Bundesministerin Anne Spiegel und die Flut im Ahrtal - Vom Ende jeder Verantwortung

Das Verhalten der heutigen Bundesfamilienministerin Anne Spiegel und der gesamten rheinland-pfälzischen Landesregierung im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe im Ahrtal wächst sich zu einem Skandal sondergleichen aus. Nicht nur wird jegliche Verantwortung konsequent abgestritten. Sondern Nichtwissen auch als Teil der Verteidigungsstrategie verwendet. Äußerst dubios ist dabei nicht zuletzt die Rolle der Koblenzer Staatsanwaltschaft.

Volles Vertrauen: Bundesfamilienministerin Spiegel und Bundeskanzler Scholz am 16. März / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (B90/Die Grünen) hat sich innerhalb von zehn Tagen in eine aussichtslose Lage manövriert und ihre Partei in Ratlosigkeit gestürzt. Entlastungsversuche der Grünen kommen nur noch verdruckst oder gar nicht mehr. Omid Nouripour und Ricarda Lang sind als Parteivorsitzende auf Tauchstation gegangen, nachdem ihre Behauptung, ihre Vorzeige-Linke habe „Verantwortungsbewusstsein und Empathie“ bewiesen, nicht einmal in den eigenen Reihen noch als mehrheitsfähig gelten kann. Sogar Die Zeit, das Leib- und Magenblatt der Grünen, hatte diese Woche alle Hoffnung fahren lassen angesichts eines „eigentümlichen Amtsverständnisses“, bestehend aus einer „Mischung aus Verantwortungsflucht und Trotzigkeit, sodass nun die sehr ernste Frage im Raum steht: Kann jemand, der in Mainz so seine Geschäfte führte, in Berlin Ministerin bleiben?“

Folgerichtig lieferte tags darauf auch die Aktuelle Stunde, die der Bundestag noch für den undankbaren Freitagnachmittag auf Antrag der AfD angesetzt hatte, ein trostloses Bild. Die Debatte bestand aus halbherzigen Versuchen von Abgeordneten der Ampelkoalition, die Bundesebene für unzuständig zu erklären, die Initiatoren der Debatte für unanständig und damit vorab diskreditiert und die Union für skrupellos, weil sie sich nicht scheue, mit Rechtsradikalen gemeinsame Sache zu machen, anstatt „konstruktiv“ zusammen mit der Regierung „nach vorne zu schauen“ und „gemeinsam zu überlegen, wie man den Katastrophenschutz verbessern könnte“. 

„Dass man mit dieser Linie nicht durchkommt“

Zur Person Spiegel fiel Grünen und Sozialdemokraten nämlich auch in Berlin kein Argument ein, wie man ihr Verhalten in einem milderen Licht erscheinen lassen könnte. Die letzte Gelegenheit, Fehler einzugestehen und Hinterbliebene, Betroffene und Öffentlichkeit um Entschuldigung zu bitten für miserables und eigensüchtiges Krisenmanagement, um die Wahrnehmung vielleicht noch zum Guten zu wenden, hat die 41-Jährige am 11. März mit ihrem gruseligen Auftritt in Mainz verpasst, warf dieser doch mehr neue Fragen auf, als er alte beantwortete. 

Leni Breymaier (SPD) lieferte nun ersatzweise mit schrillem Gekeife an die Adresse der Opposition den würdelosen Abschluss einer dank SPD und Grünen bereits würdelosen Sitzungswoche. Dass sich an dieser „Hetzjagd“ auch die sach- und ortskundige Julia Klöckner (CDU) beteilige, betrachtet Breymaier als Verrat an der Sache der Frauen insgesamt. Jedenfalls bestätigte sich mit diesem Sitzungsverlauf die Darstellung der Hamburger Wochenzeitung, nach der Anne Spiegel auch in der eigenen Fraktion einen „verheerenden Eindruck“ erzeugt habe und ihr eigentlich klar sein müsse, „dass man mit der Linie nicht durchkommt“. 

