltagsgebaren der Bürgerinnen und Bürger – vom klimabekömmlichen Wärmehaushalt bis zum umweltgerechten Fleischverzicht. Vom Heizungskeller bis zum Mittagsteller.

Die moralischen Vorgaben für das gemeine Volk reimen sich auf das Verb „verbieten“: Flugverbot, Fahrverbot, Vokabelverbot. Aus den ungelenken Gebotstafeln der Grünen ist eine digitale Gebotsflut geworden, genährt durch eine luxuriös versorgte akademische Klasse mit zahllosen zugewandten NGOs. 

Die erschreckendste Erweckungsbewegung seit Marxens säkularer Glaubenslehre.

Wie einst die gläubigen Genossen mit ihrem Gefallen an allem Autoritären hegen die neuen Weltenretter Verständnis für voraufklärerische Romantik, darunter ganz besonders für die muslimische Migration: Kopftuch, Burka, Dominanz der Männer, Diskriminierung des Diversen – alles nicht gar so schlimm, weil als Multikulturgut religiös tabuisiert. 

Wenn in den Wahlen zum Thüringer Landtag die faschistoid durchtränkte AfD eklatant siegen sollte, ist das, wie der Staatsrechtler Christoph Möllers bereits verbindlich prophezeit, „eine wirkliche Verfassungskrise“. Wenn hingegen die große Mehrheit der Deutschtürken den Islamfaschisten Erdogan wählt, ist das vernachlässigbar. 

Menschen mit Migrationshintergrund rascher einbürgern, ungeachtet ihrer Einstellung zur Demokratie: auch dies ein moralgetränktes Projekt. Wer sich dagegen verwahrt, weil er das Eigene – darf man noch Heimat sagen? – als persönlichen Wert betrachtet und deshalb nicht zur bloßen Passnummer verkommen lassen will, der steht in der rechten Ecke und trägt die Narrenkappe der politischen Schande. 

Jetzt erst recht!

Die Träger der wuchernden Unkultur von Verdächtigung und Verurteilung und Denunziation: junge Menschen, Kinder gar, von Fridays for Future über LGBTQ bis zu den Klimaklebern. Über den frisch ausgebrochenen Jugendwahn spottet der Bürger-­Philosoph Odo Marquard: „Das Kind ist der eigentliche Mensch, und Erwachsenwerden – als Verlust der Kindlichkeit – ist Abfall vom Menschen: die Zerstörungsgeschichte des eigentlichen, ‚authentischen‘, natürlichen Menschen, jenes guten Wilden, der in unserer entfremdeten Welt allein noch das Kind ist. Seither gelten die Kinder, die Jugendlichen, als die maßgeblichen Menschen.“ 

Zu diesem Befund steht als Gegenbild der „alte weiße Mann“ – die personalisierte Verkommenheit der kapitalistisch-kolonialistisch-patriarchalen Welt. 

Ja, so geht gerade die Erzählung – das „Narrativ“ – der deutschen Gegenwartsgeschichte. Sie kulminiert im antiwestlichen Ressentiment, dem Thomas Mann bereits vor mehr als hundert Jahren in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ huldigte.

Die Zeit, seit ihren antiamerikanischen Ursprüngen geübt im Zurechtschwatzen des Zeitgeists, stellt die Frage dieser Tage: „Ist der Westen noch zu retten?“ Das Hamburger Blatt zieht auch gleich das fatale Fazit: „Freiheit, Fortschritt und Demokratie – das war mal die Idee. Und jetzt?“

Und jetzt erst recht! 

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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