Angela Merkel - Die wohltemperierte Bundeskanzlerin

Angela Merkel geht ins 15. Jahr ihrer Regentschaft. Nun rücken auch einstige publizistische Geliebte von ihr ab. Doch die Groko ist fleißig. Wo ist also das Problem?

Erschienen in Ausgabe
Wie hinterlässt Angela Merkel das Amt der Bundeskanzlerin und die deutsche Politik? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

So erreichen Sie Frank A. Meyer:

Anzeige

Dass Friedrich Merz der Meinung ist, die Leistungsbilanz von Angela Merkel sei „grottenschlecht“ – geschenkt! Der einstige Fraktions­chef von CDU/CSU gehörte nie zu ihrem Hofstaat. Schon eher ernst zu nehmen ist der Aufmacher der tageszeitung, in dem sie der Regierung bescheinigt, sie sei „reif für die Grundrente“. Die taz zählt seit Jahren zur königlichen Leibgarde der Kanzlerin. Ernster als ernst, nämlich bitterernst zu nehmen ist der Verrat des Spiegels. Schließlich war das Hamburger Blatt gerade gestern noch der heilige Christophorus, der das geliebte Kind Angela in seinen starken journalistischen Armen durch alle politischen Stromschnellen trug.

Augsteins legendäres „Sturmgeschütz der Demokratie“, das sich zuletzt als Sturmgeschütz gegen die offene Debatte in Stellung gebracht hatte, feuerte ohne jede Vorwarnung auf seinen Schützling. Dirk Kurbjuweit, stilistisch wie intellektuell einer der raren Besten in der Redaktion, zieht im Leitartikel das Fazit: „Merkel trägt die größte Verantwortung für den närrischen Zustand der Union, der sich natürlich auch auf die Große Koalition auswirkt.“ Und: „Da kann man sich kaum vorstellen, dass es ohne Merkel schlechter wäre.“ Man kann sich sogar vorstellen, dass es ohne die ewige Monarchin besser wäre!

„So wenig Kanzler wie heute war noch nie“

Wer das nicht glaubt, der lese den Abschiedsbrief ihres journalistischen Geliebten Bernd Ulrich in der Zeit, wo er noch im August 2018 seine Angebetete, untermalt von Versen aus Matthias Claudius’ „Abendlied“, zur solitären Figur der politischen Menschheitsgeschichte verkitschte: „Vielleicht hat noch nie zuvor ein mächtiger Mensch über einen so langen Zeitraum so viel schiere Politik gemacht, eine vergleichbare Menge an Problemen in Lösungen verwandelt, mehr Macht aus seiner Macht generiert.“ Heute dagegen macht Ulrich der jahrelangen Gefährtin seiner schreiberischen Tagträume den Vorwurf, sie betreibe einen „Prozedural-Absolutismus“ und halte sich an ihrer „dysfunktionalen Regierung fest“; ihre Bescheidenheit sei „prätentiös“; es wäre deshalb „höchste Zeit, das Ende zu denken“.

Da ist das publizistische Betttuch wohl zerschnitten. Was Ulrich in der Zeit ebenso herzzerrissen wie herzzerreißend niederschreibt, sagt Bild weniger emotional, dafür gewohnt brutal: „Merkels Murks-Regierung!“ Nur noch der Komiker Hape Kerkeling bringt es kälter auf den Punkt – den Gefrierpunkt: „… so wenig Kanzler wie heute war noch nie.“

Doch ist das mit der ersten Ossi-Kanzlerin nun alles wirklich so, wie es die Liquidatoren der publizistisch-politischen Treuhandanstalt bilanzieren – und abwickeln? Also ganz und gar nicht so, wie diese Medien selbst es jahrelang säuselnd und schmeichelnd behaupteten – um nicht zu sagen: besangen?

Der „Betriebsrat der Nation“

Die Bilanz der Groko zeugt immerhin von Fleiß. CDU-Minister Jens Spahn macht sich ebenso um Deutschlands Gesundheitsnetz verdient wie SPD-Minister Hubertus Heil um Deutschlands Sozialgeflecht. Beide stehen für eine höchst engagierte Regierungsriege – nicht weniger als dazumal der brillante Finanzminister Wolfgang Schäuble und heute sein sachsicherer Nachfolger Olaf Scholz. Zwar sind auch Nieten zu finden. Aber nur wenige, kaum der Rede wert.

Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich definiert die Rolle seiner Partei in der Koalition als „Betriebsrat der Nation“. Die resignative Formel beschreibt präzise die ganze Regierung: beflissen von morgens früh bis abends spät im Einsatz für den Betrieb Deutschland.