CDU-Fraktion will jetzt alles sehen

Unterdessen braut sich bereits das nächste Ungemach in Mainz zusammen, also dort, wo die „Aufklärung“ auch nach Meinung von Bundestags-Grünen und -SPD wirklich stattzufinden habe: im Untersuchungsausschuss. Die CDU-Fraktion im Landtag entwickelt neuerdings einen lange vermissten Kampfgeist und will es jetzt genau wissen. 

Am Freitag stellte sie den Beweisantrag, alle Verbindungsdaten der damaligen Umweltministerin Spiegel mit ihren Mitarbeitern während des Unglücks in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 zu veröffentlichen. Fraktionschef Christian Baldauf und Obmann Dirk Heber wollen beweisen, dass die Ministerin, anders als von ihr dargestellt, in der Nacht gar nicht mehr erreichbar gewesen sei, auch nicht für ihren Staatssekretär Erwin Manz, der vergebens versucht habe, sie über die eskalierende Lage ins Bild zu setzen. Von einer höchst selektiven Darstellung ihres Krisenmanagements, die in Wirklichkeit aus „tausenden“ von Nachrichten bestehe, kann deshalb nach Überzeugung der Opposition nicht die Rede sein. 

An diesem Montag um 10 Uhr wollen Baldauf und Herber in Mainz ein erstes Fazit der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses vorstellen und das Verhalten von Ministerin Spiegel und Staatssekretär Manz am Flutabend, in der -nacht und den darauffolgenden Tagen bewerten. Sie wollen ihren Vorwurf belegen, Frau Spiegel habe gegenüber den Abgeordneten „die Wahrheit gedehnt“, wenn nicht sogar glatt gelogen, weil ihre Aussagen der Sach- und Aktenlage klar widersprächen.

Wie Staatsanwälte auf Fragenkatalog reagieren

Gleichzeitig geschehen auch in Koblenz bemerkenswerte Dinge, am Sitz der zuständigen Staatsanwaltschaft. Am vergangenen Sonntag hatte Cicero den Ermittlern, zuständig für die juristische Aufarbeitung der Flutkatastrophe mit 135 Todesopfern, 800 Verletzten und unermesslichen Sachschäden, einen Katalog von Fragen geschickt. Ob sich den Ermittlern durch die Ereignisse der vergangenen Woche, speziell nach der Veröffentlichung von SMS-Protokollen und mehreren heiklen Zeugenauftritten vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages, neue Erkenntnisse und Ermittlungsansätze ergeben hätten? Eventuell? Gegebenenfalls? Also unter Umständen? Nur ganz vielleicht?

Zwei Tage lang dachten die beiden Behördenchefs Harald Kruse und Dr. Dietmar Moll über Antworten nach, holten Informationen von zuständigen Kolleginnen und Kollegen ein – um am Dienstag dann ein überraschendes Resultat zu präsentieren: einen erstklassigen Persilschein, ausgestellt für alle auch nur theoretisch denkbaren Verantwortlichen der Landesregierung bis hin zur Ministerpräsidentin. Ein Dokument, wie es sich Malu Dreyer, Anne Spiegel und besonders auch Innenminister Roger Lewentz schöner nicht hätten wünschen können. Download als pdf für jedermann seit Dienstag 13:39 Uhr hier abrufbar.

Tenor der ausführlichen Erklärung: Es gebe nach wie vor keinen Anlass, „den Kreis der Beschuldigten zu erweitern“. Wie stets, so Behördenchef Kruse, prüfe die Staatsanwaltschaft auch hier ständig, ob die Ermittlungen ab sofort auch gegen noch nicht beschuldigte Personen zu richten seien. Aber: „Im vorliegenden Fall hat sich bei dieser fortlaufend vorgenommenen Prüfung bisher kein Anfangsverdacht gegen andere als die bisherigen Beschuldigten ergeben.“

