Nachfolge an der Spitze der CDU - „Merkel muss den gordischen Knoten zerschlagen und die Kanzlerschaft abgeben“

Friedrich Merz, Jens Spahn oder Annegret Kramp-Karrenbauer? Der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse findet alle Kandidaten besser als eine Fortsetzung mit Angela Merkel an der Spitze der CDU. Damit der Aufbruch gelingen kann, müsse die Kanzlerin aber noch mehr Platz machen

„Auch Merkel selbst ist ein „weiter so“ nicht zu wünschen“ / picture alliance
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Herr Jesse, nach dem angekündigten Verzicht der Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den Parteivorsitz der CDU gibt es nun drei prominente Nachfolge-Kandidaten: Jens Spahn, Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz: Wer hat die besten Chancen?
Das Charakteristische an der jetzigen Situation ist eine unglaubliche Dynamik. Niemand weiß, ob es nicht doch eine Urwahl gibt. Niemand weiß, ob Merz und Spahn antreten. Niemand weiß, ob es überhaupt zu einer Kampfabstimmung kommt. Vieles hängt von der Präsentation der Kandidaten ab, innerhalb wie außerhalb der CDU. Für mich ist momentan die in der Partei gut vernetzte Annegret Kramp-Karrenbauer die leichte Favoritin. Es könnte auf ein Duell Kramp-Karrenbauer versus Friedrich Merz hinauslaufen. Diese Einschätzung mag allerdings in 14 Tagen schon anders ausschauen, erst recht nach den Regionalkonferenzen. 

Wen favorisieren Sie denn?
Jede der drei genannten Person ist eine bessere Lösung als die Fortsetzung mit Angela Merkel. Europa, Deutschland, der CDU und Merkel selbst ist ein „weiter so“ nicht zu wünschen. Insofern wäre es das Beste, Angela Merkel zerschlüge den gordischen Knoten und würde ihr Amt als Kanzlerin direkt nach der Wahl über den Parteivorsitz im Dezember zur Verfügung stellen. So hätte sie den eigenen Abgang auch als Kanzlerin organisiert. Wer die Wahl gewinnt, wäre damit auch gleich Kanzlerkandidat, wenn es zu Neuwahlen kommt.

Eckhard Jesse / picture alliance

Die CDU versucht, den Verzicht von Angela Merkel als Aufbruch zu verkaufen, dabei ist er auch den schlechten Wahlergebnissen geschuldet. Ist die Partei überhaupt in der Lage, einen glaubwürdigen Neuanfang zu schaffen?
Der Verzicht ist einerseits ein Befreiungsschlag, andererseits aber auch ein Verzweiflungsakt. Befreiungsschlag deshalb, weil nun die lange vermisste innerparteiliche Demokratie zur Geltung kommt. Glaubwürdigkeit kehrt zurück, weil das weitere Vorgehen niemand von oben steuert, niemand zu steuern vermag. CSU und SPD müssen ebenso ihre personellen Probleme an der Spitze lösen. Es ist aber auch ein Verzweiflungsakt, weil Angela Merkel die Getriebene war. Sie hat die Zeit für eine Nachfolgeregierung in ihrem Sinn verpasst, musste reagieren, konnte nicht mehr eigenständig agieren. Immerhin kam ihr Friedrich Merz mit seiner Ankündigung, den Hut in den Ring zu werfen, nicht zuvor.

Was muss der oder die Neue konkret ändern?
Der oder die neue Vorsitzende muss einerseits das Konsensdenken Merkels, das zu Stillstand geführt hat, schnellstmöglich beenden, andererseits aber „durchregieren“. Unter Merkel wurde die SPD klein gemacht, die AfD groß. Bei den Landtagswahlen 2018 haben die beiden Volksparteien (die Union und die SPD) jeweils 21,8 Prozentpunkte verloren. Dieses Desaster muss die neue Person an der Spitze der Partei für die Wahlen 2019 verhindern.