Mehr nicht? Nein. Und genau das ist das Problem: Wer die Leistungen der Groko untersucht, stößt auf Verwaltung statt auf Gestaltung. Am allerwenigsten stößt er auf die Kanzlerin, die zwar fleißig ihren historischen Fußabdruck auf den roten Teppichen rund um den Globus hinterlässt, nicht aber an ihrem Kabinettstisch oder auf der Regierungsbank im Bundestag zentrale Zeichen setzt.

Die Politik ist zum Erliegen gekommen

Was wäre die Aufgabe der Kanzlerin? Den großen Zeitfragen mit deutschen Antworten zu begegnen. Der Digitalisierung zum Beispiel; Deutschland gilt als Funkloch Europas. Dem Klimawandel zum Beispiel; Deutschland verfehlt notorisch seine Umweltziele. Dem Migrationsansturm zum Beispiel; die Regierungschefin öffnete der unkontrollierten Einwanderung mutwillig alle Grenzen. Der Nato nach der Distanzierung der Schutzmacht USA zum Beispiel; die Bundeswehr hätte derzeit womöglich Mühe, das Schweizer Milizheer aus dem Feld zu schlagen. Dem Erwachen Afrikas als Wirtschaftsmacht zum Beispiel; Deutschland bedient die Nationen des gigantischen Kontinents immer noch mit traditioneller Entwicklungshilfe. Dem EU-Tandem mit Frankreich zum Beispiel; die Kanzlerin antwortet auf Emmanuel Macrons Initiativen mit herablassenden Sätzen und Gesten.

Ja, die Politik der drittwichtigsten Nation der Welt ist zum Erliegen gekommen. Nicht nur der Welt gegenüber, sondern vor allem im Innern: Wegweisende Debatten zu den großen Themen der Jetztzeit fanden und finden nicht statt. Die Groko steht für das Ersticken der demokratischen Kultur, wie sie sich eigentlich durch das Gegeneinander von Regierung und Opposition täglich neu ergeben sollte.

Die Anne Will der deutschen Dinge

Die vernichtenden Wahlergebnisse der Groko-Parteien spiegeln das Unwohlsein der Deutschen angesichts dieser wohl- bis untertemperierten Politik. Rechts wählen die Bundesbürger extremnationalistisch auftrumpfende Populisten, links geben sie ihre Stimmen moralisch-idealistisch aufgeladenen Klimasurfern.

Das Wohlbefinden der Kanzlerin jedoch scheint durch das Unwohlsein der von ihr Regierten in keiner Weise beeinträchtigt. Sie fühlt sich wohl in ihrer Rolle als Moderatorin – als Anne Will der deutschen Dinge, was, wie beim Original am Sonntagabend, auf die Vorspiegelung der politischen Debatte unter Abschaffung derselben hinausläuft.

Ist das verwunderlich? Angela Merkel sagte in einem Interview zur 30. Wiederkehr des Mauerfalls: „In mir stecken 35 Jahre Osten.“ Sie umarmt damit plötzlich ihre missmutigen Ossis, denen sie bisher kaum Zeichen besonderer Zuwendung gezeigt und für die sie keine einzige große Rede gehalten hat.

Schlüsselwort: „Alternativlos“

Gerade damit aber verrät sie ihr Herkunftsproblem: Offenes Reden war in der DDR verpönt – unter Strafandrohung. Die Bürger des zweiten deutschen Unrechtsstaats mussten zwei Sprachen beherrschen: eine für zu Hause und eine für draußen auf der Straße oder bei der Arbeit. Im vertrauten Kreis – gewissermaßen zu Hause – ist Merkel amüsant, herzlich, offen, selbst­ironisch, selbstkritisch. In der Öffentlichkeit vermeidet sie jeden Satz, der beim Bürger Gegenrede oder gar Kritik auslösen könnte.

„Alternativlos“ ist ihr Schlüsselwort. Alternativlos war die DDR-Realität – bis Bürgerunmut die Mauer zertrümmerte, die Mauer des Schweigens. Doch, doch, Angela Merkel ist eine unerschütterliche Kopfdemokratin. Die Liebe zur Demokratie allerdings entsteht nicht im Kopf, sondern durch Erleben und Leidenschaft in den Jahren der politischen Adoleszenz.

Angela Merkel weiß, was Unfreiheit ist. Inzwischen weiß sie auch, was Freiheit ist. Die Demokratie jedoch, diese unordentliche Ordnung, diese chaotische Streitkultur der Freiheit hat sie sich nicht anverwandelt. Hätte sie es vermocht? Möglicherweise – wenn die publizistische Öffentlichkeit vor ihr nicht auf Knien gerutscht wäre. Was war Deutschland? Was ist daraus geworden? Kanzler Helmut Kohl kam aus Oggersheim – Kernland der Bürgerrepublik. Kanzlerin Angela Merkel kommt aus Templin – Kernland der Genossenrepublik. Deutschland schafft das. Westdeutschland!

Dieser Text ist in der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

 

 

 

Anzeige