Kritik an Baerbock - Durchhalten!

Annalena Baerbock hat sich viele Schnitzer geleistet. Jetzt wird offen darüber diskutiert, ob die Kanzlerkandidatur an Robert Habeck übergeben werden sollte. Würden die Grünen diesen Schritt tatsächlich gehen, wäre er das Eingeständnis, dass man ihnen keine Regierungsverantwortung geben kann.

Reicht es für die große Politik? Annalena Baerbock im Wahlkampf / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Die bittere Wahrheit (für alle Grünen-Wähler) vorab: Es wird in Deutschland in dieser Legislaturperiode kein grün geführtes Kanzleramt geben. Ein großer Teil der Bürger, und das geht über den Großteil der Journalisten und auch über die grüne Stammwählerschaft hinaus, wünscht sich zwar einen maßgeblichen Einfluss der Grünen auf die nächste Regierung. Aber eine Grüne oder ein Grüner im Kanzleramt? Dafür ist das Vertrauen in die trotz des Mitte-Kurses der vergangenen Jahre noch immer ideologisch sehr bunten Partei zu gering. Daran kann auch ein im Amt gewachsener Außenminister Joschka Fischer oder ein mit ruhiger Hand regierender Ministerpräsident Winfried Kretschmann nichts ändern.

In den Umfragen drückt sich das darin aus, dass eine schwarz-grüne Koalition nach der Wahl am 26. September schon seit Monaten das bevorzugte Szenario der Wähler ist: Die Bevölkerung erhofft sich offenbar frische Impulse von einer grünen Regierungsbeteiligung. Eine Kanzlerin Baerbock, gäbe es eine direkte Wahl, wollen aber nur deutlich weniger als 20 Prozent: Tendenziell sind die Umfragewerte der Partei höher als die der Spitzenkandidatin. Das liegt zum Teil an ihr selbst.

Weniger wäre mehr gewesen

Die 40-jährige Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat sich Schnitzer geleistet, die vom Aufhübschen ihres Lebenslaufs bis zum schludrigen Zusammenschreiben ihres gerade erschienenen Buchs reichen. Rückblickend, das sollte die für ihren Ehrgeiz bekannte Politikerin daraus mitnehmen, hätte sie sich dieses Buch einfach ersparen sollen. Darüber ist in den Medien jetzt eine Debatte entbrannt, ob Baerbock nun ihre Ambitionen auf- und die Kanzlerkandidatur an Robert Habeck übergeben sollte. Forciert wird das in erster Linie von Frauen, die für Habeck schon immer eine gewisse Schwäche zeigten. 

Würde Baerbock, würden die Grünen diesen Schritt gehen – es wäre das Eingeständnis, dass man ihnen das (Mit-)Regieren dieses Landes nicht anvertrauen sollte. 

Vom Gipfel ins Tal

Zunächst zu Baerbock selbst: Sie ist seit dem Wochenende für zwei Wochen in den Urlaub entschwunden, ob geplant oder nicht, ist erst mal zweitrangig. Die 40-Jährige erlebt jetzt zum ersten Mal die Härte des Windes, der rund um das Kanzleramt weht, und der insbesondere Shootingstars trifft, die von den Medien gerade noch hochgejazzt wurden. Es gibt für Journalisten (und übrigens auch für Leser) nicht Schöneres als die Geschichte vom steilen Aufstieg und dem tiefen Fall. Man erfährt dann wohl für einen Moment Genugtuung, wo man sonst immer an der eigenen Lebensleistung zweifelte: Siehste, den hat‘s jetzt auch getroffen.

Jens Spahn könnte Annalena Baerbock wohl eine tröstende Schulter bieten: Der Gesundheitsminister wurde seit Januar meist zu Unrecht und nur zeitweise zu Recht in einer Art niedergeschrieben, die mehr über den Geisteszustand der Journalisten nach einem Jahr Homeoffice und mitten in der Winterzeit aussagte als über die Qualität von Spahns Arbeit als Minister. Irgendjemand sollte nach einem Jahr Corona ohne Aussicht auf Besserung geopfert werden. Spahn hat durchgehalten.

Es braucht Stehvermögen

Auch Armin Laschet hat durchgehalten, der Kanzlerkandidat, der auf der Titelseite des Spiegel als Häuptling Wirdsonix geschmäht wurde, gegen den sich wichtige CDU-Granden (und die gesamte Schwesterpartei CSU mit Häuptling Söder an der Spitze) verschworen hatten. Egal wie die Wahl im September ausgeht – diese Art Steh- oder Sitzvermögen ist kanzlerabel. 

Annalena Baerbock, die noch nie ein Ministeramt innehatte und deren härteste politische Erfahrungen in (erfolgreichen) Koalitionsverhandlungen in Brandenburg und (erfolglosen) Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene bestehen, muss jetzt ihren ersten Spießrutenlauf absolvieren: das freie Fantasieren der Journalisten über eine Aufgabe der Kanzlerkandidatur, die Gehässigkeit in den sozialen Netzwerken, vielleicht auch das Sticheln mancher Parteikollegen hinter den Kulissen – im Prinzip ist das ein erster Stresstest. Zeigt sie Nerven, wirft sie am Ende hin, wenn der Druck groß genug wird? Baerbocks politische Karriere wäre beendet, wenn sie das nun täte. 

Das Erfolgsrezept der Politik

Aber auch die Hoffnung auf eine Regierungsbeteiligung der Grünen wäre dahin: Anders als etwa im berühmt-berüchtigten taz-Kommentar insinuiert, würden die Umfragewerte der Partei mit einer eiligst orchestrierten Habeck-Kandidatur nicht wieder steigen. Denn was sollte man von dieser Partei und ihrem Personal in einem solchen Fall halten? Alle Parteimitglieder, die Baerbock zur Spitzenkandidatin gemacht haben, müssten ja ihre eigene geistige Gesundheit infrage stellen: Waren wir benebelt, als wir vor wenigen Wochen Baerbock mit 98 Prozent Zustimmung zu unserer Kandidatin machten? Alle Argumente für Habeck – praktische Erfahrung als Minister, größere Lebenserfahrung – lagen schon damals auf dem Tisch.

In Berliner Kreisen ist der fleißige SMS-Austausch zwischen Kanzlerin Merkel und Kanzlerkandidatin Baerbock ein offenes Geheimnis. Dieser Tage dürfte die Noch-Kanzlerin der 40-Jährigen ihr wichtigstes Politiker-Rezept gesimst haben: Durchhalten!
 

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