Die bisher beabsichtigten Zeugenvernehmungen habe seine Behörde mittlerweile weitestgehend abschließen können. Die Ermittler des Landeskriminalamts seien „mit Nachdruck“ dabei, die durch die Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse zu sichten und zu einem Bild der Ereignisse am 14. und 15. Juli 2021 zusammenzusetzen. Zudem solle ein hydrologisches Gutachten die „polizeilichen Erkenntnisse auch aus naturwissenschaftlicher Sicht ergänzen“. Ein Fokus der Ermittlungen liege weiterhin auf der Frage, welche Erkenntnisse zu den späteren Entwicklungen entlang der Ahr zu welchen Zeiten den mit dem Katastrophenschutz gesetzlich betrauten Personen vorgelegen haben. 

Oberstaatsanwalt Kruse: „Wesentlich für die strafrechtliche Beurteilung ist, welche Handlungspflichten zu welchen Zeitpunkten bestanden und welche konkreten Handlungsoptionen zu diesen Zeitpunkten zur Verfügung gestanden haben, deren Ergreifen zur Vermeidung des Verlustes von Menschenleben geführt hätte.“

Der Anfangsverdacht gegen die beiden Beschuldigten – den Landrat von Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), und ein Mitglied seiner früheren Einsatzleitung – sei im Wesentlichen aus den Zuständigkeitsnormen des Landesbrand- und Katastrophenschutzgesetzes abgeleitet worden, schreibt der Oberstaatsanwalt. Ob die beiden ihren Job in der Nacht zum 15. Juli 2021 hätten besser machen und damit Menschenleben retten können, sei aber nach wie vor nicht bewiesen, weshalb für beide Männer „unvermindert“ die Unschuldsvermutung gelte. 

Das wiederum heißt: Im Moment ist laut Staatsanwaltschaft Koblenz noch nicht einmal sicher, ob sich überhaupt jemals jemand vor Gericht wird verantworten müssen. Wie die Staatsanwälte im Fall des Falles, beim Auftauchen neuer Anhaltspunkte, jemals wieder von ihrer Festlegung, ihrer Eigenfesselung herunterkommen wollen, wird interessant sein zu erfahren.  

Unwissenheit schützt vor Strafe

Wörtlich heißt es in der Pressemitteilung: „Der Staatsanwaltschaft Koblenz liegen bisher keine Hinweise darauf vor, dass (frühere) Mitglieder der Landesregierung oder andere Personen im Landesdienst davon ausgegangen sind oder nach ihrem Erkenntnisstand davon hätten ausgehen müssen, dass die für den Katastrophenschutz zuständigen Stellen nicht in der gebotenen Weise tätig werden würden.“

Bisher, so Kruse, seien insgesamt etwa 75 Strafanzeigen eingegangen. Keine von diesen sei Anlass genug, etwa auch gegen Mitglieder der Landesregierung zu ermitteln, obwohl sie sich auch ausdrücklich richteten „gegen die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, den Staatsminister des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz, die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie weitere (frühere) politische Verantwortliche in anderen Bundesländern oder im Bund“. Denn, so der Behördenchef sinngemäss: Alles, was in diesen Anzeigen drinsteht, habe man vorher schon gewusst, auch aus der Presse und den Erkenntnissen des Ausschusses, und längst berücksichtigt.

Ermittler: Ohne Vorsatz keine Ermittlungen

Die Pressemitteilung der Koblenzer Behörde ist für Malu Dreyer, Roger Lewentz und Anne Spiegel vor allem deshalb im jetzigen Verfahrensstand Gold wert, als sie die Hürde für Strafbarkeit im Amt so hoch liegt, dass alle drei selbst auf Stelzen mühelos drunter durchlaufen könnten. Das Rechtsverständnis der Ermittler besagt im Kern: Solange die Regierungschefin und ihre Minister davon ausgehen konnten, dass andere Stellen schon alles Notwendige unternehmen und veranlassen, ist für sie auch bei strenger Prüfung alles in Butter. 

