Angela Merkel bei Anne Will - „Wir brauchen nochmal mehr Maßnahmen“

Die Kanzlerin lässt als einziger Gast in der Talkshow von Anne Will keinen Zweifel daran: Corona ist noch längst nicht überstanden, sondern der Lockdown wird schon bald verschärft werden. Ungewöhnlich kritische Worte Merkels zielten auf den neuen Parteichef Armin Laschet und auf den saarländischen CDU-Ministerpräsidenten Tobias Hans.

Angela Merkel am Sonntagabend bei Anne Will / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Angela Merkels letzte Worte in diesem Einzelgespräch mit Anne Will lauteten: „Im Augenblick habe ich ein entschlossenes Gefühl.“ Dieser Satz kam auf die Frage, in welcher emotionalen Lage die Bundeskanzlerin demnächst aus ihrer Amtszeit scheiden werde. Denn natürlich ist klar, dass die Bewältigung der Corona-Krise einen ganz erheblichen Anteil daran haben wird, wie Merkels Kanzlerschaft einst bewertet werden wird. Deren Kernbotschaft an diesem Sonntagabend war: Es sind Fehler gemacht worden, was in einer solchen Situation auch kaum vermeidbar war. Dennoch habe die Bundesregierung, habe auch die Europäische Kommission wesentlich besser agiert, als es momentan (und nicht zuletzt wohl wegen der medialen Darstellung) den Anschein hat.

Um das wichtigste gleich vorweg zu nehmen: Das Interview mit Merkels Vertrauens-Moderatorin in schwierigen Zeiten ließ wenig Zweifel daran, was in den nächsten Tagen auf Deutschland zukommt. Nämlich nicht nur eine Rücknahme der jüngsten Lockerungen, sondern noch dazu eine Verschärfung der bisherigen Maßnahmen. Gleich mehrere Male ließ die Kanzlerin erkennen, worum es da geht: Ausgangssperren, weitergehende Kontaktbeschränkungen sowie eine Pflicht zum Homeoffice. Der Katalog liegt jetzt praktisch auf dem Tisch, und weil Merkel nach dem Debakel wegen der „erweiterten Ruhezeit zu Ostern“ ganz bestimmt nicht ein weiteres Mal zurückrudern will, kann man davon ausgehen: Alle genannten Punkte werden kommen. Fragt sich nur: Wann genau und für wie lange?

Nicht unter Druck gesetzt

Es war insgesamt ein ruhiges und sachliches Interview, das den Bürgern da als eine Art sonntagabendliche Regierungserklärung geboten wurde; Anne Will gab sich sogar erkennbar Mühe, ab und zu ein paar kritische Fragen zu stellen. Aber wie zu erwarten, fand das Gespräch in einer Atmosphäre gegenseitiger Sympathie statt; wirklich unter Druck gesetzt musste sich die deutsche Regierungschefin zu keinem Zeitpunkt fühlen. Was auch keine Voraussetzung dafür zu sein braucht, um mehr Inhalte zu generieren. Fakt ist jedoch auch: Der Kammerton entsprach keineswegs der Stimmung im Land. Viele Zuschauer dürften sich deshalb vor ihren Bildschirmen eine Stunde lang darüber geärgert haben, dass die Chose insgesamt doch sehr harmlos und umemotional durchgezogen wurde. Aber genau für diese Art wurde Merkel ja auch stets belobigt (und gewählt). Nehmen wir es einfach als gegeben hin.

Gleich zu Anfang wollte Will wissen, was genau ihre Gesprächspartnerin denn dazu gebracht habe, sich am Mittwoch nach der verpatzen Osterruhe zu entschuldigen. Wofür sie, so die Moderatorin ausdrücklich im Nachsatz, „zu Recht großen, großen Respekt“ erfahren habe. Merkels Antwort: Für die Verunsicherung, die von der Ad-Hoc-Aktion ausgegangen sei. Das Ganze wäre kurzfristig nicht realisierbar gewesen, Aufwand und Ertrag hätten nicht in Einklang gebracht werden können. Dennoch wurde im Verlauf der Sendung klar, dass die Sache damit nicht aus der Welt ist. Es wird für den zweiten Versuch nur ein bisschen mehr Vorlauf brauchen.

