Antisemitismus und Anti-Corona-Demos - „Sind alle Corona-Demonstranten Judenhasser, Herr Klein?“

Ist Judenhass das zentrale Bindeglied aller Corona-Demonstranten? Mit dieser Äußerung hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, eine Kontroverse entfacht. Erreicht er damit nicht das Gegenteil von dem, was seine Aufgabe sein sollte?

Berechtigte Warnung oder Alarmismus? Felix Klein bei der Pressekonferenz mit Anetta Kahane und Kevin Kühnert / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

So erreichen Sie Rainer Balcerowiak:

Anzeige

Felix Klein ist als Jurist auf Völkerrecht spezialisiert und seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. 

Herr Klein, als Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung warnen Sie davor, dass die Proteste gegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie zunehmend antisemitisch konnotiert sind. Wird damit nicht jeglicher Protest gegen die aktuelle Politik grundlegend delegitimiert?
Selbstverständlich muss man die Bürger mit ihren Sorgen ernst nehmen. Aber es ist nun mal meine Aufgabe, auf wachsenden Judenhass aufmerksam zu machen. Und wer entsprechende Äußerungen in der Öffentlichkeit macht, und das im Schulterschluss mit Rechtsextremisten, muss mit Widerspruch rechnen.

Natürlich sind Vergleiche mit NS-Opfern wie Sophie Scholl und Anne Frank oder mit Hitlers Ermächtigungsgesetz in keiner Weise akzeptabel. Aber gibt es belastbare Indizien oder gar Beweise, dass ein großer Teil der Protestteilnehmer derartige Aussagen unterstützt?
Wir sehen schon, dass viele Teilnehmer dieser Veranstaltungen Verschwörungstheorien anhängen. Und die sind nun mal per se antisemitisch aufladbar, das ist das „Betriebssystem“ dieser Theorien. Das gilt auch für die Selbststilisierung als Opfer, etwa bei der Gleichsetzung mit NS-Opfern wie Anne Frank und Sophie Scholl oder wenn Menschen den Judenstern aus dem Dritten Reich tragen mit der Aufschrift „ungeimpft“.

Dennoch fehlt es da meines Erachtens an Trennschärfe zwischen antisemitischer Ideologie und legitimen Protesten. Darf man das Wirken mächtiger privater Institutionen wie der Soros-Foundation kritisieren, ohne in den Verdacht des Antisemitismus zu geraten, weil der Protagonist ein Mensch jüdischen Glaubens ist?
Man kann alles und jeden kritisieren, das gehört zur Meinungsfreiheit. Doch wenn damit die Zuschreibung einer besonderen Macht an bestimmte Gruppen einhergeht, die angeblich von der Krise profitieren, dann wird es problematisch. Dies ist eindeutig antisemitisch konnotiert.

%paywall%

Sie fassen Ihre Vorwürfe ja wesentlich weiter und sprechen auch von „antisemitisch aufladbaren“ Positionen jenseits rechtsradikaler Propaganda. Und die sehen Sie auch zunehmend stärker verankert in bürgerlich-gemäßigten, progressiven und linken Milieus, sozusagen als Bindeglied der Corona-Proteste. Wird der Vorwurf des Antisemitismus da nicht beliebig?
Das Muster ist doch, dass einer gewissen Gruppe ein besonderer Einfluss attestiert wird, die angeblich im Hintergrund die Fäden zieht und von der aktuellen Corona-Krise profitiert. Oft wird auch mit bestimmten Chiffren gearbeitet, „die Ostküste“ oder „die Israel-Lobby“.

Und das ist per se antisemitisch? Es ist ja nun nicht verboten und sollte auch nicht verboten sein, wirres Zeug zu verbreiten. Aber mir geht es um die Trennschärfe. Es gibt ja wirklich ein Antisemitismusproblem bis hin zu Übergriffen und schweren Gewaltdelikten. Aber ist es denn wirklich zielführend bei der Bekämpfung dieser Strömungen auf alles, was dem auch nur entfernt zuzuordnen sein könnte, mit der Antisemitismuskeule einschlägt und überall Judenhass wittert?
Antisemitismus als solcher ist zunächst nicht strafbar. Die Grenze verläuft da, wo Strafbarkeit vorliegt, etwa Volksverhetzung, Holocaust-Leugnung oder Beleidigung. Wir müssen den Antisemitismus in all seinen Facetten sichtbar machen, damit wir ihn besser bekämpfen können. Wir haben ja auch Menschen in der Mitte der Gesellschaft, die Antisemitismus verbreiten, ohne das zu wollen. Die müssen wir sensibilisieren

Können Sie Beispiele nennen, wie Antisemitismus verbreitet wird, ohne das zu wollen?
Zum Beispiel durch positive Überhöhungen: Die Juden sind alle so schlau und sind alle so gut ausgebildet...