Ein derart offenes Rennen um den Parteivorsitz ist für die CDU Neuland. Ist das gut oder schlecht für die Partei?
Das jetzige Szenario bietet Chancen und Risiken für die CDU. Die Risiken: Sollte ein Kandidat sich nur ganz knapp durchsetzen, so muss eine innere Befriedung nicht zwangsläufig einkehren. Und Streit schadet. Erst wenn das Amt des Kanzlers und das Amt des Vorsitzenden in einer Hand ist, kann Ruhe einkehren. Die Chancen: Die neue Person wird mit Vorschusslorbeeren bedacht und kann für frischen Wind sorgen – nicht nur atmosphärisch, sondern auch bei unumgänglichen Sachentscheidungen, etwa in der Migrationspolitik. 

Bisher hält Merkel aber daran fest, vorerst Kanzlerin bleiben zu wollen. Sie selbst hatte über ihren Vorgänger Gerhard Schröder gesagt, dass es dessen größter Fehler gewesen wäre, als Kanzler den Parteivorsitz abzugeben. Kann sie es besser machen als Schröder? 
Der benötigte Aufbruch mit einer Kanzlerin Merkel könnte nur dann gelingen, wenn Angela Merkel an der Seite von Kramp-Karrenbrauer regiert. Aber wohl nur vorübergehend. Es gibt allerdings einen doppelten Unterschied zu Schröder: Merkel hat signalisiert, sie werde nicht wieder antreten. Das nützt ihr. Andererseits hat die Union mit der SPD einen Partner in der Regierung, der aus der Koalition drängt. Das schadet Merkel. Denn bei einem Koalitionsbruch ist die Kanzlerschaft beendet, ob mit oder ohne Neuwahlen. Wie auch immer, bin ich davon überzeugt: Merkel ist 2021 keine Kanzlerin mehr. Dafür braucht es keiner Prophetengabe. Sie schafft es allenfalls bis zu den Europawahlen im Mai 2019, wenn überhaupt. Was wahrscheinlich ist: Wir haben demnächst nicht nur eine/n neuen Kanzler/in, sondern auch eine neue Regierung, eine schwarz-gelb-grüne Koalition, und zwar ohne Neuwahlen. Freilich könnte der/die neue Kanzler/in auf Neuwahlen drängen, um eine bessere Legitimation zu erlangen. 

Es geht bei der Wahl des Parteivorsitzenden auch um die Ausrichtung der Partei. Friedrich Merz steht für eine Art geradlinigen, stolzen Konservatismus. Wie ausgeprägt ist die Sehnsucht innerhalb der Partei nach diesen Werten?
Die Partei wird einen Kurswechsel vollziehen, auch unter einer Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer. Die Zeit der „Sozialdemokratisierung“ ist vorbei. Und die Partei, nicht nur im Osten des Landes mit Blick auf die drei Landtagswahlen 2019, atmet auf – das gilt ebenso für die CSU wie für die SPD. Für die CSU deshalb, weil die politischen Konflikte mit der CDU abnehmen, für die SPD deshalb, weil sie zunehmen werden. 
 
Wie sollte sich denn die CDU in Zukunft ausrichten? Derzeit wird ihr von den Grünen und von der AfD das Wasser abgegraben. Viele Mitglieder und Wähler sind frustriert über den grün-gefärbten Merkel-Kurs. Aber eine Ausrichtung nach blau scheint, siehe Bayern, auch nicht unbedingt Erfolg zu versprechen
Die CDU muss dafür Sorge tragen, dass die klassischen parteiinterne Richtungen wieder erkennbar sind: eine christliche, eine liberale, eine konservative, eine soziale. Momentan fehlt der Merkel-CDU mit ihren diffusen Positionen ein Markenkern. Eine offene Debattenkultur, die auch jene von der Partei entfremdeten Strömungen einzufangen sucht, ist unvermeidlich. Das nützt auch der Lebendigkeit unserer Parteiendemokratie.

Eckhard Jesse ist emeritierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Feld der Extremismus-, Wahl- und Parteienforschung.

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