Der Leitende Oberstaatsanwalt formuliert das so: „Da das Gesetz fahrlässiges Handeln nicht ausdrücklich unter Strafe stellt, ist nach § 15 StGB Vorsatz erforderlich. Dabei gilt, dass die strafbewehrte Hilfs- bzw. Handlungspflicht entfällt, wenn gewährleistet ist, dass die erforderliche Hilfe von anderer Seite geleistet wird. Doch auch, wenn Letzteres im Ergebnis nicht der Fall ist, geht damit eine Strafbarkeit nicht ohne Weiteres einher. Denn wenn jemand – und sei es auch irrig – subjektiv davon ausgeht und darauf vertraut, dass die erforderlichen Maßnahmen von anderen Stellen oder Personen ergriffen werden, handelt er bzw. sie ohne den für eine Strafbarkeit nach § 323c StGB erforderlichen Vorsatz.“

Daraus folgt für den konkreten Fall: Erst die beweisbare Kenntnis von Informationen, nach denen es im Ahrtal drunter und drüber geht, könnte den Innenminister heute in Schwierigkeiten bringen. Erst die beweisbare Kenntnis von Informationen, nach denen die von ihrem Ministerium und den nachgeordneten Stellen gemeldeten Pegelstände und -voraussagen kompletter Datenmüll sind, könnte die damalige Umweltministerin heute in Schwierigkeiten bringen. Erst die beweisbare Kenntnis von Informationen, nach denen ihre zuständigen Minister Lewentz und Spiegel alles mögliche machen, nicht aber sich um ausreichende Warnung, ausreichenden Informationsaustausch, ausreichende Katastrophenbewältigung, ausreichende Menschenrettung bemühen, könnte die bis heute ebenfalls völlig unbehelligte Ministerpräsidentin heute in Schwierigkeiten bringen.

Zusammengefasst: Je weniger eine Regierungschefin, ein Innenminister, eine Umweltministerin wissen, warum auch immer, desto feiner sind sie aus strafrechtlicher Sicht raus, wenn es schief geht.

Nicht einmal „Anfangsverdachtsmomente“

Als Innenminister Lewentz nach einem schnellen Vor-Ort-Foto am frühen Abend wieder mit unbekanntem Ziel verschwand, als Umweltministerin Spiegel nach dem Abendessen mit ihrem Parteifreund und Vertrauten Bernhard Braun bis zum nächsten Morgen abtauchte, als Regierungschefin Dreyer darauf vertraute, die beiden würden das schon hinbekommen, ohne sich zu vergewissern, was tatsächlich an Krisenmanagement etwa im Ahrtal stattfindet, wurden sie aus juristischer Sicht unangreifbar.

Nicht telefonieren, nicht selbst nachschauen, nicht reagieren, am besten das Handy ausschalten, vielleicht noch einen Happen essen und ein Bierchen trinken und dann schnell die Decke über den Kopf ziehen: Anne Spiegel und Staatssekretär Erwin Manz, der Mann ihres absoluten Vertrauens, haben nach dieser bemerkenswerten Lesart der objektivsten Behörde der Welt alles richtig gemacht, denn es existieren nach wie vor nicht einmal „Anfangsverdachtsmomente“. 

Was diese drei Politiker nicht wussten, kann ihnen später auch nicht zum Vorwurf gemacht werden. Jede Nachfrage, jede eigene Überprüfung, jedes Mißtrauen ob Unerreichbarkeit und ausgebliebener Rückrufe wäre aus heutiger Sicht eher gefährlich gewesen. Sobald eine Ministerpräsidentin, sobald ihre Minister Delegation von Verantwortung und eigene Unkenntnis nur sorgfältig genug organisieren und sicherstellen, haben sie nicht einmal im Angesicht der Hinterbliebenen von 135 Todesopfern etwas zu befürchten. Anders als das konkrete Handeln der Helfer in jener Nacht am Katastrophenort sind auch vorsätzliches Nichtwissen und Nichthandeln angeblich nicht überprüfbar. 