Merkel machte deutlich, dass die sogenannte dritte Welle, die derzeit wieder für steigende Infektionszahlen sorgt, eigentlich die erste Welle einer neuen Pandemie mit mutierten Corona-Viren sei. Was als Erkenntnis natürlich nicht gerade geeignet ist, um Hoffnung aufkeimen zu lassen. Gleichwohl ließ die Kanzlerin erkennen, dass aufgrund der Impfungen wohl irgendwann im Laufes des Sommers mit substantiellen Verbesserungen der Lage zu rechnen sei. Sie bleibe bei ihrem Versprechen, dass alle Bürgerinnen und Bürger spätestens Ende September mit einem Impf-Angebot rechnen könnten. Derzeit aber gelte: „Wir brauchen nochmal mehr Maßnahmen.“

Ja, sagte Merkel, es habe im Laufe des hinter uns liegenden Corona-Jahres „Unzulänglichkeiten“ bei der Pandemie-Bekämpfung gegeben - von der Digitalisierung bis zu dysfunktionalen Strukturen des real existierenden Föderalismus. Auch daran werde gearbeitet. An dieser Stelle hätte man als Zuschauer allerdings gern ein paar Details erfahren - doch eine entsprechende Nachfrage der Moderatorin blieb aus. Stattdessen zeichnete die Kanzlerin ein ernüchterndes Bild der aktuellen pandemischen Situation: exponentielles Wachstum der Infektionen, drohende Überlastung des Gesundheitssystems, „wir müssen die dritte Welle brechen“. Das Wording ist inzwischen hinlänglich bekannt, weswegen ja auch viele Menschen mit ihrer Geduld am Ende sind.

„Viel Zeit haben wir nicht“

Wobei Anne Will genau diesen Punkt nicht gelten lassen wollte. Eine Umfrage habe vielmehr ergeben, dass 36 Prozent der Befragten die derzeit geltenden Maßnahmen für nicht streng genug hielten. Merkel nahm diese freundliche Vorgabe lediglich zur Kenntnis, sprach sich gegen einen vorgezogenen Bund-Länder-Gipfel aus und sagte, jetzt sei nochmal eine „Kraftanstrengung“ nötig, bis die Durchimpfung endlich Linderung verschaffe. Zwei entscheidende Sätze in diesem Zusammenhang: „Viel Zeit haben wir nicht.“ Und: „Ich werde nicht zuschauen", bis man in Deutschland schlimmstenfalls bei 100.000 Neuinfektionen pro Tag angelangt.

Bemerkenswert war Merkels verhältnismäßig deutliche Kritik an zwei amtierenden Ministerpräsidenten, die beide ihrer eigenen Partei angehören und von denen einer seit kurzem sogar Parteivorsitzender ist: Armin Laschet aus Nordrhein-Westfalen und Tobias Hans aus dem Saarland. Die von Hans für den 6. April avisierte Öffnungsstrategie in seinem Bundesland hält die Kanzlerin für ebenso falsch wie Laschets Lockerungspläne für bestimmte Kommunen mit niedriger Inzidenz in NRW. Merkel dazu: Dies sei eine „sehr weite Interpretation der Ermessensspielräume“. Mit anderen Worten: Laschet hält sich nicht an Vereinbarungen. Das ist er also, der erste wirklich offene Konflikt zwischen der Bundeskanzlerin und dem neuen Vorsitzenden der CDU.

Folgerichtig fragte Will, ob Merkel demnächst die Kompetenzen in Sachen Corona-Bekämpfung an sich reißen werde. Antwort: In einer Demokratie funktionierten die Dinge nicht „par ordre de Mufti“, und ohne Beteiligung der Bundesländer laufe ohnehin nichts. Kompromissfähigkeit gehöre dazu, allerdings, so die Regierungschefin, wolle sie sich nicht mit der Rollenverteilung zufriedengeben, wonach das Kanzleramt immer besonders streng sei und die Ministerpräsidenten vieler Länder sich als vermeintlich pragmatische Lockerer gefielen. Mit anderen Worten: Sie hat es satt, ständig als Spaßbremse dazustehen. Kann man verstehen.

„Keine Grund, in Sack und Asche zu gehen“

Gegen Ende der Sendung ging es um Merkels inzwischen schon legendäres Zitat, bei der Impfstoff-Beschaffung durch die EU-Kommission sei „im Großen und Ganzen nichts schief gelaufen“. Wiederholen wollte die Kanzlerin diesen Satz natürlich nicht, gleichwohl hielt sie sich mit Kritik merklich zurück. Zwar sei nicht alles „hundertprozentig gut gelaufen“, gestand sie ein. Allerdings „wehre ich mich ein bisschen gegen den Eindruck, dass hier blauäugig gehandelt wurde“. Und überhaupt: In den Nachbarländern laufe es auch nicht besser. Fazit: „Es gibt keinen Grund, in Sack und Asche zu gehen.“

Ganz am Schluss noch einige Worte zu den Masken-Skandalen einiger Unionsabgeordneter („empörend“, „völlig inakzeptabel“). Und zum aktuellen Umfrage-Crash von CDU und CSU: „Die CDU hat keinen Rechtsanspruch auf das Kanzleramt“, so die lakonische Anmerkung Angela Merkels zur Misere. Laut einer heute veröffentlichten Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Kantar stehen die Unionsparteien derzeit übrigens bei 25 Prozent. „Ich will dazu beitragen, dass die Union erfolgreich ist“, sagte Merkel dazu. Ob ihre Parteifreunde deswegen jetzt besser schlafen können, darf allerdings bezweifelt werden.

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