Und das ist antisemitisch?
Ja, das bezeichnet man als Philosemitismus, und das ist eine Form des Antisemitismus, wenn man einer bestimmten Gruppe, also den Juden, nur auf Grund ihrer Gruppenzugehörigkeit besondere Eigenschaften zuspricht.

Ist es auch „antisemitisch aufladbar“, wenn beispielsweise auf ganz eigene Interessen der Pharmaindustrie und ein Ungleichgewicht der Corona-Restriktionen und auch die staatlichen Hilfen zugunsten von mächtigen Wirtschaftslobbyisten verwiesen wird?
Nein. Kritik ist notwendiger Bestandteil demokratischer Meinungsbildung. Natürlich kann man kritisieren, dass beispielsweise die Lufthansa besonders viel Hilfen erhalten hat und andere Firmen und ganze Branchen leer ausgehen. Kritisch wird es, wenn man solche Entscheidungen dem besonderen Einfluss bestimmter Gruppen zuschreibt…

...aber es hat  nun wirklich niemand behauptet, dass jüdische Kreise hinter der Entscheidung für die Lufthansa-Hilfen stehen….
...deswegen ist ja auch vollkommen legitim, derartige Entscheidungen zu kritisieren.

Sie beklagen die Opfer-Mentalität vieler Protestierender. Es gibt aber zweifellos viele Menschen, die durch die Krise tatsächlich existentiell betroffen sind, begründete Zweifel an der Corona-Politik äußern und ausgesprochen wütend sind und auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Ist das bereits ein antisemitisches Vorfeld?
Mir sind die Ängste und Sorgen vieler Menschen, die von den Folgen der Pandemie unmittelbar betroffen sind, durchaus bewusst. Sie sind in Krisenzeiten oft anfälliger als sonst für irrationale Erklärungsmuster. Und sehr einfach ist es, bei Anderen die Schuld zu suchen. Das ist ein gefährliches Einfallstor für antisemitische Verschwörungsfantasien. Wir müssen alles daran setzen, in dieser schwierigen Zeit die Gesellschaft zu einen statt zu spalten und müssen dagegen halten.

Sie kritisieren einen Mangel an Empathie bei den Protesten. Diesen Mangel empfinden aber auch Künstler, Gastronomen  und Tourismusanbieter, die derzeit nicht mehr arbeiten dürfen. Das empfinden Eltern, die nicht wissen, wie sie in Lockdown-Zeiten ihren Alltag organisieren sollen, und das empfinden nicht zuletzt viele Menschen in Pflegeberufen. Doch die werden kaum gehört und fühlen sich von der Politik weitgehend alleine gelassen. Wie können die sich denn vernehmlich artikulieren, ohne in den Verdacht offener Flanken gegenüber antisemitischer Ideologie zu geraten?
Das können sie jederzeit, sei es im Internet oder auch bei Demonstrationen. Problematisch wird es, wenn andere Gruppen, insbesondere Rechtsextreme, versuchen, die Proteste für sich zu kapern. Und da muss man sich als gutwilliger Teilnehmer an Demonstrationen eindeutig distanzieren oder solche Veranstaltungen im Zweifel verlassen, wenn keine Widerrede mehr möglich ist. Das passiert aber nicht immer, und das macht mir große Sorgen.

Sehen sie nicht die Gefahr, dass sich Menschen, die sich an Corona-Protesten beteiligen, erst recht  radikalisieren könnten, wenn sie zunehmend pauschal als Antisemiten abgestempelt werden?
Wie gesagt: Die Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft, die berechtigte Anliegen haben, sollen sich selbstverständlich äußern dürfen, selbst wenn ihre Ansichten wirr sind. Aber von Demokratinnen und Demokraten erwarte ich, dass sie sich von offen antisemitischen Akteuren eindeutig distanzieren.

Aber viele sehen sich doch vollkommen zu unrecht in eine rechte Ecke gedrängt…
Ich sehe in der Tat die Gefahr einer zu großen Pauschalisierung, und es wäre auch nicht sinnvoll, alle in eine bestimmte Ecke zu drängen. Aber jeder, der an solchen Versammlungen teilnimmt, muss auch sehen, mit wem er sich da möglicherweise gemein macht.

Welche Lehren ziehen Sie als Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung aus den aktuellen Auseinandersetzungen für ihre künftige Arbeit?
Wir müssen den Fokus viel stärker auf die sozialen Medien und das Internet lenken, denn dort radikalisieren sich sehr viele Menschen. Es ist sehr wichtig, dass das Gesetz gegen Hetze und Hass im Internet bald in Kraft tritt, denn dann können wir besser als jetzt mit einer guten Mischung aus Prävention, Repression und Gegenrede agieren. Und natürlich müssen wir noch stärker in Bildung und Aufklärung investieren. Wer über Anne Frank und Sophie Scholl und deren Schicksal wirklich Bescheid weiß, wird sich kaum so äußern, wie es unlängst auf Demonstrationen geschehen ist. Und er wird für derartige Hetze auch nicht empfänglich sein.

Die Fragen stellte Rainer Balcerowiak. 

Anzeige