Kachelmann: Niemand hätte sterben müssen

Daran ändert angeblich nicht einmal die inzwischen aktenkundige Tatsache etwas, dass bereits ab Montag, spätestens seit Dienstag, allerspätestens ab Mittwochvormittag klar war, dass sich im Himmel historisches Unheil zusammenbraut und, so der Meteorologe Jörg Kachelmann als Zeuge, bei rechtzeitiger Warnung niemand hätte sterben müssen. Statt dessen ließ Ministerin Anne Spiegel noch am Nachmittag eine falsche, aber auf ihr Geheiß korrekt gegenderte Entwarnung herausgeben. Sie und ihr Staatssekretär sahen auch keinen Anlass, diese unverzüglich zu widerrufen und durch eine zutreffende zu ersetzen, womit das Ministerium jederzeit Anspruch auf unverzügliche Sendezeit im Radio gehabt hätte. Pressemitteilungen, so heute die bürokratische Erklärung von Manz, seien „nicht Teil der Meldekette“. 

Robert Habeck, Spitzenkandidat der Grünen, am 24. September 2021 in Düsseldorf, zwei Tage vor der Bundestagswahl (mit Blick auf die hilflose Reaktion der Bundesregierung, als die USA plötzlich aus Afghanistan abzogen): „Es geht darum, die grassierende Verantwortungslosigkeit zu überwinden. Dass es niemand gewesen sein will. Eine Regierung, die es nicht gewesen sein will, die braucht kein Mensch und die braucht kein Land.“

Im Vergleich dazu Robert Habecks Reaktion auf das Verhalten von Anne Spiegel als Umweltministerin in Mainz: bis heute keine Silbe. Und das, obwohl diese Personalentscheidung auch seine Erfindung war – und zwar bereits in voller Kenntnis der Tatsache, dass sechs Monate zuvor in Rheinland-Pfalz alles mögliche verheerend schiefgelaufen ist.  

Fragen zur Rolle des Justizministers

Auf die Frage von Cicero, ob die Koblenzer Staatsanwälte etwas sagen möchten „zu Spekulationen und Vermutungen, nach denen der Generalstaatsanwalt vom Justizminister gebremst wird im Hinblick auf eine Ausweitung der Ermittlungen gegen Mitglieder der Landesregierung“, antwortete Kruse: „Spekulationen oder Vermutungen der von Ihnen in Frage 9 angeführten Art sind hier nicht bekannt.“ Nun lautete die Frage allerdings nicht, ob diese Vermutungen bekannt sind – spätestens mit der Fragestellung sollten sie als bekannt gelten dürfen –, sondern ob die Behörde sie bestätigen oder zurückweisen möchte. Nichts dergleichen ist geschehen. 

Ungeachtet einer seit 2019 vorliegenden Rüge des Europäischen Gerichtshofs sind deutsche Staatsanwälte in Widerspruch zu europäischen Standards nach wie vor weisungsgebunden. Die jeweiligen Justizminister können Ermittlungen über die jeweiligen Generalstaatsanwälte in Gang setzen oder auch verhindern. Deshalb dürfen sie laut EuGh seit drei Jahren keine europäischen Haftbefehle mehr ausstellen. Nach § 146 Gerichtsverfassungsgesetz können solche Weisungen für jede staatsanwaltliche Tätigkeit in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht getroffen werden. Welcher Antrag soll gestellt werden, wie soll das Recht im konkreten Einzelfall ausgelegt werden, soll Ermessen ausgeübt werden? Wenn ein Vorgesetzter eines Staatsanwalts hier eine Weisung trifft, muss er sie befolgen. Und an der Spitze dieser Hierarchie steht der jeweilige Landesjustizminister.

Bereits die Anfrage von Cicero im Justizministerium von Rheinland-Pfalz, ob hier vielleicht, also unter Umständen, nur ganz eventuell die Ursache zu suchen sei für die auffällige Zurückhaltung und Eindimensionalität der Koblenzer Ermittlungsarbeit, etwa, weil Herbert Mertin (FDP) nicht durch ein Verfahren gegen seine Kabinettskollegen oder auch nur weitere Behördenebenen über die kommunale hinaus seine eigene Koalition in die Luft jagen möchte, löste im Haus mittleres Entsetzen aus. 

