Berichterstattung über Armut - Die „traumhafte Anja Kohl“ und die nicht so traumhaften Fakten

Der Paritätische Gesamtverband, dessen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider bei der Partei Die Linke engagiert ist, behauptet in seinem jüngst veröffentlichten „Armutsbericht“, dass 13,8 Millionen Menschen in Deutschland arm seien. Die Medien, insbesondere die öffentlich-rechtlichen, übernahmen diese Zahl – trotz fragwürdiger Berechnung.

„Armut lässt sich leider nicht wegschreiben“, aber herbeischreiben vielleicht? Ulrich Schneider bei der Vorstellung des „Armutsberichts“ / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Vor gut zwei Wochen veröffentlichte „Der Paritätische“ seinen jährlichen „Armutsbericht“. Wie immer fand Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer dieses Wohlfahrtsverbandes und in der Partei Die Linke engagiert, starke Worte. Die Armut sei in Deutschland so hoch wie nie, behauptete er und rief einen „Armutsrekord“ aus. Schneider weiß, was in den Medien – nicht zuletzt in den öffentlich-rechtlichen – gut ankommt. Die übernahmen gerne seine starken Worte und fragwürdigen Zahlen, wonach 13,8 Millionen Menschen in Deutschland arm seien.

Ein besonderes Erfolgserlebnis hatte der Sozialfunktionär, dass die ARD am selben Tag die Sendung „Wirtschaft vor acht“ monothematisch der Armut widmete beziehungsweise dem, was Schneider und andere Linke unter Armut verstehen. „Anja Kohl ist traumhaft“, schwärmte Schneider wie ein verliebter Teenager über die ARD-Moderatorin auf Twitter. Und weiter: „Statt nur über Börsenkurse zu reden, konfrontiert sie ihr Publikum mit Armut in Deutschland. Hätte niemals zu hoffen gewagt, dass wir es mit unserem Armutsbericht mal in die Börsennachrichten schaffen. Aber diese Frau macht’s möglich. Chapeau!“

 

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Ob Schneider kurz darauf das Interview gesehen hat, das Tina Hassel im „Bericht aus Berlin“ mit dem Bundeskanzler führte, ist nicht bekannt. Auch diese ARD-Dame übernahm gerne Schneiders Thesen und konfrontierte Olaf Scholz mit der Behauptung, die Armut in Deutschland sei derzeit „so hoch wie nie.“ Das muss man Schneider lassen: Er weiß, wie er mit seinen Schreckensnachrichten über Deutschland als großes Elendsquartier bei vielen Journalisten punkten kann.

Angeblich höchste Armutsquote seit Wiedervereinigung

Pech nur, dass die neoliberaler Neigungen unverdächtige Süddeutsche Zeitung Schneiders Thesen etwas genauer unter die Lupe genommen hat (wie zuvor auch Cicero-online). Schneider stützt seine These vor der Rekordverarmung auf die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes, die jährlich die „Armutsgefährdungsquote“ errechnet. Die ist 2021, so die Statistiker in Wiesbaden, auf 16,3 Prozent gestiegen, woraus Schneider 13,8 Millionen Menschen macht.

Nun macht es schon einen Unterschied, ob jemand tatsächlich arm oder „nur“ von Armut bedroht ist. Zudem schränkt das Amt die Aussagekraft seiner Werte noch aus einem anderen Grund ein. Da die Erhebungsmethode 2020 komplett umgestellt worden sei, sollten diese Daten „nicht für Zeitvergleiche mit nachfolgenden Jahren herangezogen werden“, zitiert die SZ das Amt. Schneider aber tut genau das: Er bezeichnet die Quote von 16,6 Prozent als die höchste seit der Wiedervereinigung.

 

 

Armutsgefährdet waren 2021 demnach ein Alleinstehender mit einem Nettoeinkommen von weniger als 1148 Euro und eine Familie mit zwei Kindern mit weniger als 2869 Euro im Monat, jeweils einschließlich staatlicher Zuwendungen. Der frühere Caritas-Geschäftsführer Georg Cremer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Studenten und Auszubildende mitgezählt würden, aber da nicht hineingehörten. „Wir werden das Bafög nicht auf 1150 oder 1250 Euro anheben können.“

Kritik soll haltlos sein 

Ebenso interessant ist der in der SZ erwähnte Einwand des Ökonomen Markus Grabka vom SPD-nahen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Der bemängelt an solchen „Armutsberichten“ die Nichtberücksichtigung von Vermögen. Drei Millionen Ruheständler hätten Einkünfte von weniger als 1300 Euro im Monat, lebten aber in den eigenen vier Wänden. Für Schneider sind diese trotzdem arm, der DIW-Forscher bezweifelt das. 

Grabka bemisst Armut – anders als Schneider und seine Mitstreiter aus der Armutsindustrie – nicht so sehr nach Zahlen (weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens), sondern anhand anderer Kriterien. Er bezeichnet als arm, wer vier von neun Grundbedürfnissen – können Miete und Rechnungen rechtzeitig bezahlt werden? Reicht das Geld für die Heizung oder wenigstens jeden zweiten Tag für Fleisch oder Fisch? usw. – nicht befriedigen kann. Nach dieser Methode waren zum Beispiel im Jahr 2019 nur 2,7 Prozent der Deutschen arm. Grabka: „Der Paritätische malt ein Szenario an die Wand, das es nicht gibt.“

Der Paritätische nennt jede Kritik am eigenen Armutsbericht jedoch haltlos. „Armut lässt sich leider nicht wegschreiben“, twittert der Verband zum SZ-Bericht. Und Schneider persönlich nennt es einen „billigen Versuch, unseren Armutsbericht mit Methodenrabulistik zu diskreditieren“. Da fällt einem der Satz des früheren Deutsche Bank-Vorstands Hermann-Josef Abs über den Betrunkenen und die Straßenlaterne ein: Der brauche diese nicht zur Erleuchtung, sondern zum Festhalten. Für Ulrich Schneider ist die „Armutsquote“ ein fester Halt. Nur den tatsächlich Armen hilft das nicht.

 

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