Wenn Andrea Nahles heute, am 1. August, ihr Amt als Vorstandsvorsitzende der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit antritt, ist ihr die öffentliche Aufmerksamkeit gewiss. Die 52-jährige Frau aus der Eifel ist nicht nur habituell keine typische Behördenchefin. Sie ist auch eine Gefallene und Wiederauferstandene. Noch dazu eine, die als frühere Bundesministerin weiß, wie Arbeit organisiert und verwaltet werden muss. Von einem Versorgungsposten für eine Inventarpolitikerin kann also nicht die Rede sein. Wohl aber vom Neubeginn nach einer Phase der vertieften Selbsterkenntnis.
Vor drei Jahren hat Andrea Nahles sich bei laufendem Betrieb aus dem politischen Berlin zurückgezogen. Die Fallhöhe war enorm: von der Partei- und Fraktionsvorsitzenden zur Privatperson. Ihr Abgang im Jahr 2019 markierte damals nicht nur einen Tiefpunkt im Umgang der Genossinnen und Genossen untereinander. Sondern auch in der würgenden Zusammenarbeit der Großen Koalition unter Angela Merkel. Nahles’ Rückzug zeigte, wie hoch der Preis sein kann, wenn ein Mensch verstanden hat, dass er sich und anderen eher schadet als nützt.
Eine Gefallene
Als Andrea Nahles 2019 nach verlorener Europawahl mit einem lapidaren „Machen Sie’s gut!“ das Willy-Brandt-Haus in der Berliner Wilhelmstraße verlässt, ist sie eine Gescheiterte. Da ist zwar jene Frau vom Wachschutz, die die langjährige Parteiarbeiterin mit einer festen Umarmung verabschiedet. Aber von ihren Genossen möchte niemand mit der Verliererin gesehen werden. Bis heute schweigt Nahles zu den Verletzungen dieser Phase ihrer Laufbahn. Vielleicht auch, weil sie dann über eigene Fehler sprechen müsste.
Denn Nahles hatte sich als Partei- und Fraktionsvorsitzende geirrt. Man könne sich, hatte sie vor ihrer Wahl zur Vorsitzenden 2018 noch gesagt, auch in der Großen Koalition erneuern. Aber als Regierungspartei wurde ihre SPD vom Dauergezänk zwischen CDU und CSU über die Flüchtlingspolitik regelrecht zermalmt.
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Trotz üppigem Rentenpaket und verbesserter Erwerbsminderungsrente mochte die genervte Wählerschaft irgendwann nicht einmal mehr goutieren, dass sich die Sozialdemokraten mit einem „Sozialstaatskonzept 2025“ von ihrer eigenen Agenda-Politik distanziert hatten. Bayern, Hessen, Bremen – bei den Landtagswahlen sackte die SPD dramatisch ab. Überregional kam sie im Frühsommer 2019 nur noch auf 15 Prozent. In Partei und Fraktion wurde Andrea Nahles erst kritisiert, dann gehasst, schließlich gemobbt. Am 3. Juni trat sie als SPD-Vorsitzende zurück, tags darauf räumte sie die Fraktionsspitze.
Der Wiederaufstieg
Von heute aus gesehen hatte Andrea Nahles genau dann den Gipfel der Macht erreicht, als ihre eigene Partei gespalten war wie nie zuvor. Als frühere Juso-Chefin, Generalsekretärin und Ministerin repräsentierte sie beide Seiten des Apparats. Sie galt als Vertreterin der schröderschen Agenda-Politik, die – endlich oben angekommen – nicht von der Macht lassen wollte. Zugleich versuchte sie sich als Reformerin eben jenes Systems zu profilieren, das sie maßgeblich mitgeformt hatte. Diesen Spagat aus Beharren und Erneuern konnte sie politisch und persönlich nicht überleben. Dass SPD-Kanzler Olaf Scholz – als Nutznießer der 2019 von Nahles eingeleiteten Reformen – sie auf einen politisch einflussreichen Posten hievt, darf sie getrost als Versuch der Wiedergutmachung verstehen.
Nun kehrt sie also als Vorstandsvorsitzende zurück. Während ihr parteiinterner Konkurrent Sigmar Gabriel als Chef der Atlantikbrücke bei Empfängen auftaucht, kümmert sich Andrea Nahles um das Thema Arbeit. Die Herausforderungen nach Corona-Pandemie und wackeliger Wirtschaftslage sind enorm. Zum 1. Oktober wird der gesetzliche Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht. Für die Arbeitgeber wird das Lohnplus zum Kraftakt. Zumal auf einem „Arbeitnehmer-Arbeitsmarkt“, wie Nahles’ Vorgänger Detlef Scheele den massiven Fachkräftemangel bezeichnet. Ein weiteres Großprojekt wird der Umbau von Hartz IV zum „Bürgergeld“ sein.
Andrea Nahles könnte für diese Aufgaben die richtige Person sein. Nicht nur, weil sie – gewissermaßen als Fingerübung – in den letzten zwei Jahren die Bonner Bundesanstalt für Post und Telekommunikation geleitet hat. Sie weiß, wie es sich anfühlt, nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren zu sein.
Die Tochter eines Maurers und einer Buchhalterin hat früh erfahren, wie anstrengend der soziale Aufstieg sein kann. Sie selbst hat dafür einen hohen Preis gezahlt. Dass sie als Vorstandsvorsitzende künftig nicht mehr vom Wohlwollen ihrer Genossen abhängig ist, wird sie sehr zu schätzen wissen.
Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
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