Selbstverständlich, so der Tenor nach mehrstündiger Abstimmung der Nicht-Antwort mit dem Ministerbüro, halte sich Mertin auch aus dieser Sache komplett heraus. Er wolle aber nicht einmal mit dieser Antwort zitiert werden, eigentlich wolle er sogar gar nicht zitiert werden, weil der ganze Vorgang dadurch eine unangemessene Bedeutung erhielte. Am liebsten, so die ultimative Auskunft, wäre es dem Hause Mertin, wenn Cicero so tun könnte, als hätte es diese Anfrage nie gegeben und erst recht keine Reaktion. 

„Bis heute kein konkreter Tatvorwurf“

Olaf Langhanki, Anwalt des ehemaligen Landrats des Kreises Ahrweiler, muss unterdessen nach eigenen Worten davon ausgehen, dass Ex-Umweltministerin Spiegel bis heute nicht ein einziges Mal vernommen worden ist. Die Umstände der Aussage von Innenminister Lewentz erscheinen ihm mindestens erklärungsbedürftig. Und was seinen Mandanten angehe, existiere, so der Strafverteidiger, bis heute nicht einmal ein konkreter Tatvorwurf. Jürgen Pföhler, der einzige, den die Schuldfrage bisher mit voller Wucht erwischt hat, wisse also gar nicht, wogegen er sich verteidigen solle. 

Langhanki wundert sich zugleich nach eigener Darstellung von Woche zu Woche mehr, dass die Arbeit des Mainzer Untersuchungsausschusses neun Monate nach der Flutkatastrophe deutlich ergiebiger sei als die der zuständigen Ermittler, obwohl diese nicht nur über viel mehr Möglichkeiten und Zwangsmittel verfügten, sondern natürlich auch über mehr Erfahrung, wie man solche Aufgaben angehe.             

Genervt von der Frage nach dem Kanzler

Zurück zur eingangs erwähnten Lagebeschreibung der Zeit: „Eine Ministerin, die sich in der Krise hinter dem Organigramm versteckt, die nicht führt, sondern führen lässt – und die Fehler, selbst wenn sie offenkundig sind, nicht eingesteht, sondern bemäntelt: Das war der Eindruck, den nach Spiegels Auftritt im Ausschuss viele gewannen.“ Es scheine, so der Autor, als hätten Annelena Baerbock und Robert Habeck eine Politikerin in ein Berliner Ministeramt gebracht, die ihren Staatssekretär vorschicke, wenn es für sie selbst eng wird.

Genießt also, zwangsläufige Frage in der Bundespressekonferenz an den stellvertretenden Regierungssprecher, diese Ministerin noch das „vollste“ oder wenigstens das „volle Vertrauen“ des Bundeskanzlers? Leicht pampige Antwort von Wolfgang Büchner: „Ich habe den Fall hier nicht zu kommentieren.“ 

Staatssekretär und Regierungssprecher Steffen Hebestreit, daraufhin per Mail um Auskunft gebeten, damit man den Kanzler nicht bei nächster Gelegenheit selbst darauf ansprechen müsse, gibt sich mehr Mühe mit einer offiziellen Reaktion, auch wenn er sein Befremden bereits über die Frage noch weniger verbergen mag als sein Vertreter, habe er bei Amtsantritt doch die Hoffnung geäußert, „mit dem Ritual des Vertrauens-Aussprechens brechen zu können – eben weil es ein hohles Ritual ist und längst in jede erdenkliche Richtung journalistisch interpretiert wird und uns alle gemeinsam ja etwas ermüdet“. Er halte nun einmal „solche Anfragen journalistisch für unterkomplex und allein von dem Interesse geleitet, ein Thema zu verlängern“.

Hebestreit hält also die Debatte über Frau Spiegel für das Ergebnis einer Kampagne, die, eigentlich substanzlos, nun aber, auch von Cicero, künstlich am Leben erhalten werde. Wenn es denn trotzdem unbedingt sein müsse, dann, so der Sprecher von Olaf Scholz: „Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hat das volle Vertrauen und die Unterstützung des Bundeskanzlers.“ 

Hebestreit wörtlich: „Wenn ein Kanzler / eine Kanzlerin eine Ministerin / einen Minister nicht mehr für tragbar hielte, würde er ihn / sie entlassen. Oder?“

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Dokumentation der Cicero-Anfrage an die Koblenzer Staatsanwaltschaft im Wortlaut

Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt Dr. Moll, 
sehr geehrte Damen und Herren Staatsanwälte,
aus den Ereignissen der vergangenen Woche, speziell mit Blick auf den Verlauf der Sitzung des U-Ausschusses des Landtages am Freitag, ergeben sich eine Reihe neuer Fragen:

1. Liegen Strafanzeigen gegen Mitglieder der Landesregierung vor? 
Um wieviele handelt es sich und gegen wen richten sie sich jeweils? 
Wie qualifiziert sind diese? 
Welche Straftatbestände werden genannt und inwiefern darf man die Anzeigen als mit Tatsachen und Beweisangeboten untermauert betrachten?

2. Hat sich die Berichterstattung über die SMS-Kommunikation der ehem. Landesministerin Anne Spiegel, speziell im Hinblick auf ihre Sorgen um ihr persönliches Ansehen, noch einmal auf das Anzeigeaufkommen ausgewirkt? 

3. StS Manz trank am Abend der Flutkatastrophe nach eigenen Angaben Bierchen, erledigte Büropost und schaute fern, um sich gegen 23 Uhr schlafen zu legen. Eine Abstimmung mit MP Dreyer oder dem Innenminister fand dagegen nach seiner Darstellung nicht statt. Ist das etwas, was Ihre Behörde aufhorchen lässt?   

4. Wie geht Ihre Behörde mit diesen Strafanzeigen um, wie bewertet sie diese? Sind sie aus Ermittlersicht verwertbar oder ging es den Anzeigeerstattern vor allem - umgangssprachlich formuliert - darum, Dampf abzulassen, ihre Emotionen irgendwie loszuwerden? Da ja ein eigenes E-Mail-Postfach von Ihnen eingerichtet wurde, sollte der diesbezügliche Posteingang gut dokumentiert sein. 

5. Hat die StA Koblenz Verlauf und Erkenntnisse der jüngsten Ausschusssitzung zur Kenntnis genommen - ist dort vielleicht regelmässig ein Vertreter von Ihnen anwesend? Werden Protokolle angefertigt oder angefordert?

6. Die Anruferlisten von StS Manz und BMin Spiegel scheinen lückenhaft zu sein. Die „Rhein-Zeitung“ berichtete, Innenminister Lewentz habe lediglich eine DIN-A-4-Seite mit seiner Kommunikation zur Verfügung gestellt, die zudem von Auslassungen geprägt sei. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Beweislage?

7. Anders gefragt: Sehen Sie Anlass, nunmehr auch bei diesen Politikern Maßnahmen zur Beweissicherung durchzuführen, nachdem es auf freiwilliger Basis nicht so recht zu funktionieren scheint?

8. Liegen Ihnen inzwischen ausreichend Anhaltspunkte vor, die eine Ausweitung der Ermittlungen rechtfertigen oder erfordern, etwa auf Mitglieder der Landesregierung? Etwa wegen der Erkenntnisse des U-Ausschusses, wegen neuer Strafanzeigen, wegen eigener Aussagen von Zeugen vor dem U-Ausschuss?

9. Möchten Sie etwas sagen zu Spekulationen und Vermutungen, nach denen der Generalstaatsanwalt vom Justizminister gebremst wird im Hinblick auf eine Ausweitung der Ermittlungen gegen Mitglieder der Landesregierung?

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